Transkript
FORTBILDUNG
Thyreostatika
Bei welchen Schilddrüsenkrankheiten werden sie eingesetzt, und was ist dabei zu beachten?
60 Jahre nach ihrer Einführung sind Thyreostatika immer noch wichtige Medika-
Merksätze
mente in der Behandlung von Schilddrüsen-
überfunktionen, vor allem zur Therapie des
Morbus Basedow.
PETRA STÖLTING
Die Thyreostatika Methimazol (=Thiamazol), Propylthiouracil und Carbimazol sind Derivate des Thioharnstoffs. In den USA werden hauptsächlich Propylthiouracil und Methimazol angewendet, in Europa ist Methimazol der am häufigsten verabreichte Wirkstoff, während in Grossbritannien und weiten Teilen des ehemaligen Commonwealth Carbimazol am meisten Verwendung findet.
Wirkmechanismus
Thyreostatika hemmen die Synthese der Schilddrüsenhormone Thyroxin und Trijodthyronin, indem sie die durch thyreoidale Peroxidase katalysierte Jodierung der Thyrosinreste in Thyreoglobulin blockieren. Die Substanzen reichern sich aktiv in der Schilddrüse an und wirken daher länger, als es die Halbwertszeit erwarten lässt. Propylthiouracil kann zudem die Umwandlung von Thyroxin zu Trijodthyronin in der Schilddrüse und in peripheren Geweben blockieren. Möglicherweise haben Thyreostatika auch eine klinisch bedeutsame immunsuppressive Wirkung. Trotz einiger Hinweise darauf werden Veränderungen im Immunsystem jedoch meist auf eine durch das Medikament induzierte Verbesserung der Schilddrüsenfunktion zurückgeführt, die auch einen positiven Effekt auf den Autoimmunprozess bei Basedow-Patienten hat.
Klinische Pharmakologie
Sowohl Propylthiouracil als auch Methimazol werden im Gastrointestinaltrakt schnell aufgenommen. Im Plasma wird
■ Thyreostatika sind wichtige Medikamente zur Behandlung der Hyperthyreose, vor allem zur Therapie von Morbus Basedow.
■ Sie werden als Primärtherapeutika oder zur Vorbereitung vor einer Radiojodtherapie oder vor Operationen angewendet.
■ Thyreostatika werden bevorzugt Patienten gegeben, bei denen eine Remission erwartet werden kann.
■ Die Dosierung muss vorsichtig erfolgen, da die Patienten sehr individuell auf Thyreostatika reagieren und schwere Nebenwirkungen möglich sind.
■ Thyreostatika sind Mittel der ersten Wahl zur Therapie der Hyperthyreose bei Kindern und Jugendlichen sowie bei schwangeren und stillenden Frauen.
die Höchstkonzentration bereits ein bis zwei Stunden nach der Einnahme gemessen. Die Serumspiegel stehen jedoch nicht im Zusammenhang mit den schilddrüsenhormon-hemmenden Effekten, die bei Propylthiouracil 12 bis 14 Stunden, bei Methimazol möglicherweise sogar noch länger anhalten. Die lange Wirkungsdauer von Methimazol ermöglicht eine einmalige Gabe pro Tag, während Propylthiouracil zwei- bis dreimal täglich verabreicht werden muss. Für Kinder, ältere Personen, Patienten mit Nierenfunktionsstörungen oder Lebererkrankungen ist keine Anpassung der Dosis erforderlich.
Anwendungsgebiete
Thyreostatika werden entweder als Primärtherapie bei Schilddrüsenüberfunktion oder zur vorbereitenden Behandlung vor einer Radiojodtherapie oder vor Operationen zur Normalisierung der Schilddrüsenfunktion gegeben. Meist werden Thyreostatika zur Primärtherapie von MorbusBasedow-Patienten angewendet, bei denen nach 12 bis 18 Mo-
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naten eine Remission (definiert als beständiges biochemisches Schilddrüsengleichgewicht ein Jahr nach Absetzen der Medikation) erwartet werden kann. Auch zur Behandlung von Schwangeren sowie Kindern und Jugendlichen werden Thyreostatika bevorzugt als Primärtherapeutika eingesetzt. Bei toxischen mehrknotigen Struma und einzelnen Knoten erfolgt eine Behandlung mit Thyreostatika dagegen nicht als Primärtherapie, da Spontanremissionen in diesen Fällen nur selten vorkommen. Die Entscheidung für Thyreostatika muss gegen Risiken und Nutzen der definitiven Therapien einer Radiojodbehandlung oder einer Operation abgewogen werden. Dabei sollte die Präferenz des Patienten als wichtiges Entscheidungskriterium mit einbezogen werden. Studien haben ergeben, dass die Zufriedenheit der Patienten bei allen drei Behandlungsmethoden mehr als 90 Prozent beträgt, die kostengünstigste Therapie besteht jedoch in der Anwendung von Thyreostatika.
