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Patientensicherheit – richtig agieren und reagieren
Bei der medizinischen Versorgung kommt es immer wieder zu vermeidbaren Behandlungsfehlern, die sowohl für den betroffenen Patienten als auch für das Behandlungsteam eine erhebliche Belastung darstellen. Durch das systematische Erfassen von kritischen Zwischenfällen, die einem schwerwiegenden Ereignis in der Regel vorausgehen, können Strategien zur Verhinderung von Behandlungsfehlern und damit zur Erhöhung der Patientensicherheit entwickelt werden.
HANS-ULRICH KULL
Im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung der APA, die am 24. Oktober 2007 im Airport Forum des Flughafens Zürich abgehalten wurde, berichteten drei Experten über verschiedene Aspekte der Patientensicherheit.
Verbesserung der Fehlerkultur entscheidend! Dr. med. Hans-Ulrich Kull, Präsident der APA, wies in seiner Einleitung darauf hin, dass nach Angaben der Versicherungen medizinische Fehler in der Schweiz im Jahr 2006 zu den zehn häufigsten Todesursachen gehörten. Des Weiteren zeigt ein Bericht vom Inselspital Bern aus dem Jahr 2007, dass bei 40 Prozent aller Patienten mindestens ein Medikamentenfehler begangen wurde. Dabei können die Fehler auf ärztlicher Seite beispielsweise durch die Wahl eines nicht indizierten Medikaments, das Übersehen von Kontraindikationen und möglichen
Interaktionen, die Wahl einer falschen Dosierung oder Applikationsart sowie durch unleserliche Rezepte verursacht werden, während bei den Patienten ungenügende Therapietreue, falsches Umsetzen der ärztlichen Anweisungen oder mangelhafte Kommunikation zu Fehlern führen können. Durch die Verbesserung der Fehlerkultur, bei der die Ursachen von Fehlern analysiert und Massnahmen zu deren Beseitigung getroffen werden, kann die Patientensicherheit deutlich verbessert werden.
Wie kommunizieren, wenn etwas schief geht? Gemäss Dr. med. Marc-Anton Hochreutener, Geschäftsführer der Stiftung für Patientensicherheit, sind 47 Prozent der Europäer der Ansicht, dass im Spital Behandlungsfehler auftreten können, und 23 Prozent der Europäer haben selbst oder in ihrer Familie bereits einen Behandlungsfehler erlitten. Bei der Mehrheit der Haftpflichtfälle infolge eines Be-
handlungsfehlers wurde der Zwischenfall nur ungenügend oder gar nicht kommuniziert, was sowohl für die betroffenen Patienten als auch für das Behandlungsteam eine erhebliche Belastung darstellen kann. Bei einem Zwischenfall besteht die wichtigste Massnahme zunächst einmal darin, weiteren Schaden zu verhindern. Nach erfolgter Schadensbegrenzung sollte die verantwortliche Person aus dem Behandlungsteam den betroffenen Patienten umgehend über den Zwischenfall aufklären und ihr Bedauern ausdrücken, wobei das Gespräch in einer ruhigen, die Privatsphäre des Patienten schützenden Umgebung geführt werden sollte. Im Rahmen dieses Gesprächs sollten dem Patienten nicht nur die medizinischen Folgen des Zwischenfalls erklärt und eine Strategie zur Wiedergutmachung des Schadens vorgelegt werden, sondern auch das Angebot gemacht werden, zukünftig von einem alternativen Behandlungsteam betreut zu werden. Ausserdem sollte dem Patienten aufgezeigt werden, dass die Institution aus dem Fehler die notwendigen Lehren ziehen wird. Im weiteren Verlauf sollte der Patient über neue Erkenntnisse zu seinem Fall informiert werden, da auf diese Weise die Beziehung zum Patienten und den Angehörigen aufrechterhalten werden kann. Falls es sich beim Behandlungsfehler um ein schwerwiegendes Ereignis handelt, müssen der Chefarzt und die Spitalleitung informiert werden. Die Beteiligten sollten umgehend ein Gedächtnisprotokoll erstellen und sämtliche Akten, Materialien, Geräte und die Medikamente
