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Titel
«Psychische Probleme werden bei Epilepsiekranken oft unter den Tisch gekehrt»
Untertitel
Ein Gespräch mit Thomas Dorn und Reinhard Ganz über neuro-psychologische und psychiatrische Störungen von Epilepsiekranken
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Viele Epilepsiekranke leiden nicht nur unter den Anfällen, sondern auch unter psychischen oder psychiatrischen Störungen. Diese werden aber auch von Ärzten oft übersehen oder verdrängt, obwohl die Patienten gerade darunter am meisten leiden. Am Epilepsiezentrum Zürich arbeiten Neurologen und Psychiater zusammen. In einem Gespräch erörtern Dr. Thomas Dorn, der Neurologe, und PD Dr. Reinhard Ganz, der Psychiater, die psychische Dimension der Epilepsiekrankheit.
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MEDIZIN — INTERVIEW
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INTERVIEWq INTERVIEW

«Psychische Probleme werden bei Epilepsiekranken oft unter den Tisch gekehrt»
Ein Gespräch mit Thomas Dorn und Reinhard Ganz über neuropsychologische und psychiatrische Störungen von Epilepsiekranken

Viele Epilepsiekranke leiden nicht nur unter den Anfällen, sondern auch unter psychischen oder psychiatrischen Störungen. Diese werden aber auch von Ärzten oft übersehen oder verdrängt, obwohl die Patienten gerade darunter am meisten leiden. Am Epilepsiezentrum Zürich arbeiten Neurologen und Psychiater zusammen. In einem Gespräch erörtern Dr. Thomas Dorn, der Neurologe, und PD Dr. Reinhard Ganz, der Psychiater, die psychische Dimension der Epilepsiekrankheit.
ARS MEDICI: Herr Dorn, Epilepsien sind keine Geisteskrankheiten, wie wir seit langem wissen. Dennoch, sagen Sie, sind psychische Symptome bei Epilepsiekranken häufig und werden nicht selten ignoriert.

Dorn: Leider wird dieses Thema tatsäch-

lich gern unter den Tisch gekehrt. Dabei

nimmt jeder, der mit Epilepsiekranken zu

tun hat, doch wahr, dass es bei einigen

Epilepsiekranken Probleme im psychischen

oder neuropsychologischen Bereich gibt.

Oft haben diese Menschen dadurch

grosse soziale Probleme im Beruf oder in

der Partnerschaft. Aber das möchte man

nicht überall so gern wahrhaben und schiebt es lieber beiseite. Auch die Selbsthilfegruppen distanzieren sich stark von Selbsthilfegruppen mit psychiatrischem

Dr. Thomas Dorn (links) ist Leitender Arzt am Epilepsiezentrum Zürich, PD Dr. Reinhard Ganz (rechts) leitet die psychiatrische Abteilung der Klinik.

Inhalt. Zum Teil geht die Verleugnung

auch von Neurologen selbst aus. Sie ha- rie ihrerseits hat sich umgekehrt nach den

ben ja die Benachteiligung, die Stigmati- schlimmen Erfahrungen mit einer biolo-

sierung der Epilepsiekranken gespürt und gistischen Ausrichtung des Faches im

dazu beigetragen, die Patienten im Be- Dritten Reich bis vor kurzem vom Organi-

wusstsein der Öffentlichkeit aus der Ecke schen weg bewegt, sich auf die Psycho-

der Geisteskrankheiten herauszuholen. therapie verlegt, und gerade die Schweiz

Damit ist auch viel Gutes für die Patienten hat auf diesem Gebiet führende Vertreter

erreicht worden. Dennoch gibt es die hervorgebracht. Jetzt aber holt uns das

neuropsychologische und psychologisch- Problem der Trennung gewissermassen

psychiatrische Dimension bei Epilepsien. ein, weil wie gesagt neurologische Patien-

ten oft auch psychiatrische Beschwerden

ARS MEDICI: Warum tun sich denn die haben.

Neurologen mit den psychischen oder

psychiatrischen Anteilen dieser Krank- Ganz: Das können wir bei unseren Pati-

heit so schwer?

enten bestätigen. An erster Stelle stehen

Dorn: Das hat sicher auch historische dabei Depressionen. Allerdings stellen

Gründe. Die Neurologie hat sich für ihr diese sich oftmals anders dar, als wir es

Fachgebiet aus der Psychiatrie die

Erkrankungen herausgelöst, bei denen ein organisches Korrelat für psychiatrische Symptome zu finden war. Zu einem anderen Teil

“ Neurologen wollten die Epilepsiekranken zurecht vom Stigma der

ist die Neurologie aus der Inneren Medizin erwachsen. So ist es

Geisteskrankheit befreien und haben

möglich, dass dem Neurologen psychiatrische Aspekte bei seinen Patienten entgehen. Die Psychiat-

dabei die psychische Dimension der
”Erkrankung beiseite geschoben.

