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FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE
Management bei Reizblase
NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE
Die hyperaktive Blase (Reizblase, «overactive bladder»)
vitäten einzuschränken oder sich ganz zurückzuziehen, manche sind aufgrund der Symptomatik auch zu Depressionen prädisponiert. Postmenopausale Frauen mit Dranginkontinenz haben ein höheres Risiko für Stürze und Frakturen als solche ohne.
ist ein Symptomenkomplex,
der Harndrang mit oder ohne
Dranginkontinenz, Pollakis-
urie und Nykturie umfasst.
Nach der Einteilung der Inter-
nationalen Inkontinenz-
Gesellschaft handelt es sich
um ein Syndrom ohne präzis
definierte Ursache, bei dem
lokale Abnormitäten durch
diagnostische Abklärung aus-
geschlossen wurden.
Die Reizblase ist ein Syndrom neuerer Definition, schreibt Joseph G. Ouslander in seiner Übersicht im «New England Journal of Medicine». Entsprechend ist über Prävalenz und Verlauf relativ wenig bekannt. Klar ist, dass Menschen beider Geschlechter ab Anfang 40 recht häufig Reizblasensymptome haben, die dann mit dem Alter noch zunehmen. Patientinnen und Patienten mit Reizblase neigen dazu, sich in ihren sozialen Akti-
Pathophysiologie
Die Symptome der hyperaktiven Blase haben sehr viele potenzielle Ursachen oder begünstigende Faktoren, die in Tabelle 1 kurz zusammengefasst sind. Den Akt des Wasserlassens ermöglichen viele verschiedene neurale Strukturen (Kortex, Pons, Rückenmark, periphere autonome, somatische und sensorische Nerven) im Zusammenspiel mit den anatomischen Komponenten der unteren Harnwege. Störungen irgendeiner dieser Strukturen können die Symptome einer Reizblase hervorrufen. Die normale Blase verhält sich zunächst wie ein Ballon, der sich langsam füllt, wobei der Blasendruck immer unterhalb des Widerstands der Urethra bleibt. Mit Beginn der Miktion sinkt der Urethraldruck, und die phasische Kontraktion des Detrusormuskels entleert die Blase. Reizblasesymptome sind gewöhnlich mit unwillkürlichen Detrusorkontraktionen assoziiert. Je nach Antwort des Blasensphinkters kann eine (neurogene oder idiopathische) Detrusorhyperaktivität zu Harndrang oder Harninkontinenz führen. Die gesteigerte Detrusoraktivität kann auch myogene Ursachen haben. Bei schwachen Detrusorkontraktionen, die sich bei älteren Patienten in der urodynamischen Untersuchung nachweisen lassen, kommt es häufig zu einer unvollständigen Blasenentleerung. Der verbleibende Restharn kann zur Pollakisurie beitragen, indem er
Merk-
sätze
q Postmenopausale Frauen mit Dranginkontinenz haben ein höheres Risiko für Stürze und Frakturen als solche ohne.
q Die effektive Therapie des Reizblasesyndroms erfordert eine zielgerichtete Evaluation, die über Fragen nach Erkrankungen von Harnwegen und Sexualorganen hinausgeht.
q Der Stellenwert der urodynamischen Untersuchung bei der Abklärung von Patienten mit Reizblasesymptomen ist umstritten. Es ist vertretbar, eine komplexere Urodynamik erst einzusetzen, wenn die Initialtherapie versagt hat.
q Wie wichtig Informationen über Blasenfunktion, Flüssigkeitsaufnahme, chronische Verstopfung sind, zeigen die hohen Plazeboerfolgsraten in klinischen Studien.
q Alle verhaltenstherapeutischen Interventionen können auch sinnvolle Ergänzung einer medikamentösen Behandlung sein.
q Die medikamentöse Therapie der Reizblase stützt sich zurzeit auf antimuskarinisch wirkende Anticholinergika, ferner bei Frauen auf topische Östrogenpräparate, bei Männern auf Alphaantagonisten.
