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Otitis media
Ursachen, Diagnose und Therapie
THE LANCET
Die Otitis media ist eine der
häufigsten Infektionskrank-
heiten im Kleinkindesalter. In
einem Übersichtsartikel im
«Lancet» diskutiert eine Au-
torengruppe aus Pädiatern
und Hals-Nasen-Ohren-Ärzten
verschiedene Fragen zu Ätio-
logie, Diagnostik und Thera-
pie der Mittelohrentzündung.
Die Häufigkeit der akuten Mittelohrentzündung und die hohe Spontanheilungsrate geben Anlass zu der Interpretation, dass es sich bei der Erkrankung um ein «natürliches» Phänomen handelt, welches so unausweichlich auf Kleinkinder zukommt wie eine Erkältung. Die Otitis media lässt sich durchaus als Teil eines Reifungsprozesses des kindlichen Immunsystems verstehen. So gäbe es folglich Grund genug, die Infektion symptomatisch zu bekämpfen und ansonsten der Natur ihren Lauf zu lassen, wären da nicht die seltenen Komplikationen, wie die Mastoiditis, die davor zurückschrecken lassen. Nicht zuletzt der Hörverlust, der womöglich die Entwicklung des Kindes beeintächtigen kann, lassen das Bedürfnis nach einer spezifischen Therapie aufkom-
men. Allerdings hat sich gezeigt, so die «Lancet»-Autoren, dass die Behandlung mit Antibiotika und operative Massnahmen nur einen sehr begrenzten Effekt haben. Vor allem die Antibiotika können potenziell Schaden anrichten, wobei nicht nur Nebenwirkungen zu bedenken sind, sondern auch die Zunahme von Antibiotikaresistenzen durch einen massiven Antibiotikaeinsatz. Angesichts dieser Situation, so die Autoren, bleibe die Otitis media eine Herausforderung für die behandelnden Ärzte und das richtige Vorgehen zum Teil Gegenstand von Kontroversen. In ihrem Beitrag gehen die Pädiater auf verschiedene Aspekte der Otitis media ein, die im Folgenden vorgestellt werden sollen.
Welche Otitisformen gibt es?
Die akute Otitis media ist eine schmerzhafte Entzündung der Schleimhäute des Mittelohres, die zumeist durch eine aufsteigende Infektion über die Tuba Enstachii ausgelöst wird. Die Erkrankung beginnt plötzlich mit starken Ohrschmerzen, Fieber, Schwerhörigkeit, auch Ohrensausen und Schwindel können auftreten. Eine Otitis media mit Paukenerguss ohne Entzündungszeichen kann der akuten Otitis media als Restsymptom folgen oder auch de novo entstehen. Die betroffenen Kinder haben dann oft leichte Höreinbussen, die vom Ausmass des Ergusses abhängen. Eine chronische Otitis media liegt vor, wenn eine Mittelohrentzündung über Monate anhält, wobei eine Perforation des Trommelfells und ein eitriges Sekret möglich sind. Von einer rezidivierenden Otitis media spricht man, wenn drei oder mehr Krankheitsepisoden im halben Jahr oder vier oder mehr Episoden im Jahr auftreten.
Merk-
sätze
q Die akute Otitis media heilt bei 80 Prozent der betroffenen Kinder spontan aus.
q Bei unkomplizierter Mittelohrentzündung empfiehlt sich, in den ersten 2 bis 3 Tagen zunächst nur analgetisch zu behandeln. Antibiotika kommen in Betracht, wenn sich die Symptome in diesem Zeitraum nicht gebessert haben.
q Wichtig ist eine gute Überwachung der Patienten. Kinder unter 2 Jahren sollten am nächsten Tag erneut gesehen werden, ältere Kinder nach 2 bis 3 Tagen.
q Ein Paukenerguss ohne Entzündungszeichen kann über Monate und Jahre bestehen und erfordert im Allgemeinen Kontrollen, aber keine Therapie.
q Bei rezidivierender Otitis media kann das Einlegen eines Paukenröhrchens oder die Adenektomie sinnvoll sein.
q Grippe- und Pneumokokkenimpfung haben gewisse präventive Effekte.
q Antihistaminika und schmerzstillende Ohrentropfen werden nicht empfohlen.