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sicherstellen. Ausserdem muss eine Strategie festgelegt werden, wie der Zwischenfall spitalintern und gegenüber der Öffentlichkeit kommuniziert wird. Falls erforderlich, sollten die notwendigen Meldungen an Behörden und Haftpflichtversicherer gemacht werden, und die Patienten und deren Angehörige sollten darauf hingewiesen werden, welche rechtlichen Möglichkeiten sie haben und welche finanzielle Hilfen ihnen zustehen. Der Zwischenfall sollte für die interne Qualitätssicherung dokumentiert und analysiert werden, damit Massnahmen zur zukünftigen Verhinderung derartiger Zwischenfälle getroffen werden können. In einem kürzlich gehaltenen Referat zur Patientensicherheit vertrat Lucian L. Leape von der Harvard School of Public Health die Auffassung, dass ein vermeidbarer schwerwiegender Behandlungsfehler ein medizinischer Notfall ist, der mit dem Patienten und dem Arzt zwei Opfer hat. So erleidet zunächst einmal der betroffene Patient einen physischen Schaden, der eine emotionale Reaktion aus Angst, Aufregung, Depression und Wut auslösen kann. Daneben stellt der Behandlungsfehler aber auch für den Arzt eine erhebliche psychische Belastung dar, die seine Fähigkeiten im Umgang mit den Patienten beeinträchtigen kann. Das Kommunizieren eines Zwischenfalls erfordert eine ehrliche, offene und vollständige Aufklärung des Patienten, da eine ungenügende Information das Vertrauen des Patienten zum Arzt zerstört und Verdacht schürt. Die entscheidende Komponente bei der Verarbeitung eines Zwischenfalls ist jedoch die Entschuldigung, bei welcher der Arzt die Verantwortung für das Geschehene übernehmen, sein Bedauern ausdrücken und die Wiedergutmachung anbieten sollte. Die ernst gemeinte Entschuldigung hilft dem betroffenen Patienten, seine Würde wie-
derherzustellen, das Vertrauen zum Arzt wiederaufzubauen und ermöglicht letztlich das Verzeihen, während der Arzt dank der Entschuldigung seine Schuldgefühle abbauen kann. In der Praxis kommt es bei Zwischenfällen vielfach nicht zu einer Entschuldigung, da sich die Ärzte für das Geschehene oft nicht verantwortlich fühlen oder Angst vor Konsequenzen wie dem Verlust des Patientenvertrauens oder des Respekts der Kollegen haben. Ausserdem besteht nach wie vor der Mythos des Kunstfehlers, wonach durch das Eingestehen eines Zwischenfalls und durch eine entsprechende Entschuldigung die Wahrscheinlichkeit von rechtlichen Konsequenzen erhöht wird. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass Patienten, bei denen sich der Arzt für einen Zwischenfall entschuldigt hat, wesentlich seltener rechtliche Schritte ergreifen. Zur Verbesserung der Kommunikation von Zwischenfällen sollte eine interne Strategie definiert werden, die den Ärzten und dem Pflegepersonal in gezielten Trainingsprogrammen vermittelt wird. Darüber hinaus sollten sowohl dem Behandlungsteam als auch dem Patienten unterstützende Massnahmen zur Verfügung gestellt werden, die die Bewältigung eines Zwischenfalls erleichtern.