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Tabelle 1: Mögliche Ursachen für ein Reizblasesyndrom
Untere Harnwege Beide Geschlechter: Harnwegsinfekt
Obstruktion
Blasenaffektionen oder -entzündung (z.B. Tumoren, Calculi, interstitielle Zystitis)
Frauen: Östrogenmangel
Sphinkterschwäche
Männer: Prostatavergrösserung
Neurologische Störungen Hirn: Schlaganfall, Demenzen, Parkinson, multiple Sklerose Rückenmark: Multiple Sklerose, Zervikal- oder Lumbalstenose, Diskushernie, Trauma Peripher: Diabetische Neuropathie, Nervenverletzung
Systemische Affektionen Kongestive Herzinsuffizienz; venöse Insuffizienz Diabetes mellitus
Schlafstörungen (Apnoesyndrom, Restless legs)
Vasopressinstörung Funktionelle und Verhaltensstörungen Exzessiver Koffein- oder Alkoholkonsum, Polydipsie Chronische Obstipation Mobilitätsstörungen versch. Ursachen Psychologische Störungen Medikamentennebenwirkungen Diuretika (v.a. rasch wirkende) Anticholinergika, Narkotika, Kalziumantagonisten
Mechanismen
Entzündung ⇒ sensorische afferente Innervation ↑ Harnverhaltung, Blasenkapazität ↓
Detrusoraktivität ↑↑
Entzündung b. atrophischer Vaginitis und Urethritis Harn i. proximaler Urethra ⇒ Harndrang ↑ Detrusorhemmung durch Sphinkterkontraktion ↓
Detrusorüberaktivität
Zentrale (kortikale) Hemmung der Blase ↓
Neurogene Detrusoraktivität ↑↑ oder Harnverhalt
Harnverhalt, geringe funktionelle Blasenkapazität
Volumenüberlastung ⇒ Pollakisurie und Nykturie im Liegen Schlechte BZ-Kontrolle ⇒ osmot. Diurese und Polyurie Schlafstörungen ⇒ Nykturie ↑
Vasopressinsekretion ↓⇒ Polyurie, Nykturie
Polyurie, Pollakisurie
Fäzes-Impaktion ⇒ Harnsymptome ↑ Aufsuchen der Toilette ↓⇒ Dranginkontinenz Chron. Angst ⇒ Drangsymptome
Blasenvolumen rasch ↑⇒ Drang Blasenkontraktilität ↓⇒ Harnverhalt, funktionelle Blasenkapazität ↓
Management
Vor anderen Interventionen die Infektion behandeln Vermeiden von Medikamenten, die die Blasenkontraktilität reduzieren. Anleitung zur Unterstützung der Entleerung (Credé). U.U. intermittierende Katherisierung Sterile Hämaturie und Risikofaktoren für Blasenkrebs ⇒ Abklärung
Topische Östrogene
Top. Östrogene, Beckenbodentraing, periurethrale Injektionen; chirurg. Eingriffe
Ggf. Abklärung auf Prostata-Ca.; Alphablocker, 5α-Reduktasehemmer
Kognitive Beeinträchtigung und eingeschränkte Mobilität berücksichtigen
Neurologische Symptome = weitere Abklärung; urodynamische Untersuchungen
Bei anamnestischen Hinweisen: weitere Abklärung
Timing von Diuretika; Hochlagerung der Beine; Stützstrümpfe; Salzrestriktion Bessere BZ-Kontrolle ⇒ weniger Symptome
Anamnestische Hinweise ⇒ weitere Abklärungen Ggf. Desmopressin-Therapie
Modifikation der Flüssigkeitszufuhr für Erfolg entscheidend Kontrolle des Stuhlgangs Im Pflegekonzept berücksichtigen Bei Anamnese berücksichtigen
Medikationsanpassungen Substanzen wenn möglich vermeiden
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die funktionelle Blasenkapazität verringert. Die Zwischenlagerung des Urins und seine Entleerung aus der Blase unterliegen einem Wechselspiel efferenter und afferenter Nervenimpulse, Reflexe und Neurotransmitter, das im Detail noch nicht ganz erforscht ist. Bekannt ist, dass Azetylcholin über muskarinische Rezeptoren am Detrusormuskel als vorherrschendem Neurotransmitter die Blasenkontraktion steuert. Von den fünf bekannten muskarinischen Rezeptorsubtypen scheint M3 in der menschlichen Blase am relevantesten zu sein. Pathologische Veränderungen, zum Beispiel eine Obstruktion am Blasenhals, können die Empfindlichkeit der muskarinischen Stimulation steigern. Daneben haben die sensorischen Afferenzen zunehmende Beachtung gefunden. Während der Phase der langsamen Blasenfüllung erreichen sensorische Rückmeldungen aus Blase und Urethra das Rückenmark vorwiegend über den N. pelvicus. Dieser Input führt zu einer Anhebung des sympathischen Tonus, der seinerseits die motorischen parasympathischen Blasennerven hemmt. Zurzeit beschäftigt sich die Forschung mit einer Vielzahl von Neurotransmittern und ihren Rezeptoren in beteiligten Nerven, Uroepithel und Detrusormuskelzellen in der Hoffnung auf neue spezifische Ziele für die medikamentöse Therapie.