Die Grippe-Otitis durch Influenzaviren ist eine Sonderform, die sich otoskopisch durch Blutbläschen im Gehörgang und auf dem Trommelfell zu erkennen gibt.
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Otitis media
Wie häufig ist eine Otitis media?
Im Alter von drei Jahren haben bis zu 85 Prozent aller Kleinkinder mindestens eine akute Otitis media durchgemacht. Auch wiederholte Episoden sind besonders im ersten Lebensjahr häufig (10–20%). Populationsbasierte Studien aus den USA und Finnland haben den Eindruck entstehen lassen, dass die Infektion in den letzten zehn bis zwanzig Jahren immer häufiger vorkommt. Allerdings setzen die Autoren hinter diese Annahme ein Fragezeichen und mahnen zur Vorsicht bei der Interpretation der einschlägigen Erhebungen. Änderungen in der Gesundheitsversorgung, in der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe sowie eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Erkrankung könnten die Ergebnisse beeinflusst haben.
Welche Ursachen gibt es?
Die Otitis media wird als multifaktorielle Erkrankung angesehen. Primär ist sie eine Infektionskrankheit, deren Auftreten und Verlauf sich aus dem Angriff von Erregern und der Antwort des Immunsystems ergeben. Je nach Region und Patientenalter kommen unterschiedliche Erreger in Betracht. Häufig gefundene Bakterien sind S. pneumoniae, M. catarrhalis und H. influenzae. Viren scheinen in wachsendem Mass als Ursache in Frage zu kommen. Grundsätzlich kommen alle respiratorischen Viren als Erreger in Betracht, zumeist sind es das Respiratory Syncytical Virus und verschiedene Rhinoviren. Die Bedeutung der Viren wird aber weiter kontrovers diskutiert, insbesondere was die Begünstigung bakterieller Superinfektionen angeht. Für das Auftreten der Otitis im Kleinkindesalter sind aber weitere Faktoren ausschlaggebend: Die mangelnde Ausreifung der noch kurzen Eustachischen Röhre und ihr horizontaler Verlauf begünstigen offenbar einen aufsteigenden Infekt ins Mittelohr. Auch dürften genetische Faktoren für die Anfälligkeit bedeutsam sein, wie die Zwillingsforschung ergeben hat. An der Disposition sind wahrscheinlich zahl-
Tabelle: F a k t o r e n , d i e d a s Risiko für Otitis media
erhöhen
q Unterbringung in Kindertagesstätten
q Rauchende Familienmitglieder
q Mehrere Geschwister
q Otitis media bei anderen Familienmitgliedern
q Gebrauch von Schnullern
q Verzicht auf das Stillen in den ersten drei Monaten
reiche Gene beteiligt. Wesentlich sind zudem Umweltfaktoren, die das Erkrankungsrisiko erhöhen (Tabelle).
Wie wird die Diagnose gestellt?
Eine akute Otitis media tritt fast immer zusammen mit einem Atemwegsinfekt auf. Die Patienten haben deshalb Allgemeinsymptome wie Husten, Schnupfen, Kopfschmerzen, Fieber, sie sind appetitlos, reizbar oder klagen über Bauchweh. Lokal treten Ohrenschmerzen, Hörminderung und Völlegefühl im Ohr auf. Manchmal klagen die Patienten auch über Tinnitus. Es ist wichtig zu wissen, dass gerade bei Säuglingen die Allgemeinsymptome überwiegen oder aber Ohrenschmerzen von den Kleinen nicht angezeigt werden können. Die Untersuchung des erkrankten Ohres basiert auf der Otoskopie, wobei die pneumatische Otoskopie zuverlässigere Ergebnisse liefert als die herkömmliche Otoskopie, weil mit ihr auch die Trommelfellschwingungen beurteilt werden können. Die pneumatische Otoskopie hat eine Sensitivität von über 90 Prozent, bei einer Spezifität von 80 Prozent. Die Tympanometrie ist eine Untersuchung, mit der ebenfalls die Beweglichkeit des Trommelfells ermittelt wird. Gemessen wird dabei mit einer Sonde der Schallwiderstand des Trommelfells, der sich aus der Schwingungsfähigkeit von Trommelfellmembran und Gehörknöchelchen ergibt. Die Unter-
suchung kann durch Schreien und Weinen der Kinder verfälscht werden. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass ein gerötetes oder mattes Trommelfell die Diagnose einer Mittelohrentzündung nicht erlaubt. Entscheidend ist der Nachweis eines Paukenergusses, der sich zeigt anhand eines vorgewölbten Trommelfells, eines Flüssigkeitsspiegels und verminderter Trommelfellbeweglichkeit.
