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Optimale Blutzuckerkontrolle bei Typ-2-Diabetikern
Bedeutung von Nüchtern- und postprandialem Blutzucker
ARCHIVES OF INTERNAL MEDICINE
Die Entwicklung hin zum Typ2-Diabetes verläuft nicht selten über einen Anstieg der postprandialen Blutglukosewerte, noch bevor der Nüchternblutzucker ansteigt. Epidemiologische Studien legen nahe, dass es von Nutzen sein könnte, auch die postprandiale Hyperglykämie zu bekämpfen. Dazu können auch verschiedene Antidiabetika beitragen, meint der Diabetologe Martin J. Abrahamson vom Diabeteszentrum in Boston.
Abrahamson macht in einem Artikel für die «Archives of Internal Medicine» klar, dass bei der angestrebten Einstellung des HbA1c-Wertes sowohl Nüchternblutzucker als auch postprandialer Blutzucker (BZ) eine Rolle spielen. Welcher der beiden Parameter stärker ins Gewicht fällt, ist nach Ansicht des Diabetologen bislang
nicht sicher geklärt. Möglicherweise, so das Fazit einer jüngeren Studie, spielt der postprandiale BZ eine stärkere Rolle, wenn es darum geht, den HbA1c unter 7,3 Prozent zu senken. Bis zu diesem Wert hat offenbar der Nüchtern-BZ einen stärkeren Einfluss. Wie dem auch sei, es gelte, beide Glukosemesswerte im Auge zu behalten, meint Abrahamson. Postprandiale Hyperglykämie, also der länger andauernde Blutglukoseanstieg nach dem Essen, ist auf dem Weg zum Diabetes oft der erste Schritt; er geht in der Entwicklung zum Diabetes einer Erhöhung des Nüchtern-BZ voraus. Bei offenem Diabetes mellitus ist die postprandiale Hyperglykämie Ausdruck sowohl einer basalen wie einer nahrungsabhängigen Hyperglykämie. Arahamson erinnert in seinem Beitrag noch einmal an die beiden fundamentalen pathophysiologischen Veränderungen beim Typ-2-Diabetes: die eingeschränkte Insulinsekretion und die Insulinresistenz. Letztere resultiert aus einer exzessiven endogenen Glukoseproduktion in der Leber und einer verminderten Glukoseaufnahme in der Peripherie. Während der postprandialen Phase ist die Insulinsekretion zu gering, um eine bestehende Insulinresistenz vollkommen zu überwinden. Folglich kann der Glukoseeinstrom nicht Schritt halten mit dem nahrungsbedingten Blutglukoseanstieg. Hinzu kommt, dass die hepatische Glukoseproduktion nach der Mahlzeit nicht unterdückt wird, wegen der hepatischen Insulinresistenz und der unzureichenden Suppression von Glukagon. Diese pathophysiologischen Defekte führen zu einem erhöhten Nüchtern-BZ und zu exzessiven BZ-Ausschlägen nach den Mahlzeiten. Eine Behandlung, die an beiden Defekten ansetzt, reduziert also die postprandialen und die
Merk-
sätze
q Die postprandiale Hyperglykämie ist bei Typ-2-Diabetikern ein unabhängiger Risikofaktor für diabetische Komplikationen, Tod und kardiovaskuläre Erkrankung.
q Lifestyleveränderungen, Diät und Bewegung plus Antidiabetika können die Insulinresistenz verringern, die Kohlenhydrataufnahme im Darm verzögern und das Fortschreiten von der gestörten Glukosetoleranz zum Diabetes verhindern.
q Optimale Diabetestherapie zielt auf eine Kontrolle von NüchternBlutzucker und postprandialem Blutzucker.
q Ob die gezielte Beeinflussung des postprandialen Blutzuckers die diabetische Komplikationsrate senkt, ist bislang nicht untersucht worden.
Nüchtern-Blutzuckerwerte, letztlich also die allgemeine Blutzuckerkontrolle und den HbA1c.
Soll man den postprandialen Blutzucker routinemässig bestimmen?