Auswahl der Medikamente
Die Wahl zwischen den Medikamenten Methimazol und Propylthiouracil liegt hauptsächlich in der persönlichen Präferenz. Das Nebenwirkungsprofil für Methimazol ist etwas günstiger, während Propylthiouracil besser zur Therapie während einer Schwangerschaft geeignet ist.
Dosierung
Die Anfangsdosis bei der Behandlung mit Methimazol beträgt in der Regel 15 bis 30 mg pro Tag als Einmalgabe. Von Propylthiouracil werden anfangs 300 mg täglich in drei Einzeldosierungen verabreicht. Die Krankheit vieler Patienten kann aber auch mit wesentlich geringeren Dosen kontrolliert werden. Die Dosierung muss vorsichtig erfolgen, da bei Überdosierung eine Entwicklung eines Kropfes oder einer künstlich herbeigeführten Schilddrüsenüberfunktion möglich ist. Vor allem bei Methimazol kann sich bei Patienten mit bereits bestehender leichter Überfunktion eine iatrogene schwere Hyperthyreose entwickeln. Auf der anderen Seite bleibt durch eine zu geringe Dosierung die Schilddrüsenüberfunktion bestehen. Vier bis sechs Wochen nach Therapiebeginn sollten Kontrollen der Schilddrüsenfunktion erfolgen. Nach vier bis zwölf Wochen hat sich bei den meisten Patienten die Schilddrüsenfunktion normalisiert, und die Dosis kann unter Euthyreose verringert werden. Die Schilddrüsenfunktion kann bei vielen Patienten mit 5 bis 10 mg Methimazol oder 100 bis 200 mg Propylthiouracil täglich stabil gehalten werden. Wird die Dosis nicht angemessen reduziert, können sich eine Hyperthyreose oder Knoten entwickeln.
Remission
Kliniker haben lange nach potenziellen Vorhersageparametern wie Alter, Geschlecht, Raucherstatus oder dem Vorhandensein einer Ophtalmopathie für den Eintritt einer Remission gesucht,
um möglichst nur Patienten mit einer grossen Aussicht auf Remission den Risiken und Beeinträchtigungen einer Thyreostatikatherapie auszusetzen. Zudem gab es einige Versuche, die Medikamente effektiver einzusetzen, um die Chancen für eine Remission zu verbessern. Eine kürzlich durchgeführte prospektive Studie ergab, dass Depressionen, Hypochondrie, Paranoia, Erschöpfungssyndrome und «Probleme im Leben» Risikofaktoren für einen Rückfall darstellen. Keiner dieser Parameter weist jedoch genügend Sensitivität oder Spezifität auf, um «Idealkandidaten» für die Thyreostatikatherapie herausfiltern zu können. Aufgrund der diesbezüglich unzureichenden Resultate wird die Therapie mit Thyreostatika zunächst meist über 12 bis 18 Monate durchgeführt. Wenn nötig, können Patienten aber auch Monate oder Jahre mit niedrigen Dosierungen behandelt werden.
Unterbrechung der Behandlung
Mit Ausnahme von Kindern und Jugendlichen, die manchmal jahrelang mit Thyreostatika behandelt werden, wird bei Erwachsenen gewöhnlich die Medikation nach 12 bis 18 Monaten ausgeschlichen oder abgesetzt. Rezidive treten meist innerhalb der nächsten drei bis sechs Monate nach Absetzen der Medikamente auf. Danach nimmt die Rückfallquote ab und bleibt nach ein bis zwei Jahren bei etwa 50 bis 60 Prozent stabil. Patienten in Remission müssen lebenslang überwacht werden, da eine spontane Schilddrüsenüberfunktion manchmal Jahrzehnte später noch auftritt.