Diagnostische Abklärung
Die effektive Therapie des Reizblasesyndroms erfordert eine zielgerichtete Evaluation. Die Anamnese muss selbstverständlich Fragen nach Erkrankungen von Harnwegen und Sexualorganen umfassen, daneben aber auch nach möglichen Ursachen und Auslösern forschen, die in Tabelle 1 aufgelistet sind. Zur Erfassung einer benignen Prostatahyperplasie (BPH) bei älteren Männern sind entsprechende Fragebögen und Symptomenscores hilfreich. Entsprechende Fragebögen wurden auch für Symptome der unteren Harnwege bei Frauen entwickelt. Zusätzlich ist ein Tagebuch empfehlenswert, in dem die
Patientinnen oder Patienten die Häufigkeit der Miktionen, deren Volumen und die Miktionsmuster im Tages- und Nachtverlauf aufzeichnen. Weiter gehört zur anfänglichen Abklärung eine körperliche Untersuchung der Urogenitalorgane. Eine Urinuntersuchung zum Ausschluss von Hämaturie und Infektion ist ebenfalls obligat. Weitere Abklärungen sind bei ausgewählten Patientinnen und Patienten in Betracht zu ziehen. Eine Restharnbestimmung (durch Katheterisierung oder Ultraschall) ist bei Patienten mit Risiko für Harnverhalt (Diabetes, Rückenmarkserkrankung, BPH) sinnvoll. Patienten mit steriler Hämaturie oder Risikofaktoren für Blasenkrebs sollte neben einer entsprechenden Urinzytologie die eine Zystoskopie empfohlen werden. Auch ein Prostatakarzinom im Frühstadium kann Symptome der Reizblase verursachen. Der Stellenwert der urodynamischen Untersuchung bei der Abklärung von Patienten mit Reizblasesyndrom ist umstritten. Vetretbar ist es, eine komplexere Urodynamik erst dann einzusetzen, wenn die Initialtherapie versagt hat, schreibt Joseph G. Ouslander.
Therapie
Gewöhnlich tragen etliche Faktoren gemeinsam zum Reizblasensyndrom bei, und dem sollte die Behandlung mit einer Kombination nichtpharmakologischer und medikamentöser Massnahmen Rechnung tragen.
Nichtpharmakologische Massnahmen Verschiedenste klinische Studien zeigen, dass Verhaltensinterventionen bei Drangund gemischter Drang- und Stressinkontinenz wirksam sind. Alle Reizblasenpatientinnen und -patienten sollen über Blasenfunktion und sinnvolle Flüssigkeitszufuhr (wenig Kaffee, ausreichendes Trinken zum Schutz vor Dehydratation, Timing der Flüssigkeitszufuhr) informiert werden. Auch auf die Wichtigkeit regelmässiger Stuhlgewohnheiten ist hinzuweisen, da eine Obstipation die Blasensymptome ver-
stärkt. Wie wichtig solche Informationen sind, zeigen die hohen Plazeboerfolgsraten (rund 30%) in kontrollierten Medikamentenstudien. Mehrere Studien bei Frauen in mittlerem Alter (bis 75 J.) dokumentieren, dass Beckenboden- und Blasentraining bei kognitiv intakten, motivierten Patientinnen zu guten Erfolgen mit Reduktion der Inkontinenzepisoden um rund 70 Prozent innert zwei bis drei Monaten führen. Die Langzeiterfolge müssten aber noch weiter abgeklärt werden, so Ouslander. Alle verhaltenstherapeutischen Interventionen können auch sinnvolle Ergänzung einer medikamentösen Behandlung sein. Nicht zu vergessen sind auch die heute in grosser Vielfalt erhältlichen hoch absorbierenden Einlagen, die bei ausgewählten Patientinnen und Patienten mit refraktären Symptomen durchaus eine akzeptable Intervention sein können, um eine «soziale» Kontinenz und gute perineale Hygiene zu erreichen. Zu invasiven Methoden (elektrische Stimulation, sakrale Neuromodulation, Magnetstimulation u.a.) in ausgewählten, schweren Fällen ist die Evidenz noch begrenzt.