Watchful Waiting oder sofort Antibiotika?
Nach verschiedenen Metaanalysen heilen 80 Prozent der Otitiden innert spätestens 14 Tagen spontan ab. Bei unter Zweijährigen ist die Datenlage weniger sicher, allem Anschein nach gilt die Aussage aber auch für sie. Komplikationen sind insgesamt selten. Ob sie sich durch frühzeitige Antibiotikatherapie signifikant lindern lassen, ist ausgesprochen fraglich, wie randomisierte Studien gezeigt haben. Rein rechnerisch kann die Gefahr einer Mastoiditis durch Antibiotikatherapie nur um bestenfalls 2 Fälle auf 100 000 Personenjahre gesenkt werden – ein Effekt, der gegen die Behandlungsrisiken abgewogen werden muss, also etwa allergische Reaktionen, bakterielle Resistenzentwicklung oder gastrointestinale Nebenwirkungen. Antibiotika können zudem nicht nur ihre Wirksamkeit verfehlen, indem die Elimination der Keime misslingt, sie können gelegentlich auch eine Superinfektion hervorrufen, etwa in Gestalt resistenter Pneumokokken aus dem Nasopharynx. Aus diesen Gründen ist man heute mit der sofortigen Antibiotikaverschreibung zumeist sehr zurückhaltend. Das Zuwarten im Hinblick auf den Antibiotikaeinsatz ist nicht mit therapeutischer Abstinenz zu verwechseln. Gerade zu Beginn der Erkrankung kommt es darauf an, den kleinen Patienten ihre Schmerzen zu nehmen. Hierfür kommen zwei Substanzen in Frage, nämlich Paracetamol (z.B. Ben-u-ron®) als Suppositorien oder als orale Suspension. Mindestens so wirksam und vergleichbar verträglich ist Ibuprofen (z.B. Brufen®), das als Saft für Säuglinge ab sechs Monaten zur Verfügung steht. Andere Substanzen,
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Otitis media
wie Antihistaminika, sind ebenso wirkungslos wie analgetische Ohrentropfen. Abschwellende Nasentropfen haben nur einen marginalen Effekt und dürfen keinesfalls über längere Zeit verabreicht werden. Bei einer unkomplizierten akuten Otitis media wird heute zumeist zu einer analgetischen Therapie in den ersten beiden Tagen geraten. Kinder unter zwei Jahren wird der behandelnde Arzt am nächsten Tag einbestellen, ältere Kinder sollten sich nach zwei bis drei Tagen wieder vorstellen. Erst wenn die Beschwerden dann noch nicht rückläufig sind, ist ein Antibiotikum angezeigt. Als Medikament der Wahl gilt Amoxicillin (z.B. Clamoxyl®, Supramox®). Bei Nichtansprechen beziehungsweise bei Hinweisen auf eine erhöhte Betalaktamasebildung ist Amoxicillin/Clavulansäure (Augmentin®) angezeigt, bei Penicillinallergie werden Makrolide, wie etwa Azithromycin (Zithromax®), oder das Cephalosporin Cefuroxim (z.B. Zinat®) empfohlen. Die Behandlung muss im Allgemeinen nicht länger als fünf Tage durchgeführt werden, bei Azithromycin reichen drei Tage. Nach Untersuchungen aus den Niederlanden, wo dieses Vorgehen weithin praktiziert wird, müssen etwas weniger als ein Drittel der Patienten letztlich mit einem Antibiotikum versorgt werden. Die abwartende Antibiotikaverschreibung gilt allerdings ausdrücklich nicht für Kinder, deren Immunsystem geschwächt ist, die sich in einem erheblich reduzierten Allgemeinzustand befinden, die fortwährend erbrechen oder Meningismuszeichen aufweisen. Auch Kinder, bei denen bereits frühzeitig Komplikationen eintreten oder die bereits früher eine komplikationsträchtige Otistis durchgemacht haben, sind von Beginn an mit Antibiotika zu behandeln.
