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Titel
Schöne, neue, medikalisierte Gefühlswelt
Untertitel
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Lead
Unsere Arztkollegen in den Niederlanden sind – wie schon so oft – der Zeit voraus: Sie luden den Soziologen Prof. Frank Furedi als Vortragenden zu ihrem ärztlichen Jahreskongress ein. Und der Professor zog schwer vom Leder gegen den Zeitgeist, der uns alle zu chronisch Kranken macht. Wie bei einem Geisteswissenschaftler aus Canterbury zu erwarten, glossierte er mit spitzen Worten den gängigen (Un-)Sinn, sämtliche Gefühle zu medikalisieren.
Datum
Autoren
-
Rubrik
Rubriken — ARSENICUM
Schlagworte
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Artikel-ID
12009
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Schöne, neue, medikalisierte Gefühlswelt

Unsere Arztkollegen in den Niederlanden sind – wie schon so oft – der Zeit voraus: Sie luden den Soziologen Prof. Frank Furedi als Vortragenden zu ihrem ärztlichen Jahreskongress ein. Und der Professor zog schwer vom Leder gegen den Zeitgeist, der uns alle zu chronisch Kranken macht. Wie bei einem Geisteswissenschaftler aus Canterbury zu erwarten, glossierte er mit spitzen Worten den gängigen (Un-)Sinn, sämtliche Gefühle zu medikalisieren. In der englischsprachigen Welt, so Furedi, gäbe es inzwischen eine «Therapiekultur», welche jedwelche Krisen, Hindernisse und Herausforderungen, die eigentlich früher mal zum normalen Leben gehörten, als therapiebedürftigen GAU hochstilisiere und eine Heilattacke von selbst ernannten Profihelfern und Leistungen der Sozialversicherungen auslöse. Das Zauberwort laute «geringes Selbstwertgefühl», welches inzwischen den Status einer eigenständigen Diagnose mit grossem Leidensdruck errungen habe. Es werde nicht nur mehr als sekundäres Symptom sozialer Missstände wahrgenommen, welches als Folge von Armut, Rassismus oder Gewalt aufträte. Zusammen mit den inflationär benutzten Schlagworten «Selbstachtung» und «Selbstvertrauen» beherrsche es sowohl Mediensprache wie Behörden-Verlautbarungen. Getreu der kabarettistischen Tradition von George Mikes hielt Furedi dem Publikum den Zerrspiegel vor. Oder war es etwa gar kein Zerrspiegel, sondern ein präzises Abbild unserer aus den Fugen geratenen Lebensoptik? Ein Panoptikum von zeitgeistgeschädigten Schiessbudenfiguren? All die Diagnostiker, die täglich ein neues Befindlichkeitssyndrom erfinden. All die gut daran verdienenden Therapeuten, die auf jeden Seelenfurz lauern, um diesen dann noch aufzublähen. All die genüsslich leidenden

Betroffenen, deren Lebensinhalt ausschliesslich noch ihre diversen Boboli und Leiden sind. Nicht zu vergessen die Selbsthilfegruppen, die sorgfältig allfällige Wehwehchen auflisten, um daraus ein Syndrom zusammenzupuzzeln, welches dann gemeinsam lebenslang «aufgearbeitet» wird. Und natürlich die gebeutelten Eltern, die hoffen, dass mal wieder eine neue mentale Störung von willfährigen Kinderpsychologen konstruiert wird. Denn nur dann können sie ihre Sprösslinge mit dem Prädikat «hyperaktiv» versehen und mit Ritalin therapieren, statt die Wildfänge als altersgemäss wild und aus dem Ruder gelaufen zu erkennen und wieder mal zu erziehen. Pubertätstypische Faulheit wird nicht mit einem häuslichen Donnerwetter angegangen, sondern als schicksalshafte «Schreib-, Lese- und Rechenschwäche» resignierend zur Kenntnis genommen. Sind wir als Individuen wirklich so wenig belastbar? Ist jedermann tatsächlich so unfähig, seine eigenen Probleme anzugehen? Sind unsere gesellschaftlichen Bindungen denn zu wenig tragfähig, um mal ein Mitglied der Gemeinschaft aufzufangen, das kurz den Tritt verloren hat? Das waren Furedis provokative Fragen. Ist jeder, der mal über eine Kränkung eine Nacht lang schläft und sie dann vergisst, bereits ein Verdränger, der «zu macht» und sich der dringend notwendigen Therapie verweigert? Dürfen die vermeintlichen professionellen Helfer allen anderen Vertrauenspersonen im persönlichen Umfeld von jemandem, der ein Problem hat, die Kompetenz absprechen, mit ihm zusammen das Problem zu lösen? Als «Kompetenz» definierte Furedi dabei sowohl die Befugnis wie auch das Können, sich der Kümmernisse von guten Freunden, vom Partner/von der Partnerin oder von

lieben Verwandten mit Sachverstand und Erfolg anzunehmen. Er rief dazu auf, sich diese Kompetenz nicht wegnehmen zu lassen, sich dagegen zu wehren, dass jedes private Problem, welches besser unter vier Augen erkannt und gelöst würde, zu entprivatisieren und zu delegieren. Er zeigte die Gefahr auf, wenn jedes Tief im Leben zu einer Katastrophe verzerrt wird, die nur ein Overkill von therapeutischem Einsatz lindern könne. Krankheit und Krisen, so Furedi, werden heutzutage nicht mehr als vorübergehender Zustand wahrgenommen, aus dem man gestärkt und geheilt hervorgeht, sondern als lebenslanges Joch, welches nicht mehr abgeschüttelt werden kann. Jedoch verklärt und veredelt es den Leidenden, der es wie ein von höheren Mächten verliehenes Stigma stolz trägt. Alles Blödsinn, so Furedi. Eine gefährliche Entwicklung, die dahin führe, dass unsere Gesellschaft bald nur noch aus Therapierten, Therapierenden und Noch-nicht-Therapierten, doch eigentlich Therapiebedürftigen besteht. Früher, so witzelte er, entdeckte ein Mensch einen suspekten Knubbel, der Hausarzt biopsierte, der Pathologe fand maligne Zellen, der Chirurg schnitt den gesamten Tumor heraus und der Patient betrachtete sich dann als geheilt, was ihm sein Hausarzt bestätigte. Heute bezeichnen sich Leute, denen ein Basaliom im Gesunden exzidiert wurde, auch noch zwanzig Jahre danach als «Krebsüberlebende». Inspirierend und unterhaltsam war der Vortrag. Möglicherweise sollte man prüfen, ob der Rosenfluh-Verlag nicht eine Selbsthilfegruppe für die Menschen ins Leben rufen sollte, die durch die Lektüre von Arsenicum-Satiren in ihrem Selbstwertgefühl tangiert wurden und unter einem Arsenicum-Syndrom leiden.

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