Verbesserung der Medikamentensicherheit Wie Dr. med. Samuel Henz, Leitender Arzt Allgemeine Innere Medizin, Kantonsspital St. Gallen, einführend bemerkte, handelt es sich beim Medikationsprozess um eine komplexe Abfolge von verschiedenen Schritten, an denen mit Spitalärzten, Pflegepersonen, Hausärzten, Apothekern und den Patienten eine Vielzahl von Personen beteiligt sind. Die Prozesssicherheit eines Gesamtprozesses aus mehreren hintereinander geschalteten Schritten wird durch Multiplikation der Prozesssicherheiten der einzelnen
Schritte berechnet, sodass die Prozesssicherheit mit zunehmender Anzahl Schritte abnimmt. Demgegenüber kann die Prozesssicherheit durch parallele Schritte mit Korrekturpotenzial erhöht werden, weshalb die Kontrolle einzelner Schritte oder Schrittfolgen durch Ärzte, Pflegepersonen oder den Patienten selbst zu einer höheren Sicherheit des Medikationsprozesses beiträgt. Die häufigsten Ursachen, die zu Fehlern im Medikationsprozess führen, sind das Versagen von Kontrollen und das Vorliegen von inkongruenten oder nicht mehr aktuellen Informationen bei der Verordnung und der Übergabe von Medikamenten. Des Weiteren kommt es beim Medikationsprozess immer wieder zu Verwechslungen von Medikamenten, was unter anderem auf die Vielfalt von Produkten mit teilweise sehr ähnlichen Verpackungen und Namensgebungen sowie auf die teilweise unbewusste Wahrnehmung bei der Erkennung von Farb- und Formmustern sowie von Textbildern zurückzuführen ist. Das Risiko, dass es beim Medikationsprozess zu Fehlern kommt, wird durch eine ungenügende fachliche Ausbildung oder durch zu komplexe Problemstellungen erhöht. Daneben führen aber auch Gewohnheit, Zeitdruck, Ablenkung, Unterbrechung, Langeweile, Übermüdung sowie die Angst, nachzufragen und sich zu blamieren, zu einem Anstieg des Fehlerrisikos. Die oftmals ungenügende Auseinandersetzung mit der Medikamentensicherheit lässt sich einerseits auf fehlende oder nicht zugängliche Evidenz und andererseits auf das kulturell verwurzelte Berufsbild des Arztes zurückführen, der unfehlbar ist und keine Schwächen zeigt. Ausserdem gibt es in vielen Spitälern keine für das Qualitätsmanagement verantwortlichen Kadermitarbeiter, die Richtlinien erarbeiten und die Schulung der Ärzte und des Pflegepersonals überneh-
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men. Darüber hinaus werden die finanziellen Ressourcen vor allem für die Verbesserung von Diagnostik und Therapie verwendet, während für die Risikoreduktion kaum Investitionen getätigt werden. Zur Erhöhung der Sicherheit des Medikationsprozesses sollten die Ärzte durch Verbesserungen bei der Organisation und dem elektronischen Datenmanagement in den Aufgaben der täglichen Routine unterstützt werden, wobei diese Massnahmen einfach ausführbar und optimal in den Arbeitsprozess integrierbar sein sollten. So kann durch die Reduktion der Übergaben oder durch die Änderung der Rapporte eine Verbesserung des Informationsflusses erreicht werden, während durch Standardisierungen und mithilfe von Tabellen und Merkblättern die rechnerischen Aufgaben vereinfacht werden können. Ausserdem kann durch die Einführung von Verordnungsblättern oder der elektronischen Verordnung für korrekte und vollständige Angaben zur Medikation gesorgt werden, während durch das Entfernen von verwechselbaren Substanzen und durch die Verwendung von unterschiedlichen Schraubverschlüssen für verschiedene Applikationsarten verhängnisvolle Verwechslungen verhindert werden können. Schliesslich können Flussdiagramme und Checklisten zur Verfügung gestellt werden, die bei standardisierten Prozessen die Entscheidung erleichtern. Für die Qualitätssicherung des Medikationsprozesses, der denselben strengen Kriterien unterworfen sein sollte wie die klinischen Studien, ist ein aktualisierter elektronischer Medikamentenstamm mit Informationen über Maximaldosen und allfälligen Interaktionen ein wirksames Hilfsmittel. Ausserdem stellt die Möglichkeit der elektronischen Verordnung, die durch ein gutes Klinikinformationssystem unterstützt wird, eine effiziente Massnahme zur Qualitätssicherung des Medikationsprozesses dar.
