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Engel – nicht nur zur Weihnachtszeit
Untertitel
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Statt eines Gute-Nacht-Gebets rezitierte meine Grossmutter, eine Suffragette, gern die Arie aus der Oper «Hänsel und Gretel». Sie betonte, dass dieses Libretto von einer Frau sei, von Adelheid Wette, der Schwester Humperdincks. Deren Worte «Abends wenn ich schlafen geh/14 Engel mit mir gehen/zwei zu meiner Rechten…» war so beruhigend, dass ich bestens einund durchschlief. 14 überirdische Bodyguards – das hatten noch nicht mal die Bee Gees!
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Rubriken — ARSENICUM
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Engel – nicht nur zur Weihnachtszeit

Statt eines Gute-Nacht-Gebets rezitierte meine Grossmutter, eine Suffragette, gern die Arie aus der Oper «Hänsel und Gretel». Sie betonte, dass dieses Libretto von einer Frau sei, von Adelheid Wette, der Schwester Humperdincks. Deren Worte «Abends wenn ich schlafen geh/14 Engel mit mir gehen/zwei zu meiner Rechten…» war so beruhigend, dass ich bestens einund durchschlief. 14 überirdische Bodyguards – das hatten noch nicht mal die Bee Gees! Hingegen entsprach Maria Luise Thurmairs Gebet «Lasst uns den Engel preisen/der wie ein Bruder still/auf Erden mit uns reisen/und uns behüten will» weder meinem Engelbild noch dem Charakter meines Bruders. Der war weder still noch behütend. Aber er laubsägte und trug so zum weihnachtlichen Massenanflug himmlischer Herrscharen bei uns zu Hause bei. Selbst unsere hugenottische Familientradition konnte nicht verhindern, dass allüberall Engel waren: aus Keramik, Fimo, Porzellan, Papier und Metall. Grossvater, ein reformierter Pastor, lehnte solch katholischen Schnickschnack ab. Trotz Psalm 91, Lukas 1, und Offenbarung 12 und 15 glaubte er nicht an Engel. Doch er reagierte ungnädig, als Amtsbruder Rudolf Bultmann die Engel als «metaphysische Fledermäuse» verulkte. Ein Theologe solle nicht über etwas schnöden, das seine Schäfchen läutere und glücklich mache. Das dachten sich

auch die Hollywood-Produzenten, als ihnen diverse Engel-Filme mit Nicholas Cage, John Travolta, Farah Fawcett-Majors, Kate Jackson, Jaclyn Smith, Cameron Diaz, Drew Barrymore und Lucy Liu Millionen einspielten. Engel sind nicht nur ein wertschöpfender Faktor, sondern ein Faktum: Es gibt sie! Auf Erden! Zum Beispiel Helena*. Die Direktorin eines Weltkonzerns ist unter anderem Frauenbeauftragte und Anti-Mobbing-Expertin. Sie soll Harmonie erhalten – in einer hoch kompetitiven Firma mit ehrgeizigen Menschen, welche Leistungslöhne erhalten und aus verschiedensten Kulturen kommen. Sie muss Flügel haben für die Gratwanderung, Schwache zu schützen und Starken die Stirn zu bieten, ohne eine der Parteien gegen sich aufzubringen und selbst zu stolpern. Nebst engelsgleicher Geduld hat sie auch noch himmlischen Humor. Genau wie Vivian*, eine Mütterberaterin. Täglich korrigiert sie liebevoll die Fehler unerfahrener Mamas. Gibt ihnen die Gewissheit, dass sie es goldrichtig machen und ihr Kind ein Schatz ist. Oder Daniel*, ein Anwalt, der auch mittellosen Menschen am Rande der Gesellschaft zu ihrem Recht verhilft. Oder Ueli*, der ehrenamtliche Pilzkontrolleur. Bei Wind und Wetter auf dem Marktplatz, tags und nachts auf Pikett. Überredet Sammler diplomatisch, die Knollis herzugeben und instruiert sie über Lamellenformen. Ein Engel auch die

SBB-Kondukteurin, die beide Augen zudrückte, als zwei unglückliche Teenager nicht mehr genug Geld für das Billett nach Hause hatten. Oder der Mitreisende, der mir die im Zug vergessene Fototasche nachtrug, obwohl er so seinen Zug verpasste. Der Elsässer Garagist, der dem jungen Mann die Karre mit Motorschaden nicht nur transportfähig machte, sondern ihn zu einer heissen Suppe einlud. Thomas von Aquin teilte die Engel in drei Hierarchien mit jeweils drei Chören ein. Hildegard von Bingen schlug ein 2-5-2Schema vor. Aber in Wirklichkeiten tragen Engel weder Rang- noch Funktionsabzeichen, und sie tun mehr, als nur zu frohlocken. Man erkennt sie an ihren Taten. Sie sind überall präsent: Beschützende Bürger, nette Nachbarn und freundliche Fremde. Manche sind immer, manche nur ab und zu Engel. Bengel mutieren gelegentlich zu Engeln. Aber andererseits sind auch Erzengel mal blau. Gütige Grundversorger haben ebenfalls einen Nimbus. Zu Recht, meine ich – sie sind Schutzengel ihrer Patienten. Mein Weihnachtswunsch? Dass sie nicht in die Luft gehen oder gar endgültig die Flatter machen. Dass man weiterhin an sie glaubt und sie allen Patienten erhalten bleiben mögen.
*Der richtige Name ist der Redaktion bekannt.

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