Medikamentöse Therapie Viele Substanzklassen sind für die Therapie der Reizblase vorgeschlagen worden. Die Mehrzahl der – mitunter qualitativ wenig befriedigenden – Studien fokussierte auf das Symptom Urininkontinenz, neuere Studien umfassen aber auch spezifisch Teilnehmende mit Reizblasesyndrom. Tabelle 2 gibt eine Liste der bei Reizblasesyndrom eingesetzten Medikamente. Alle Anticholinergika haben störende Nebenwirkungen, hält Joseph G. Ouslander fest. Dazu gehören an erster Stelle Mundtrockenheit, weiter Obstipation, gastroösophagealer Reflux, verschwommenes Sehen, Harnverhalt und auch kognitive Beeinträchtigung. Da hyperaktive Blase und Demenz beide bei älteren Menschen häufig sind, ist das Risiko von unerwünschten kognitiven Wirkungen und Delir bei der Kombination von Azetylcholinesterasehemmern und antimuskarinischen Wirkstoffen immer zu beachten.
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Tabelle 2: Medikamente bei Reizblasensyndrom
Antimuskarinisch wirkende Anticholinergika:
Oxybutynin
3 x (2,5–)5 mg/Tag Langwirkende oder transdermale
Ditropan®
Darreichungsformen (in der CH nicht
erhältlich) haben weniger Nebenwirkungen
Tolterodin
Lang- und kurzwirkende Darreichungsform
Detrusitol®
2 x (1–)2 mg/Tag
hat ähnliche Wirksamkeit
Detrusitol® SR
1 x 4 mg/Tag
Trospiumchlorid
2 x 20 mg/Tag
Quaternäre Stickstoffverbindung, die die
Spasmo-Urgenin® Neo
Blut-Hirn-Schranke nicht durchquert:
weniger kognitive Nebenwirkungen?
Vaginale Östrogenpräparate (für Frauen):
Estriol, z.B:
Ortho-Gynest® D
2 x 1 Ovulum/Wo,
Ovestin®
nach 3 Wochen nur
1 x 1 Ovulum/Wo
Estradiol, z.B.
Estring®
Ring alle 90 Tage
wechseln
Lokale vaginale Präparate sind wahrscheinlich effektiver als orales Östrogen, definitive Daten dazu fehlen aber
Alphaantagonisten (für Männer):
Alfuzosin
Xatral® 2,5 mg
3 x 2,5 mg/Tag
Xatral® Uno
1 x 10 mg/Tag
Tamsulosin
Omix® 0,4
1 x 1 Tabl./Tag
Pradif® 400 µg ret. 1 x 1 Tabl./Tag
Terazosin
Hytrin®
1 x 1 mg/Tag, dann
1 x 2 mg/Tag, dann
auf 5–10 mg/Tag
steigern
Andere:
Imipramin
Tofranil®
3 x 10–20 mg/Tag
Desmopressin Minirin® Nocutil®
1 x 20–40 µg/Tag intranasal vor dem Zubettgehen
Alphaantagonisten sind nützlich bei benigner Prostatavergrösserung Orthostat. Hypotonie kann als unerwünschte Wirkung ein Problem sein
Langsame Anpassung der Dosis!
Kann bei gemischter Drang- und Stressinkontinenz nützlich sein (Cave orthostat. Hypotonie, Herz)
Bei primärer Enuresis von Kindern. Bei älteren Erwachsenen erfordert Hyponatriämiegefahr Überwachung der Serum-Natrium-Spiegel
Bei relativ gesunden älteren Patienten hatten die antimuskarinisch wirkenden Anticholinergika in klinischen Studien zwar keine grösseren Auswirkungen auf die Kognition, subtilere Störungen könnten dennoch auftreten.