CIRS – Nutzen von Fehlermeldesystemen in der Medizin Dr. med. Sven Staender, Chefarzt der Abteilung Anästhesie und Intensivmedizin am Spital Männedorf, berichtete von ausländischen Erhebungen zur Häufigkeit von Zwischenfällen bei der routinemässigen medizinischen Versorgung. So traten nach einer Studie aus New York bei 3,7 Prozent der hospitalisierten Patienten Behandlungsfehler auf, die in 13,6 Prozent der Fälle tödlich ausgingen, während eine in Colorado und Utah durchgeführte Studie bei 2,9 Prozent der Patienten Behandlungsfehler ergab, die in 8,8 Prozent der Fälle zum Tode führten. Aufgrund der heutigen Daten kommt es in den USA jährlich zu 44 000 bis 98 000 Todesfällen wegen Behandlungsfehlern im Spital, und die Kosten der vermeidbaren Behandlungsfehler dürften sich auf 17 bis 29 Milliarden US-Dollar belaufen. Die Mehrheit der Zwischenfälle entsteht aus einer gefährlichen Situation, die sich infolge der unterschiedlichsten Abweichungen innerhalb des komplexen Zusammenspiels aus Organisation, Technik, Team, Kommunikation und dem Patienten ergibt. Diese gefährliche Situation kann dank den vorbestehenden passiven Abwehrmechanismen in den Normalzustand zurückkehren oder aber in ein sogenanntes kritisches Ereignis übergehen, das bei einer erfolgreichen Bewältigungsstrategie als Beinaheunfall ausgeht und bei Versagen der Bewältigungsstrategie zu einem Schadensfall oder zu einer Komplikation führt. Zur Verbesserung der Sicherheit in der medizinischen Versorgung hat sich das systematische Erfassen der kritischen Ereignisse bewährt, das aus anderen risikobehafteten Bereichen wie der Aviatik bekannt ist und als «Critical Incident Reporting System (CIRS)» bezeichnet wird. Dieses Meldesystem kann sowohl in einem einzelnen Spital als auch als na-
tionale oder internationale Datenstelle
betrieben werden und hat den Vorteil,
dass wegen der im Vergleich zu den ei-
gentlichen Zwischenfällen höheren Inzi-
denz der kritischen Ereignisse eine grös-
sere Datenmenge gesammelt werden
kann und dass sich Systemschwächen
und Fehler aufdecken lassen bevor es zur
eigentlichen Katastrophe kommt. Anhand
der gewonnenen Daten können die Ursa-
chen und Risikofaktoren für ein kriti-
sches Ereignis ermittelt werden, was die
Entwicklung von Strategien zur Verhin-
derung von Zwischenfällen erlaubt.
Bei der Umsetzung von CIRS muss be-
rücksichtigt werden, dass ein Zwischen-
fall nicht durch das Versagen einer ein-
zelnen Person, sondern vielmehr durch
eine ganze Reihe von äusseren Umstän-
den, die zum menschlichen Versagen ge-
führt haben, zu erklären ist. So können
Kommunikationsfehler oder Überwa-
chungsprobleme, Arbeitsüberlastung, eine
ungenügende Ausbildung, eine inadä-
quate Umgebung oder die zu geringe
Verfügbarkeit von Ressourcen bestimmte
Handlungen oder Unterlassungen der be-
teiligten Personen zur Folge haben, die
letztlich einen Zwischenfall verursachen.
Die Schwierigkeit bei der Realisierung
von CIRS besteht darin, dass kritische Er-
eignisse in vielen Fällen aus Angst vor
einem persönlichen Imageschaden oder
vor Repressionen sowie aus Furcht vor
der Öffentlichkeit nicht gemeldet wer-
den. Um die Akzeptanz dieser Systeme
zu erhöhen, ist eine Verbesserung der
Fehlermeldekultur erforderlich. So sollte
primär nicht nach der für den Zwischen-
fall verantwortlichen Person gefragt
werden, sondern die Umstände des
Zwischenfalls sollten ermittelt und ent-
sprechende Präventionsmassnahmen
getroffen werden.
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Dr. med. Hans-Ulrich Kull Präsident der APA
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