Transkript
STUDIE
«Streifung»: nur rasches Eingreifen rettet später das Gehirn
Frühe Sekundärprävention senkt Rezidivrisiko nach TIA oder leichtem Schlaganfall dramatisch
Britische Wissenschaftler konnten in einer prospektiven, populationsbasierten, sequenziellen Vergleichsstudie zeigen, dass eine frühzeitige therapeutische Intervention nach einer transitorischen ischämischen Attacke (TIA) oder einem leichten Schlaganfall das Rezidivrisiko signifikant reduzieren kann.
THE LANCET
In der Woche nach einer transitorischen ischämischen Attacke (TIA) oder einem leichten Schlaganfall beträgt das Risiko für einen erneuten Insult bis zu 10 Prozent. Modellstudien weisen darauf hin, dass eine sofortige Sekundärprävention mit gängigen Therapieoptionen dieses Risiko um 80 bis 90 Prozent senken könnte. Da bisher jedoch keine Evidenzbeweise vorliegen, treffen viele Gesundheitssysteme keine entsprechende Vorsorge. In Grossbritannien wird die Untersuchung potenzieller Schlaganfallpatienten in Spezialambulanzen empfohlen, viele Hospitäler bieten jedoch nur einmal wöchentlich eine Sprechstunde an, und etwa die Hälfte der Patienten wartet länger als 14 Tage auf einen Termin, sodass es oft zu deutlichen Behandlungsverzögerungen kommt.
Optionen zur Sekundärprävention Zur Rezidivprävention nach einer TIA oder einem leichten Schlaganfall stehen
einige wirksame Therapieoptionen zur Verfügung. Dazu gehören Aspirin® und andere Thrombozytenaggregationshemmer, blutdrucksenkende Medikamente und Statine sowie Gerinnungshemmer bei Kammerflimmern und die Endarteriektomie bei ≥ 50-prozentiger symptomatischer Karotisstenose.
Die EXPRESS-Studie Die Autoren führten die prospektive populationsbasierte EXPRESS-Studie (Early Use of EXisting PREventive Strategies for Stroke) durch, um die Auswirkungen einer frühzeitigen Sekundärprävention nach TIA oder leichtem Schlaganfall bei Patienten zu untersuchen, die nicht direkt ins Krankenhaus eingeliefert werden. Sie verglichen die klinischen Ergebnisse einer zügigen Vorgehensweise mit sofortigem Behandlungsbeginn in einer Studienambulanz mit denen einer verzögerten Behandlung in der Hausarztpraxis. Aus ethischen Gründen wurde keine Randomisierung, sondern eine Aufteilung in aufeinanderfolgende Zeiträume vorgenommen. Die EXPRESS-Studie war in eine populationsbasierte Inzidenzstudie eingebettet, die alle TIA, TIA-Rezidive und Schlaganfälle in Oxfordshire erfasste (Oxford Vascular Study; OXVASC), sodass Fallerhebung, Untersuchung und Follow-up in beiden Zeiträumen identisch waren. Primärer Endpunkt der EXPRESS-Studie war das Schlaganfallrisiko innerhalb von 90 Tagen nach dem ersten Arztbesuch. Alle zerebralen Ereignisse wurden unabhängig, gegenüber der Studienphase verblindet, ausgewertet. Zu Beginn der Phase 1 führten die Autoren eine tägliche Schlaganfallsprechstunde ein. Zwischen April 2002 und
Merksätze
■ Nach TIA oder leichtem Schlaganfall kann die frühzeitige Sekundärprävention das Rezidivrisiko signifikant senken.
■ Das Reduzierungspotenzial ist unabhängig von Alter und Geschlecht.
■ Das Risiko für intrazerebrale Hämorrhagien oder andere Blutungen ist bei frühzeitiger Behandlung nicht zusätzlich erhöht.
■ Um bei TIA oder leichtem Insult den Zeitraum bis zur Behandlung zu verkürzen, ist auch eine verbesserte Information der Öffentlichkeit notwendig.
September 2004 überwiesen kooperierende Hausärzte jeden Patienten mit Verdacht auf TIA oder Schlaganfall, der keine sofortige Klinikeinweisung benötigte, an das Studienteam. Entsprechend der gängigen Praxis in Grossbritannien basierte die Sprechstunde auf Terminvereinbarungen, verbunden mit den üblichen Verzögerungen bis zum Patientenkontakt. Nach der Überweisung durch den Hausarzt vereinbarte das Studienteam einen Untersuchungstermin mit den Patienten in der Studienambulanz oder suchte sie zu Hause auf. Am gleichen Tag oder kurz danach wurden bildgebende Untersuchungen des Gehirns, meist ein Computertomogramm, und ein Elektrokardiogramm durchgeführt. Innerhalb der folgenden Woche wurde bei allen Patienten ein Karotisultraschall und, bei klinischer Indikation, eine transthorakale oder transösophageale Echokardiografie vorgenommen. Das Studienteam initiierte keine Behandlung, sondern übermittelte dem Hausarzt Untersuchungsergebnisse und Therapieempfehlungen. Die Behandlungsempfehlungen richteten sich nach den Erfordernissen des jeweiligen Patienten und beinhalteten meist:
ARS MEDICI 2 ■ 2008 57
STUDIE
■ Aspirin (75 mg/Tag) für Patienten, die nicht bereits Thrombozytenaggregationshemmer erhielten oder Clopidogrel (Plavix®) bei Kontraindikationen gegenüber Aspirin
■ Simvastatin (Zocor® oder Generika, 40 mg/Tag)
■ blutdrucksenkende Medikamente, (ausser bei einem Blutdruck < 130 mmHg bei wiederholter Messung) entweder durch Erhöhung der existierenden Medikation oder durch Verabreichung von Perindopril (Coversum®, 4 mg/Tag) mit oder ohne Indapamid (Fludex®SR, 1,25 mg/Tag)
■ Antikoagulanzien, wenn erforderlich.
