Transkript
FORTBILDUNG
Welche Blutdrucksenker über 55, welche unter 55?
Antihypertensiva nach Begleiterkrankung und Alter auswählen
Nach wie vor stellen fünf Substanzklassen die Basis der antihypertensiven Therapie dar: Diuretika, Betablocker, Kalziumantagonisten, ACE-Hemmer und AT1-Antagonisten. Welches Medikament im Einzelfall am besten geeignet ist, hängt zum einen von eventuellen Begleiterkrankungen, zum anderen vom Alter ab.
BERND KRÖNIG
Merksatz
■ Primär sind nicht medikamentöse Massnahmen angezeigt, wobei der Gewichtsreduktion die grösste Bedeutung zukommt.
■ Oftmals ist jedoch eine medikamentöse (Kombinations-)Therapie unumgänglich.
■ Bei unter 55-Jährigen kann der primäre Einsatz von ACE-Hemmern oder AT1-Antagonisten sinnvoll sein, bei älteren Patienten kommen als Erstes Diuretika oder DHP-Kalziumantagonisten in Betracht.
Risikostratifizierung Die gegenwärtig gültige Klassifikation bezeichnet einen Gelegenheitsblutdruck von < 120/< 80 mmHg als «optimal», < 130/<85 mmHg als «normal» und zwischen 130 und 139 systolisch sowie 85 und 90 mmHg diastolisch als «hochnormal». Das Stadium «Hypertonie 1» umfasst den Bereich 140–159/ 90–99 mmHg. Eine mit dem Alter zunehmend bedeutsame Form ist die isolierte systolische Hypertonie (ISH) mit Werten > 140/< 90 mmHg, da sie unter anderem mit dem höchsten Schlaganfallrisiko einhergeht. Schon seit vielen Jahren wird die Hypertonie im Kontext mit weiteren kardiovaskulären Risikofaktoren gesehen. Entsprechend hängt die Entscheidung speziell zur medikamentösen Behandlung der Hypertonie von zusätzlichen Risikofaktoren (z.B. Alter, Diabetes mellitus, Organschäden, Begleiterkrankungen) und der Blutdruckhöhe ab. So wird zum Beispiel gemäss nationalen und internationalen Leitlinien eine antihypertensive Pharmakotherapie bei Fehlen weiterer Risikofaktoren im Hypertoniestadium 1 (bis 159/99 mmHg) erst dann empfohlen, wenn durch Allgemeinbehandlungsmassnahmen keine Blutdrucknormalisierung (<140/90 mmHg) zu erreichen ist. Andererseits ist eine zusätzliche medikamentöse antihypertensive Therapie bereits beim Überschreiten des Grenzwerts von 130/80 mmHg angezeigt, wenn ein Diabetes mellitus oder Endorganschäden beziehungsweise mehr als drei weitere Risikofaktoren vorliegen. Nicht medikamentöse Massnahmen Auch wenn die dazu notwendigen Änderungen des Lebensstils häufig als mühsam und nur schwer umsetzbar angesehen werden, ist die antihypertensive Wirkung beachtenswert. Die entsprechenden Empfehlungen sollten somit gerade in der allgemeinmedizinischen Sprechstunde einen hohen Stellenwert haben. Die zu erreichenden Blutdrucksenkungen unterliegen einer starken individuellen Schwankungsbreite, sodass die Angaben in Tabelle 1 nur als Anhaltswerte anzusehen sind. Differenzierte Pharmakotherapie Trotz der messbaren Erfolge nicht medikamentöser Massnahmen wird für den grössten Teil der Hochdruckkranken eine antihypertensive Pharmakotherapie unumgänglich sein, um die genannten Behandlungsziele zu erreichen. Auch nach den Empfehlungen der Deutschen Hochdruckliga werden für die initiale Monotherapie fünf Substanzgruppen zur Auswahl gestellt und üblicherweise als Ecken eines Pentagramms abgebildet: ■ Diuretika ■ Betablocker ■ Kalziumantagonisten ■ ACE-Hemmer ■ AT1-Antagonisten. 