Nebenwirkungen
Thyreostatika stehen sowohl mit einer Reihe von leichteren als auch mit potenziell lebensbedrohlichen oder tödlichen Komplikationen im Zusammenhang. Nebenwirkungen von Methimazol treten fast immer in Relation zur Dosierung auf, bei Propylthiouracil ist die Beziehung zur Dosis weit weniger ausgeprägt. Leichtere Nebenwirkungen wie Hautreaktionen, Arthralgien oder gastrointestinale Beschwerden treten bei etwa 5 Prozent der Patienten auf. Zur Beseitigung leichterer Hautreaktionen können in einigen Fällen Antihistaminika gegeben werden, bei manchen Patienten kann ein Wechsel des Medikamentes oder ein Abbruch der Behandlung erforderlich sein. Bei Arthralgien ist meist ein sofortiger Abbruch angezeigt, da das Symptom ein erstes Anzeichen einer schweren transienten migratorischen Polyarthritis sein kann, die auch als Thyreostatika-Arthritis-Syndrom bezeichnet wird. Die am meisten gefürchtete Komplikation ist die Agranulozytose. Sie tritt in etwa 0,37 Prozent bei Patienten auf, die mit Propylthiouracil behandelt werden, und bei etwa 0,35 Prozent der Patienten, die mit Methimazol behandelt werden. Die Agranulozytose muss unterschieden werden von einer vorübergehenden leichten Granulozytopenie, die manchmal bei Patienten mit Morbus Basedow, bei manchen Patienten afrikanischer Abstammung und gelegentlich bei Patienten auftritt,
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die mit Thyreostatika behandelt werden. Die meisten Fälle einer Agranulozytose treten innerhalb der ersten 90 Behandlungstage auf. Diese Komplikation kann aber auch ein Jahr nach Behandlungsbeginn oder später eintreten. Vorsichtshalber sollten alle Patienten angewiesen werden, bei grippeähnlichen Symptomen wie Fieber oder Halsschmerzen die Therapie abzubrechen und sofort den Arzt aufzusuchen. Als weitere schwere, aber sehr seltene Nebenwirkung bei der Therapie mit Thyreostatika kann nach einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von etwa drei Monaten eine Hepatotoxizität auftreten. Eine dritte schwere toxische Nebenwirkung von Thyreostatika ist die Vaskulitis, die eher im Zusammenhang mit Propylthiouracil als mit Methimazol beobachtet wird, aber ebenfalls nur sehr selten vorkommt.
Anwendung in Schwangerschaft und Stillzeit
In 1 von 1000 bis 2000 Schwangerschaften tritt eine Thyreotoxikose auf. Die Therapie mit Thyreostatika sollte möglichst sofort begonnen werden, da die Thyreotoxikose ein Risiko für Mutter und Kind darstellt. In USA wird Propylthiouracil zur Behandlung von schwangeren Frauen bevorzugt, da unter der Therapie mit Methimazol Anomalien beobachtet wurden, vor allem Aplasia cutis. Die Anwendung von Methimazol wird auch mit einem sehr seltenen teratogenen Syndrom in Zusammenhang gebracht, das als «Methimazol-Embroypathie» bezeichnet wird und durch eine choanale oder ösophagale Atresie charakterisiert ist. Schwangere Frauen sollten daher mit Propylthiouracil behan-
delt werden, wenn das Medikament verfügbar ist. Die Food and Drug Administration hat beide Medikamente als Klasse-DSubstanzen, als Medikamente mit starken Hinweisen für ein Risiko für den Fötus, eingestuft, da eine fötale Schilddrüsenüberfunktion auftreten kann. Sobald die Hyperthyreose unter Kontrolle gebracht ist, sollte daher die Dosis so weit wie möglich reduziert werden. Für stillende Mütter werden beide Medikamente als sicher betrachtet. Beide Substanzen können in der Muttermilch nachgewiesen werden, allerdings in niedrigen Dosierungen. Klinische Studien zu gestillten Kindern haben normale Schilddrüsenfunktionen und eine normale intellektuelle Entwicklung bei Kindern ergeben, die den Medikamenten über die Muttermilch ausgesetzt waren.
Schilddrüsenkrise
Thyreostatika spielen auch eine grosse Rolle in der Behandlung
einer Schilddrüsenkrise. In diesem Fall sollte eine hohe Dosis
von etwa 60 bis 120 mg Methimazol oder 600 bis 1200 mg
Propylthiouracil verabreicht werden. Wenn nötig, können beide
Medikamente auch rektal zugeführt werden.
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Petra Stölting
Quelle: Cooper, David S.: Antithyroid Drugs, The New England Journal of Medicine, März 2005; 352; 9; 905–917.
Interessenkonflikte: keine deklariert
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