Alle einschlägigen Fachgesellschaften halten die HbA1c-Messung für den Goldstandard, wenn es um die Bewertung der Blutglukoseeinstellung von Diabetikern geht. Welche HbA1c-Werte anzustreben sind,
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Optimale Blutzuckerkonrolle bei Typ-2-Diabetikern
darüber gehen die Meinungen ein wenig auseinander. Während einzelne Gesellschaften, wie etwa die American Diabetes Association (ADA), eine Einstellung auf ein HbA1c von unter 7 Prozent für ausreichend halten, fordert etwa das American College of Endocrinologists HbA1c-Werte unter 6,5 Prozent. Viele Patienten mit Altersdiabetes sind allerdings nicht in der Lage, die Zielvorgaben zu erreichen, weder die strengen noch die weniger strengen. Selbst Patienten, die normale oder fast normale Nüchtern-Blutzuckerwerte aufweisen, haben manchmal unerwartet hohe HbA1c-Konzentrationen im Blut. Hierzu könnte dann im Einzelfall, so Abrahamson, die postprandiale Hyperglykämie beigetragen haben. Seiner Meinung nach sprechen plazebokontrollierte Studien dafür: Medikamente, die auf den postprandialen Blutzucker zielen, haben einen moderaten Effekt auf das HbA1c, hingegen tangieren sie den Nüchtern-Blutzucker nur minimal. Dennoch ist man nicht überall davon überzeugt, ob der postprandiale Blutzucker tatsächlich routinemässig gemessen werden sollte. Die ADA beispielsweise empfiehlt die Messung nur bei Patienten, bei denen Nüchtern-BZ und HbA1c nicht gut übereinstimmen. Ansonsten sei die postprandiale Blutzuckermessung nicht angezeigt, da, wie Abrahamson schreibt, «bislang nicht nachgewiesen ist, dass die Senkung des postprandialen Blutzuckerwertes tatsächlich die Komplikationsrate der Patienten senkt».
Postprandiale Hyperglykämie im klinischen Zusammenhang
Heute gilt als bewiesen, dass die gute Einstellung des HbA1c dafür sorgt, dass das Risiko für die Entwicklung und das Fortschreiten von Diabeteskomplikationen sinkt. Das gilt wahrscheinlich auch für makrovaskuläre Erkrankungen wie etwa den Herzinfarkt. Daraus könne man ableiten, so Abrahamson, dass implizit auch die Senkung des postprandialen BZ das Risiko von mikro- und makrovaskulären Komplikationen verringern hilft. Allerdings sind Studien, die den Effekt einer Behandlung der postprandialen Hyperglykämie auf diese
Outcomes prüfen, bislang nicht durchgeführt worden. Die vorliegenden Daten sind begrenzt auf Prospektivstudien, die die Rolle der Glukoseeinstellung, einschliesslich des postprandialen BZ, auf die Krankheitsprogression von der verschlechterten Glukosetoleranz zum Diabetes aufzeigen. Hinzu kommen epidemiologische Untersuchungen zur Beziehung zwischen postprandialer Hyperglykämie und Mortalität.
Posptprandiale Hyperglykämie und Diabeteskomplikationen
Sowohl die postprandiale Hyperglykämie als auch eine gestörte Glukosetoleranz erhöhen das Risiko einer Entwicklung hin zum manifesten Typ-2-Diabetes-mellitus. Die epidemiologischen Studien legen zugleich den Verdacht nahe, dass die postprandiale Hyperglykämie ein unabhängiger Risikofaktor für die Mortalität (die kardiovaskuläre eingeschlossen) ist. Das zeigt etwa die DECODE-Studie (Diabetes Epidemiology: Collaborative Analysis of Diagnostic Criteria in Europe), in der 13 prospektive populationsbasierte Studien evaluiert wurden und an denen insgesamt 25 000 Personen über sieben Jahre verfolgt wurden. Dabei ging es darum, die Nüchtern-BZ und postprandialen BZ nach oralem Blutglukosetoleranztest (mit 75 mg Glukose) zu ermitteln. Dabei zeigte sich, dass Menschen, bei denen kein Diabetes bekannt war, bei bestehender postprandialer Hyperglykämie ein zwei- bis dreifach erhöhtes Sterblichkeitsrisiko aufwiesen, unabhängig vom Nüchtern-BZ. Man fand auch heraus, dass eine gestörte Glukosetoleranz bei normalem Nüchtern-BZ mit erhöhter kardiovaskulärer Mortalität assoziiert war. Die eingeschränkte Glukosetoleranz bedeutete demnach sogar ein stärkeres Mortalitätsrisiko verglichen mit Diabetes, der nur aufgrund des NüchternBZ diagnostiziert wurde. Die isolierte postprandiale Hyperglykämie erscheint deshalb als ein unabhängiger Risikofaktor, meint der Autor. Andere Forschergruppen hatten herausgefunden, dass die postprandiale Hyperglykämie mit einem erhöhten allgemeinen und kardiovaskulären Sterblichkeitsrisiko
assoziiert ist. Womöglich amplifiziert ein erhöhter postprandialer BZ bestimmte kardiovaskuläre Risikofaktoren, was den Zusammenhang zwischen postprandialer Hyperglykämie und atherosklerotischen Läsionen bei Typ-2-Diabetikern mit erklären könnte. Allerdings seien auf diesem Gebiet weitere Studien erforderlich, um ein abschliessendes Urteil aussprechen zu können, meint Abrahamson.