62 ARS MEDICI 2 ■ 2008 FORTBILDUNG pleiotrope Effekte, eine möglichst lange Wirkdauer (6, 7) und Tabelle 1: Durch Allgemeinmassnahmen zu erreichende systolische Blutdrucksenkung ökonomische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Altersdifferenzierung Lebensstiländerung Gewichtsreduktion Systolische Blutdrucksenkung (mmHg) 5–20 mmHg/10 kg Ein interessanter neuer Aspekt wurde im Juni 2006 von der British Hypertension Society (BHS) und dem National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) aufgegriffen. Basierend auf zahlreichen detaillierten Metaanalysen wurde ein Behandlungsmodell erstellt, das neben letalen Folgen der Hypertonie vegetabil betonte Ernährung (DASH-Studie) diätetische Kochsalzreduktion (weniger als 6 g/Tag) 8–14 mmHg 2–8 mmHg auch die Kosten für Morbidität an instabiler Angina pectoris, Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz, Schlaganfall und Diabetes berücksichtigt. Darüber hinaus wurde eine Altersabhängigkeit der Wirkung einzelner Substanzklassen ebenso wie zum Beispiel die spezifische Wirkung von DHP-Kalziumantagonisten regelmässiges Bewegungstraining (mind. 30 min tägl. an den meisten Tagen pro Woche) begrenzter Alkoholkonsum nicht mehr als 2 Drinks/Tag, entspr. ca. 24 g) 4–9 mmHg 2–4 mmHg mit langer Halbwertszeit bei der Schlaganfallprävention herausgestellt. Das entsprechende Schema zur Behandlung einer neu diagnostizierten Hypertonie (Abbildung) sieht in der ersten Stufe bei unter 55-Jährigen ACE-Hemmer (bzw. bei deren Unverträglichkeit AT1-Antagonisten), bei über 55-Jährigen (und farbigen Patienten aller Altersklassen) Kalziumantagonisten oder Thia- ziddiuretika vor. Da ischämische Insulte bei älteren Hochdruck- kranken häufiger auftreten und Kalziumantagonisten vom Bei adäquater Dosierung kommt den Vertretern dieser fünf Sub- DHP-Typ hier einen Behandlungsvorteil zu haben scheinen, ist stanzgruppen eine vergleichbar gute antihypertensive Wirkung diese Empfehlung konsequent. zu. Das Ausmass der Blutdrucksenkung ist dabei unverändert Auch die weiteren Behandlungsstufen erscheinen nachvoll- entscheidend für die Verhinderung kardiovaskulärer Folge- ziehbar, indem schrittweise auf die Dreifachtherapie mit ACE- erkrankungen. Bei der Auswahl sollten allerdings auch differenzialtherapeu- Hemmern/AT1-Antagonisten, Kalziumantagonisten und Diuretika hingearbeitet wird. Der erst danach in der vierten Behand- tische Überlegungen gemäss der in Tabelle 2 genannten «Be- lungsstufe angeratene Einsatz von Betablockern scheint handlungsvorteile» erfolgen. Ebenso sind unerwünschte Wir- allerdings angesichts der häufigen Komorbidität von KHK und kungen, eine weitgehende Stoffwechselneutralität, eventuelle Hypertonie weniger verständlich. Prinzipiell darf allerdings nicht ver- gessen werden, dass der Nutzen einer Tabelle 2: Therapievorteile einzelner Antihypertensivaklassen antihypertensiven Therapie im Hinblick auf kardiovaskuläre Morbidität Substanzklasse Behandlungsvorteil bei und Mortalität entscheidend von der Effizienz der Blutdrucksenkung ab- Diuretika (Thiazide) Herzinsuffizienz hängig ist. Beim Einsatz vergleich- mit kaliumsparender Komponente isolierter systolischer Hypertonie barer Dosierungen bestehen zwischen (kostengünstig) den einzelnen Substanzen kaum Betablocker (bevorzugt beta-1-selektive Substanzen) Kalziumantagonisten vom Dihydropyridintyp Angina pectoris Status n. Myokardinfarkt Herzinsuffizienz Herzrhythmusstörungen isolierter systolischer Hypertonie stabiler KHK Schlaganfallprävention Unterschiede, wobei sogar den Diuretika noch eine etwas stärkere antihypertensive Wirkung als den ACEHemmern/AT1-Antagonisten zugeschrieben wird. Was die diabetogene Komponente unter Diuretika/Betablockern im Vergleich zu DHP-Kalziumantagonisten/ ACE-Hemmer/AT1-Antagonisten Status n. Myokardinfarkt Herzinsuffizienz Nephropathie erhöhtem kardiovaskulärem Gesamtrisiko