Ein Paukenerguss kann nach Abheilung der akuten Erkrankung noch Wochen und Monate fortbestehen und bildet sich in aller Regel von allein zurück. Eine Antibiotikatherapie (die über einen Zeitraum von zehn Tagen erfolgt) sollte, wenn überhaupt, nicht vor Ablauf eines Vierteljahres erwogen werden. Längere und wiederholte oder prophylaktische Antibiotikaverschreibungen sind nach Meinung der Autoren ungeeignet.
Was bringen Tympanotomie und Adenektomie?
Mit operativen Massnahmen wie dem Einlegen eines Paukenröhrchens oder der Adenektomie lassen sich durchaus objektivierbare Verbesserungen erzielen. Kinder, die nach wiederholten Otitiden ein Paukenröhrchen erhalten, haben in der Folge seltener Otitiden und Paukenergüsse. Die Hörverbesserungen sind aber zumeist nur von kurzer Dauer. Die Adenektomie reduziert die Inzidenz akuter Otitiden statistisch um 0,3 Episoden pro Kind und Jahr. Der Erfolg des Eingriffs kann aber im Einzelfall sehr unterschiedlich ausfallen. Die geeigneten Patienten auszuwählen – darin besteht die Kunst. Man wird sich eher für den Eingriff entscheiden, wenn starke Symptome vorherrschen (Otalgie, Hörverlust) und die Entwicklung des Kindes gefährdet scheint. Mit anderen Worten: Ein Kind mit chronischem beidseitigen Paukenerguss, das sich normal entwickelt, kann ohne weiteres Monate oder Jahre beobachtet werden, bis sich die Erscheinungen schliesslich zurückgebildet haben. Sehr langes Zuwarten bei Kindern mit assoziiertem Hörverlust wird hingegen nicht empfohlen. Die Autoren empfehlen folgende
Marschroute: Zunächst Myringotomie (Parazentese) oder Tympanotomie mit Einlegen eines Paukenröhrchens, eine Adenektomie erst, wenn eine nasale Obstruktion auftritt. Eine Tonsillektomie sollte solange nicht erfolgen, wie nicht eine andere Operationsindikation besteht, beispielsweise rekurrierende Tonsillitiden oder eine Racheneinengung.
Ist eine Prävention möglich?
Eine Vorbeugung ist in begrenztem Mass
möglich durch Impfung gegen Pneumo-
kokken und Influenzaviren. Nach Pneu-
mokokkenimpfung gehen Studien zu-
folge akute Otitiden um 8 Prozent zurück,
und rezidivierende Otitiden treten um
10 bis 25 Prozent seltener auf. Auch die
Influenzaimpfung zeigt Erfolge: Grippe-
geimpfte Kinder werden während der
Grippesaison seltener von einer Mittelohr-
entzündung geplagt, anschliessend je-
doch verpufft der Effekt. Möglicherweise
haben weitere Massnahmen gewisse prä-
ventive Effekte, wie die Gabe von Probio-
tika, Immunglobulinen, Neuraminidase-
hemmern. Erste positive Ergebnisse mit
diesen Substanzen müssen nach Auffas-
sung der Autoren aber noch bestätigt
werden.
q
Maroeska M. Rovers et al.: Otitis media. Lancet 2004; 363: 465–473.
Uwe Beise
Interessenkonflikte: keine deklariert
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