Wie wirken Antidiabetika auf die postprandiale Hyperglykämie?
Alle Antidiabetika sind imstande, für eine Verbesserung des HBA1c zu sorgen. Aber nur wenige sind in der Lage, zusätzlich auch die postprandialen Zuckerwerte zu senken. Dies lasse sich mit dem jeweiligen Wirkmechanismus der Substanzen erklären; andererseits gibt der Autor zu bedenken, dass es für manche Medikamente schlicht an Studien mangle, in denen postprandiale Glukosewerte überhaupt gemessen und beurteilt würden. Zu den sicher auf den postprandialen BZ wirkenden Antidiabetika zählt der Autor:
q Die kurz wirksamen Insulinanaloga Insulin lispro und aspartat (z.B. Humalog®, NovoRapid®). Sie zeichnen sich durch einen rascheren Wirkungseintritt aus, als dies herkömmliche Insuline ermöglichen und senken spezifisch die postprandialen Glukosespiegel, sind aber gleichzeitig auch in der Lage, das HbA1c zu normalisieren.
q Alfa-Glukosidasehemmer wie Acarbose (Glucobay®) sind Kohlenhydratresorptionshemmer, sie erzeugen also gleichsam ein medikamentöses Malabsorptionssyndrom ohne die Gefahr der Hypoglykämie. Sie werden eingesetzt bei stark schwankenden BZ-Tagesprofilen zur Reduktion von postprandialen BZ-Spitzen. Der Effekt auf den postprandialen BZ ist ausgeprägt, der Nüchtern-Blutzucker verändert sich nicht signifikant, und der Einfluss auf den HbA1c-Wert ist gering. Laut Abrahamson ist die Therapietreue oft nicht stark, vermutlich wegen der Nebenwirkungen,
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wie Blähungen, Völlegefühl und passageren Diarrhöen. q Kurz wirksame Insulinsekretagogika sind die Glinide. Sie bewirken eine rasche und kurzfristige Insulinfreisetzung und kommen zum Einsatz, wenn Bewegung und Diät nicht ausreichen. Glinide zielen eindeutig auf die Absenkung des postprandialen BZ. Im Handel befindliche Substanzen sind Nateglinid (Starlix®) und Repaglinid (Novonorm®). Bei Kombination von Nateglinid und Metformin addieren sich die Effekte, sodass Nüchtern-BZ, postprandialer BZ und HbA1c günstig beeinflusst werden. Repaglinid hat wie Nateglinid eine kurze Halbwertszeit und wird gleichfalls mit der Mahlzeit eingenommen. Verglichen mit Plazebo senkt es die verschiedenen Glukoseparameter deutlicher als Plazebo. Nach Auffassung des Autors scheint Re-
paglinid etwas wirksamer zu sein als Nateglinid in Bezug auf Nüchtern-BZ und HbA1c, vermutlich wegen seiner längeren Wirkdauer. Bei Kombination mit Metformin lässt sich der HbA1c stärker reduzieren als mit der Monotherapie dieser Substanzen. Nebenwirkungen der Glinide sind in erster Linie Hypoglykämie, Übelkeit, Diarrhö und Obstipation. q Kombinationspräparate aus Sulfonylharnstoff und dem Biguanid Metformin haben den Vorteil, beide pathophysiologischen Probleme anzugreifen: der Sulfonylharnstoff als Insulinsekretagogikum und Metformin als Insulinsensitizer, der vor allem die hepatische Glukoneogenese herabsetzt. Folglich lassen sich alle Blutglukoseparameter günstig beeinflussen, insbesondere auch der postprandiale BZ. Abrahamson be-
zieht sich dabei auf Studien mit dem
Sulfonylharnstoff Glyburid, der in der
Schweiz nicht im Handel ist. Hierzu-
lande sind die Kombinationen Gluco-
vance® (Metformin plus Glibenclamid)
und Diabiformin® (Metformin plus
Chlorpropamid) erhältlich.
q
Martin J. Abrahamson: Optimal glycemic control in type 2 diabetes mellitus. Fasting and postprandial glucose in context. Arch Intern Med 2004; 164: 486–491.
Uwe Beise
Interessenlage: Dr. Abrahamson erhielt Vortragshonorare von Aventis, Bristol-Myers Squibb, Eli Lilly, GlaxoSmithKline, NovoNordisk, Novartis und Pfizer.
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