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Titel
Sex and the Family Practitioner
Untertitel
-
Lead
«Sex and the City» sei eine Kultserie, so belehrten mich meine MPAs. Ein «Must», das auch alte Hausärzte gucken müssten. Da ich seit dem Primeli daran gewöhnt bin, Aus-, Weiter- und Fortbildungszwängen unverzüglich und klaglos nachzukommen, habe ich dienstags brav den Fernseher eingeschaltet.
Datum
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-
Rubrik
Rubriken — ARSENICUM
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12041
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ENICUM

Sex and the Family Practitioner

«Sex and the City» sei eine Kultserie, so belehrten mich meine MPAs. Ein «Must», das auch alte Hausärzte gucken müssten. Da ich seit dem Primeli daran gewöhnt bin, Aus-, Weiter- und Fortbildungszwängen unverzüglich und klaglos nachzukommen, habe ich dienstags brav den Fernseher eingeschaltet. Nachdem ich mir drei Folgen («Es braucht immer mehrere Messungen!», mahnte der Naturwissenschaftler in mir) angetan hatte, verweigerte ich den weiteren Konsum der Serie. Leider habe ich weder die Courage noch die politische Unkorrektheit meines HipHop-Sohns, der mit dem Privileg des Pubertierenden schnödete: «Der Bullshit ist nur für Weiber und Schwuchteln!». Feixend nahm ich zur Kenntnis, dass die «Nibelungen»-Saga höhere ZuschauerQuoten erzielt. Ja, Sex and Crime, das konnten die alten Germanen halt am besten. Freundestreue und Verrat, Männerseilschaften und Zickenstreit, starke Frauen, die nur durch unfaire männliche Magie und Weicheier-Tricks besiegt werden können, Drachenblut und deutsche Eiche – das ist ein Mix, gegen den die vier Stadtneurotikerinnen aus den USA keinen Stich haben. Bei Frau, Tochter und MPAs bin ich völlig unten durch. Ein vergreister Muffel-Macho, der nicht kapiert, dass moderne Frauen sowohl beruflichen Erfolg wie Spass mit Mr. Big haben und darüber reden. Amüsant und gescheit … Frau zeiht mich der Verklemmtheit. Als ob dies nicht schon schlimm genug wäre, kommt

noch dazu, dass es stimmt. In meinen Teenagerjahren waren die Achtzigerjahre und Oswald Kolle los. Doch während Fritz Teufel die Sau raus liess und Rainer Langhans es in der Kommune Eins trieb, paukte ich brav Kommaregeln und unregelmässige französische Verben für die Matur. Zwar kaufte mein Bruder das Magazin «Jasmin», in welchem eingeheftete, geschlossene Seiten Ferkeleien boten. (Anmerkung des Setzers: Dieses Prinzip sollte sich der Rosenfluh-Verlag auch für «Arsenicum» überlegen!) Doch wenn man nicht als verderbt gelten, aber doch die Infos lesen wollte, durfte man die Seiten nicht aufschneiden, sondern musste sie sanft biegen und quasi endoskopisch lesen. Aber wie schon der Buchtitel «Das Kreuz mit der Liebe – der Mythos von der sexuellen Befreiung» der «Jasmin»Redaktorin Ingrid Kolb beweist, ist nicht die Sexualität das Problem. Sondern die Emotionen, die damit einhergehen. Bei atherosklerotischen Koronarien hilft Prof. Bernie Meier, aber ein gebrochenes Herz kann auch er nicht flicken. Warum sollen wir Ärzte denn eigentlich in der Lage sein, locker über Themen zu plaudern, die allen anderen die Schamröte ins Gesicht treibt? Verkrampft versuchte ich als junger Hausund nebenamtlicher Schularzt (wir sind ein armer Kanton!), die zwölfjährigen Schüler vom Storchenmythos zu befreien und gleichzeitig den 15-jährigen Repetenten gerecht zu werden, die sich von mir eine verbale Einführung in Cunnilingus-

Techniken erhofften. Und genauso hilflos bin ich noch heute gegenüber den vielen Problemen, die mit Sexualität zu tun haben und unter denen meine Patienten leiden. Keinerlei Hilfe bieten die Lehrbücher dem Grundversorger. Psychologische und psychiatrische Werke sind so abgehoben, dass ich nicht mehr mitkomme. Im Harrison haben nur Adoleszente ein Sexualverhalten. «Sexualfunktion» wird dort im Index nur mit den Adjektiven «normal, male» versehen; «female» ist nicht aufgeführt. In Kumar& Clarks «Clinical Medicine» taucht «Sexualanamnese» nur im Zusammenhang mit Geschlechtskrankheiten auf, neben Horrorbildern von weichem und hartem Schanker. Sexuelle Störungen teilen sie in ein simples Dreierschema ein: Dysfunktionen, Deviationen und Geschlechtsrollenstörungen. Und «The General Practitioner’s Handbook» empfiehlt: «Be natural about it!» Nun, wenn ich das bin, dann höre ich mich an wie César Keiser in seinem Sketch «My Sohn, nimm Platz». Meinem Gynäkologen-Kollegen geht es gleich wie mir, dabei ist er zwölf Jahre jünger. Er hat eine junge Krankenschwester eingestellt, die über Sexualität und Familienplanung berät. Sie nennt sich «SexConsultant». Vielleicht sollte auch ich so jemanden engagieren? Meine MPAs waren begeistert von der Idee. Sie wünschen sich eine Art Carrie, «damit wir mal jemanden haben, mit dem man sich vernünftig unterhalten kann!»

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