Quantitative EEG-Daten scheinen darauf hinzuweisen, dass Oxybutynin mehr zentralnervöse Effekte hat als Trospiumchlorid oder Tolterodin. Unter den vielen Anticholinergika haben nur Oxybutynin, Trospiumchlorid und Tol-
terodin den höchsten Grad der klinischen Empfehlung und Wirksamkeitsevidenz nach internationalen Kriterien. Die kurzwirksame Darreichungsform von Oxybutynin (sie allein ist in der Schweiz erhältlich) führte bei 60 bis 80 Prozent der Studienteilnehmenden zu einer signifikanten Reduktion von über 50 Prozent der Dranginkontinenzepisoden, war aber durch häufige Nebenwirkungen belastet. Tolterodin liegt in einer kurzwirksamen Form und als Darreichungsform mit verzögerter Freisetzung vor. Beide haben sich in mehrfachen randomisierten, kontrollierten Studien als gegen die Reisblasesymptome signifikant und klinisch relevant wirksam erwiesen. Mundtrockenheit als unerwünschte Wirkung ist häufig (20–25%), die Absetzrate wegen Nebenwirkungen ist aber derjenigen für Plazebo (5–6%) ähnlich. Tolterodin scheint sowohl bei jüngeren als auch bei älteren Patienten ähnlich wirksam zu sein. Die Effektivität in Kombination mit verschiedenen Verhaltensinterventionen ist ebenfalls dokumentiert. Randomisierte, kontrollierte Studien weisen auch Trospiumchlorid als wirksame Therapie bei Dranginkontinenz aus, bei weniger Nebenwirkungen als kurzwirkendes Oxybutynin. Bei älteren Frauen mit Reizblasesymptomatik und gemischter Drang-Stress-Inkontinenz ist das Trizyklikum Imipramin empfohlen worden, dem anticholinerge und alpha-adrenerge Eigenschaften und möglicherweise ein zentraler Effekt auf die Entleerungsreflexe zukommen. Orthostase- und kardiale Probleme sind allerdings zu beachten. Postmenopausale Frauen mit hyperaktiver Blase werden oft mit oralem oder topischem Östrogen behandelt, obwohl nur wenige Daten die Wirksamkeit gegen diese Symptome belegen, so Ouslander. Bei Männern überlappen die Reizblasesymptome mit denjenigen der benignen Prostatahyperplasie. In der Praxis hängt das Vorgehen von mehreren Faktoren ab: der subjektiven Belästigung durch die Symptome, den Behandlungswünschen des Patienten, der Risiko-Nutzen-Abschätzung und den Vorstellungen des Arztes.
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Männer mit Reizblasesymptomen, bei denen ein Prostatakarzinom und eine signifikante Obstruktion ausgeschlossen wurden, können initial mit Alphablockern behandelt werden. Unter dieser Therapie bessern sich die Symptome der hyperaktiven Blase eher als diejenigen der Abflussbehinderung. Angesichts der Gefahr orthostatischer Probleme soll anfänglich langsam auftitriert werden, und die Therapie ist besonders bei Patienten, die schon Antihypertensiva einnehmen, sorgfältig zu überwachen. Bei Männern, die Alphablocker nicht vertragen oder bei denen sie nicht befriedigend wirken und die nicht Kandidaten für einen chirurgischen Eingriff sind, ist ein Therapieversuch mit einem Anticholinergikum gerechtfertigt. Besonders zu beachten ist das Risiko für Harnverhalt. Weitere Forschung sollte abklären, ob Alphablocker und Anticholinergika allein oder kombiniert oder auch zusammen mit Verhaltenstherapie die geeignete Therapieoption bei Männern mit hyperaktiver Blase sind, schreibt Joseph G. Ouslander.
Die Nykturie ist für betroffene Frauen und Männer oft das am meisten störende Symptom der Reizblase. Hier muss nach weiteren Faktoren (nächtliche Polyurie, Schlafapnoe) gesucht werden. Eine primär auf einer Detrusorhyperaktivität beruhende Nykturie kann mit einem Anticholinergikum behandelt werden. Eine nächtliche Polyurie wegen Volumenüberlastung bei kongestiver Herzinsuffizienz oder venöser Insuffizienz mit peripheren Ödemen kann auf eine geringe Dosis eines rasch wirkenden Diuretikums am Nachmittag ansprechen. Desmopressinpräparate sind für Kinder mit nächtlicher Enuresis zugelassen. Zur Demospressinverabreichung bei Erwachsenen liegen widersprüchliche, teils aber auch ermutigende Resultate vor. Aufgrund ihres Wirkungsmechanismus ist auch für etliche weitere Wirkstoffe ein Nutzen bei Reizblasesymptomen postuliert worden, beispielweise Kalziumantagonisten, Prostaglandinsynthesehemmer, GABA-Rezeptoragonisten oder Botulinumtoxin. Randomisierte klinische Studien
fehlen aber. Der Dopaminagonist Pergolid
(Permax®) kann bei Parkinsonpatienten
auch auf Reizblasesymptome wirken.
Von Interesse sind auch zwei neue Anti-
cholinergika, die selektiver am muskarini-
schen M3-Rezeptor wirken sollen (Darife-
nacin [Emselex®] und Solifenacin [Vesicur®],
beide in der Schweiz noch nicht im Han-
del). Im Lauf des nächsten Jahres soll
ferner der Serotoninagonist Duloxetin
(Yentreve®) auch in der Schweiz einge-
führt werden.
q
Joseph G. Ouslander (Division of Geriatric Medicine and Gerontology, Wesley Woods Center of Emory University, Atlanta/USA): Management of overactive bladder. New Engl. J. Med. 2004; 350: 786–799.
Halid Bas
Interessenlage: Interessenkonflikte werden in der Originalpublikation nicht deklariert.
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