Transkript
Papierpfadi
arsenicum
Wenn er nicht gerade «papers» verfasste, mahnte mich mein frisch von seinem Lehrjahr an einem amerikanischen Spital zurückgekehrter Oberarzt vor Jahrzehnten oft: «Arbeit an der Bedside ist ja okay, aber vergiss nicht den Paper-Trail!» Das Lexikon erleuchtete mich: Es sind «Aufzeichnungen von einer Person oder Organisation im Laufe ihrer Tätigkeiten». Und das Wiktionary begründet, warum man sich die papierne Mühe machen sollte: «Keep a good paper trail in case anyone asks you why you arrived at that conclusion.» Es sind also wieder die gestrengen Juristen und Wissenschaftler, die uns Mehrarbeit abringen. Schon der fiktive Südseehäuptling Tuiavii wunderte sich, dass wir Papalagi Gedanken und Gefühle mit schwarzen Kritzeln auf dünne, weisse Matten bannen … Von den Computern erhofften wir uns das papierlose Büro, aber vermutlich ist es noch genauso weit entfernt wie das papierlose WC. Auf Papier notiere ich, auf welchem Pfad ich in meinem PC zur benötigten Dokumentenvorlage komme, denn ein Compi ist eine Pandora-Büchse, die im Register «Vorlagen» Unmengen von Papiervorlagen vorrätig hat, mit denen man unendlich lange Paper-Trails legen kann. All die DIN-A4-Blätter aneinandergereiht, die ich in meinem Berufleben ausgefüllt habe, würden wohl ein paar Mal um den Äquator reichen. Ich versuche nicht nur Schnitzeljagden zu schaffen, sondern mich vor allem durch all die Zettel zu pfaden, die meine Praxis vermüllen. Doch da Papier bekanntlich geduldig ist und aus Holzschliff/Zellulose entsteht, hockt es hölzern auf meinem Schreibtisch. Erinnert täglich stumm daran, was ich noch machen müsste. Dem Vertrauensarzt V von Versicherung W zum x-ten Mal begründen, warum das Medikament Y eine Pflichtleistung für Frau Z darstellt. Endlich den IV-Antrag von Herrn Nivasgethan ausfüllen, denn die Sachbearbeiterin hat mich schon schriftlich gemahnt. Als ich sie anrief, um mich zu entschuldigen, sagte sie freundlich: «Gut, dann terminiere ich das!» Sie meinte damit aber nur, dass ich einen Aufschub bekäme, und nicht etwa, dass sie als gütiger Terminator endlich Schluss mit dem Papierkram machen würde. Auch der «Papiertiger» wird nicht der Assoziation gerecht, die ich bei diesem Wort habe. Er ist kein pflegeleichtes Raubtier, das sich von lästigen Schriftstücken ernährt und mir so meinen Schreibtisch reinigt, sondern eine Wortschöpfung von Mao Zedong, welche ein Schriftstück charakterisiert, das
eine Macht verleiht, die aber eigentlich irrelevant ist. Da lobe ich mir doch unseren europäischen Reisswolf, diesen apparativen Mitkämpfer gegen den Bürokratismus – der macht wirklich die Stalagmiten platt, die sich im Arbeitszimmer türmen, diese geologischen Sedimente des Grundversorgerschaffens. Trotz unseres heroischen Kampfes und trotz der Vittorio Salvi AG, diesem Altpapier-Salvator, der mich davor rettet, im bunten Mailing-Meer der Pharmaindustrie zu ertrinken – das Papier vermehrt sich weiterhin neapolitanisch. Macht es das vegetativ? Oder gar sexuell? Verliebt sich etwa ein rösch gemahlener 80-grämmiger Umweltschutzpapierbogen in eine Kreation von rosa Blumenseidenpapier, welche sich aber lieber für ein dickes Büttenpapier mit Goldrand entblättert? Kommt dann nach der Trauung, die von einem Bibeldünndruckpapier vollzogen wurde, ein Japanpapier auf die Welt? Der Mangel an Lumpen, so sagte mir ein Patient, Papiermüller von Beruf, hätte im 18. Jahrhundert fast eine Produktionskrise ausgelöst. Augenscheinlich fehlt es heute aber nicht mehr an Lumpen, welche Papier produzieren. Da hilft kein Hadern. Mein Drucker, mein Kopierer und mein Fax signalisieren verzweifelt «Papierstau!» auf ihren Displays, auf dass ich ihre Innereien von den Fötzeln befreie. Nun, einen Papierstau habe ich auch. Täglich. Doch als Hausarzt hat man ja die gleichen Eigenschaften wie Papier: Man übersteht Zerreissproben, hat Berstwiderstand, ist porös genug, um die neuesten Lehrmeinungen einsickern zu lassen, weist Alterungsbeständigkeit auf und die Laufrichtung ist: Patienten betreuen, Papier erledigen. Ärztliche Standespolitik hat zudem einen guten Spaltwiderstand, das heisst die Kraft, die benötigt wird, um die FMH in der Masse zu spalten, konnte dank mehrlagigen/-schichtigen Berufsständlern noch nicht von der Politik aufgebracht werden. Aber der Papierkrieg dauert an. Gut, man könnte das Zeug einfach abbrennen. Sorgfältig geschichtete Häuflein im Cheminée anzünden. Würde man dann das empfinden, was schon unsere Lyriker C.F. Meyer und E. Mörike fühlten, die möglicherweise unter Stapeln von Gedichtentwürfen litten? «Ein letztes Knistern, ein feines Flüstern, ein schwaches Züngeln, ein dünnes Ringeln, aus.» Und: «Husch!, da fällt die Asche ab.»
86 ARS MEDICI 3 ■ 2008