ACE-Hemmern betrifft, hat unter anderem die ALLHAT-Studie gezeigt, dass bereits innerhalb von etwa vier Jahren mit einer Zunahme der Diabetesinzidenz um etwa 3 Prozent zu rech- nen ist. Da diese zu einer Steigerung 64 ARS MEDICI 2 ■ 2008 WELCHE BLUTDRUCKSENKER ÜBER 55, WELCHE UNTER 55? < 55 Jahre ≥ 55 Jahre oder schwarze Patienten jeden Alters A C oder D Stufe 1 A + C oder A + D Stufe 2 A + C oder D Stufe 3 ergänzt durch: • weitere Diuretikagabe oder • Alphablocker • Betablocker eventuell Rat eines Spezialisten Stufe 4 A = ACE-Hemmer oder AT1-Blocker, falls ACE-Hemmer unverträglich C = Kalziumantagonisten D = Thiaziddiuretikum Betablocker werden zur Erstbehandlung der Hypertonie nicht bevorzugt, stellen aber eine Alternative zu A bei Patienten < 55 Jahre dar, die A nicht tolerieren oder bei denen A kontraindiziert ist (gebärfähige Frauen). Schwarze Patienten sind lediglich solche afrikanischer oder karibischer Abstammung. Mangels entsprechender Evidenz sollten alle anderen Patienten nach dem Algorithmus «nicht schwarz» behandelt werden. Schlussfolgerung für die Praxis Die arterielle Hypertonie stellt den wesentlichen Risikofaktor für kardiovaskuläre Folgeerkrankungen dar. Im Alter über 60 Jahren ist mit einer Häufigkeit von mehr als 50 Prozent zu rechnen. Demgegenüber ist die Quote kontrollierter Hoch- druckkranker (Zielblutdruck < 140/90 bzw. bei Organschäden und/oder Diabetes mellitus < 130/80 mmHg) mit nur etwa 25 Prozent völlig unzulänglich. Zur Behandlung ist primär der Einsatz nicht medikamentöser Massnahmen angezeigt, wobei der Gewichtsreduktion mit einer Blutdrucksenkung von etwa 2,0/1,0 mmHg pro kg die grösste Bedeutung zukommt. Häufig wird eine medikamentöse Behandlung unumgänglich sein. Prinzipiell stehen dazu in der Monotherapie und als Basis der Kombinationsbehandlung die fünf Substanzen Diuretika, Betablocker, Kalziumantagonisten, ACE-Hemmer und AT1-Antagonisten zur Verfügung. Ausgehend von dem Spektrum eventueller Begleiterkrankun- gen sowie zusätzlicher Risiken kann es sinnvoll sein, ACE- Hemmer/AT1-Antagonisten beziehungsweise DHP-Kalziumantagonisten zu bevorzugen. Aktuell wurde dazu eine Alters- differenzierung vorgeschlagen: Bei <55 Jahren sind ACE-Hem- mer/AT1-Antagonisten, bei >55 Jahre jedoch DHP-Kalziumantagonisten oder Diuretika als primäre Therapeutika angezeigt.
Letzteres auch deshalb, da unter diesen beiden Substanzen
die mit dem Alter zunehmende Quote an Schlaganfällen zu
begrenzen ist.
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Abbildung: Vorschlag der British Hypertension Society (BHS) und des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE, Juni 2006) zur antihypertensiven Erstbehandlung
des Risikos kardiovaskulärer Folgeerkrankungen beitragen kann, ist gegebenenfalls bereits primär der Einsatz von Kalziumantagonisten, ACE-Hemmern und AT1-Antagonisten gerechtfertigt. Sofern trotz Dreifachtherapie und Überprüfung der Compliance das Behandlungsziel nicht erreicht ist, ist der alternative oder zusätzliche Einsatz von Alpha-1-Blockern (z.B. Doxazosin), Antisympathotonika (z.B. Moxonidin) beziehungsweise arteriolären Vasodilatatoren (z.B. Dihydralazin/Minoxidil) zu erwägen.
Literatur über www.allgemeinarzt-online.de
Prof. Dr. med. Bernd Krönig Internist/Hypertensiologe (DHL)
D-54296 Trier E-Mail: bkroenig@aol.com
Interessenkonflikte: keine deklariert
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 4/2007. Die Übernahme (in hier leicht gekürzter Form) erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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