Transkript
Editorial
Kaum ein Wort wird von Gesundheitspolitikern und Medizinern so gern in den Mund genommen wie das der Prävention. Vorbeugen ist besser als heilen, so lautet das Diktum, das sich in unser aufgeklärtes Gesundheitsbewusstsein hineingefressen hat. Auf den Zug aufgesprungen sind vor Jahr und Tag auch die Ernährungsexperten. Sie sind gern dabei, wenn es darum geht, sich ein Stück vom Kuchen der Präventivmedizin abzuschneiden. Der Mensch ist, was er isst, und das soll auch für seine Gesundheit gelten. Nun erfährt jedermann am eigenen Leibe, dass manche Kost schwer im Magen liegt, andere uns wohl bekommt. Die Ernährungs-Fachleute servieren uns jedoch seit Jahren allerlei aus-
So hat inzwischen selbst die alte Vorstellung vom Idealgewicht ihre Kratzer abbekommen. Manches spricht dafür, dass daran gemessen ein leichtes Übergewicht durchaus vorteilhaft zu sein scheint. Kürzlich hat eine Autorengruppe von Gesundheitswissenschaftlern und Epidemiologen um Paul Marantz vom Albert Einstein College of
Halbgare Rezepte
geklügelte Empfehlungen, die verheissen, uns gesünder zu machen und gar unser Leben zu verlängern. Sie erklären uns, was und wieviel wir essen und trinken sollen – nicht selten handelt es sich um wissenschaftlich halbgare Rezepte. Was heute wie ein Ernährungsgesetz klingt, steht morgen schon zur Revision. Es ist noch nicht lange her, als die berühmte «5-am-Tag-Kampagne» einknickte, nachdem sich herausstellte, dass sich damit, anders als propagiert, kaum ein Schutz vor bestimmten Krebserkrankungen erzielen lässt. Das bedeutet natürlich nicht, dass Obst und Gemüse keinen hohen Wert in der Ernährung haben (sollten), aber verlässliche Bedarfsangaben zur Krankheitsvorbeugung können derzeit nicht gemacht werden. Ernährungsstudien haben mit einem Dilemma zu kämpfen: Sie sind methodisch weniger belastbar als etwa Arzneimittelstudien. Zu viele Einflussgrössen sind schlicht nicht bekannt oder messbar. Widersprüchliche Ergebnisse sind die Folge.
Medicine in New York eine ernüchternde Bilanz gezogen: «Viele Empfehlungen zur ... gesunden Ernährung sind wissenschaftlich nicht fundiert.» Im «American Journal of Preventive Medicine» (online-Ausgabe 22. Januar ) versuchen die Forscher exemplarisch zu zeigen, dass die amerikanische Kampagne für eine fettarme Ernährung sogar der Gesundheit abträglich gewesen sei. Zwar hätten die folgsamen Amerikaner immer weniger Fett gegessen, dafür sei der Kohlenhydratanteil in der Nahrung gestiegen und die Leute seien immer dicker geworden. Im Gefolge davon erlangten auch Diabetes und Hypertonie ein immer stärkeres Gewicht. Ihr Fazit: «Solange man keine Beweise dafür hat, dass etwas schädlich oder nützlich ist, besteht der beste Ratschlag darin, keine Ernährungsratschläge anzunehmen.»
Uwe Beise
ARS MEDICI 3 ■ 2008 81