Bei Patienten, die innerhalb von 48 Stunden nach dem zerebralen Ereignis untersucht worden waren oder bei innerhalb von sieben Tagen untersuchten Patienten mit besonders hohem Rezidivrisiko, wurde zusätzlich zu Aspirin® für 30 Tage Clopidogrel (75 mg/Tag) empfohlen. Vor Beginn einer Kombinationstherapie mit Thrombozytenaggregationshemmern oder Antikoagulanzien waren bildgebende Untersuchungen des Gehirns erforderlich. In Phase 2, von Oktober 2004 bis März 2007, verlagerten die Autoren ihre Sprechstunde in eine Klinik, in der keine Termine notwendig waren und mit der Behandlung sofort nach Bestätigung der Diagnose begonnen wurde. Die Hausärzte übermittelten potenzielle Schlaganfallpatienten an jedem Werktag an die Studienambulanz, sofort nachdem sie ärztliche Hilfe aufgesucht hatten. Die Patienten wurden nach derselben Vorgehensweise untersucht wie in Phase 1, jedoch erhielten alle Patienten mit
Verdacht auf eine TIA oder leichten Schlaganfall gleich in der Studienambulanz 300 mg Aspirin und ein Rezept für einen Vier-Wochen-Vorrat eines anderen der genannten Medikamente mit Behandlungsbeginn am selben Tag. Patienten, denen Clopidogrel verordnet wurde, erhielten eine Aufladungsdosis von 300 mg. Bei Patienten mit unvollständiger Auflösung der Symptome zum Untersuchungszeitpunkt wurde während der Sprechstunde eine Computertomografie des Gehirns vorgenommen, um vor der Gabe von Aspirin, Clopidogrel oder Antikoagulanzien intrazerebrale Hämorrhagien auszuschliessen.
Resultate Von den 1278 OXVASC-Teilnehmern, die wegen TIA oder leichten Schlaganfalls medizinische Hilfe suchten (634 in Phase 1 und 644 in Phase 2), wurden 607 sofort ins Hospital eingeliefert oder wurden direkt dort vorstellig. 620 Patienten wurden zur ambulanten Untersuchung überstellt, 51 wurden keiner Sekundärversorgung zugeführt. 95 Prozent aller Ambulanzüberstellungen (n = 591) erfolgten an das Studienteam. Die Patientencharakteristika und Verzögerungen vor Aufsuchen medizinischer Hilfe waren in beiden Studienphasen ähnlich, die mediane Verzögerung bis zur Untersuchung in der Studienklinik verkürzte sich jedoch signifikant von durchschnittlich drei Tagen (2–5) in Phase 1 auf weniger als einen Tag (0–3) in Phase 2 (p<0,0001). Die mittlere Verzögerung bis zur ersten Verschreibung eines Medikaments verkürzte sich von 20 Tagen (8–53) in Phase 1 auf einen Tag (0–3) in Phase 2 (p<0,0001). Das
90-Tage-Risiko für einen erneuten Schlaganfall betrug bei den Patienten der Studiensprechstunde 10,3 Prozent (32/ 310 Patienten) in Phase 1 und 2,1 Prozent (6/281 Patienten) in Phase 2. Bei Patienten, die anderswo behandelt wurden, änderte sich das Risiko nicht signifikant. Die Risikoverminderung in Phase 2 erfolgte unabhängig von Alter und Geschlecht. Die frühzeitige Intervention erhöhte nicht die Gefahr für intrazerebrale Hämorrhagien oder andere Blutungen.
Fazit
Eine frühe Initiierung gängiger Behand-
lungsoptionen nach transitorischer isch-
ämischer Attacke oder leichtem Schlag-
anfall war in der EXPRESS-Studie mit
einer 80-prozentigen Verminderung des
Risikos für einen frühen erneuten
Schlaganfall verbunden. Weitere Follow-
up-Untersuchungen sind erforderlich, um
Langzeitresultate zu erhalten, dennoch
beinhalten diese Ergebnisse sofortige
Implikationen für die Patientenversor-
gung und die Öffentlichkeitsaufklärung
über transitorische ischämische Attacken
und leichtere Schlaganfälle.
■
Rothwell Peter M, Giles Matthew F et al.: Effect of urgent treatment of transient ischaemic attack and minor stroke on early recurrent stroke (EXPRESS study): a prospective population-based sequential comparison, Lancet 2007; 370: 1432–1442.
Interessenkonflikte: Peter M. Rothwell hat Honorare für Gespräche und gelegentliche Beratungen sowie Forschungsgelder von einigen Pharmaunternehmen erhalten, die Medikamente zur Sekundärprävention von Schlaganfällen herstellen. Alle anderen Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Petra Stölting
58 ARS MEDICI 2 ■ 2008