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von der Major Depression her kennen. Die Symptome sind zumeist subtiler und entgehen dem Arzt daher oft. Es handelt sich oft um Dysthymien, um somatoforme Störungen, um Reizbarkeit, Nervosität oder Aggressivität. Aber diese Störungen sind keinesfalls zu vernachlässigende Randphänomene. Im Gegenteil: Im Erleben der Epilepsiekranken hat die depressive Verstimmung den höchsten Stellenwert, sie schränkt ihre Lebensqualität oftmals viel gravierender ein als die Anfälle selbst. An zweiter Stelle stehen Probleme mit den medikamentösen Nebenwirkungen.
ARS MEDICI: Wie häufig kommen denn Depressionen bei Epilepsien vor? Ganz: Es gibt unterschiedliche Untersuchungen, die je nach Patientengut von 11 bis 80 Prozent sprechen. Sicher sind sie häufig bei Temporallappenepilepsien, die wiederum unter den Epilepsien eine grosse Bedeutung haben.
ARS MEDICI: Dennoch wird die depressive Symptomatik oft übersehen? Ganz: Wenn man sich mit dem Patienten eingehend beschäftigt und nachfragt, dann stösst man auf diese Probleme. Wir sind an unserer Klinik darauf sehr sensibilisiert. Hinzu kommt, dass unter den Neurologen wohl auch Ängste vorherrschen: Selbst wenn die Depression erkannt wird, gibt es die Sorge, die anstehende Behandlung mit Thymoleptika berge das Risiko, die Krampfschwelle zu senken. Allerdings ist diese Befürchtung im Grunde weitgehend überflüssig, wenn man vorsichtig vorgeht, einschleichend dosiert und nicht bis zur sonst üblichen Maximaldosis geht. Vor allem bei den neuen SSRI und verwandten Substanzen, wie Venlafaxin, ist das zumeist ganz unproblematisch.
ARS MEDICI: Aber es gibt doch Interaktionen zwischen Antiepileptika und Antidepresiva? Ganz: Das stimmt. Antidepressiva können inhibitorisch auf das Zytochrom-P-450-System wirken und in der Folge zu einem Anstieg des Serumspiegels von Antiepileptika führen.

Dorn: Mit den älteren Antiepileptika wer- ARS MEDICI: Medikamente allein sind

den umgekehrt auch die Wirkspiegel der aber nicht ausreichend. Was wird dem

Antidepressiva gesenkt, etwa bei der Kom- Patienten noch angeboten?

bination mit Carbamazepin. Da müssen Ganz: Selbstverständlich ist das Thera-

die Antidepressiva dann unter Umständen piekonzept umfassend und ganzheitlich

höher dosiert werden.

ausgerichtet, es schliesst soziale und psy-

chotherapeutische Massnahmen ein. Denn

ARS MEDICI: Und in all diesen Fällen soziale Stigmatisierung, das Ausgeliefert-

ist dann der Psychiater gefragt?

Sein, der Kontrollverlust, das alles kann ja

Ganz: In komplizierten Fällen schon. An- für die Betroffenen sehr belastend sein.

sonsten würde ich sagen: Nur Mut zur Wichtig ist auch die Aufklärung des Pati-

Therapie mit Antidepressiva, wenn sie er- enten über die Verwobenheit von Anfalls-

“ Es gibt Hinweise darauf, dass

leiden mit psychischen oder psychiatrischen Komponenten. Dorn: Ich möchte noch auf einen

die antidepressive Therapie auch
”das Anfallsleiden verbessert.

weiteren wichtigen neuropsychologischen Aspekt hinweisen. Das sind die progredienten Gedächtnisstörungen, die besonders bei Tempo-

forderlich ist! Und dann den Patienten ge- rallappenepilepsien mit mesiotemporaler

nau beobachten. Es geht darum, den be- Sklerose auftreten. Betroffen ist hier vor

handelnden Neurologen oder Hausärzten allem das episodische Gedächtnis. Der Pa-

die Ängste vor dieser Therapie zu nehmen. tient kann sich nicht an bestimmte Details

Es gibt heute übrigens sogar erste Hin- erinnern, weiss nicht, in welchem Hotel er

weise darauf, dass die Behandlung der kürzlich seinen Urlaub verbracht hat, wie

Depression auch zugleich das Anfallsleiden das Wetter gestern gewesen ist und so

günstig beeinflusst, eventuell sogar direkt weiter. Was das reaktiv im Selbstwertge-

durch die Antidepressiva – wenn sie nied- fühl des Patienten auslöst, kann man sich

rig dosiert werden. Das scheint für Trizyk- vorstellen. Das wiegt oft viel schwerer als

lika und für SSRI gleichermassen zu gelten, ein gelegentlicher Anfall. Dass so Betrof-

wie kleine Pilotstudien nahe legen. Kon- fene darüber traurig werden, ist leicht nach-

trollierte Studien wären auf diesem Gebiet vollziehbar. Solche Störungen können, wenn

dringend erforderlich. Aber es ist schwierig, sie ausgeprägt sind, auch zu Invalidität füh-

hierfür Geld zu bekommen. Viele Firmen ren, während die Anfälle selbst den Patien-

befürchten offenbar, die Antidepressiva ten je nach der ausgeübten Tätigkeit gar

könnten sich als prokonvulsiv erweisen. nicht nennenswert einschränken müssen.

ARS MEDICI: Diese Befürchtung ist aber doch nicht ganz aus der Luft gegriffen ... Ganz: Natürlich kann die «Krampfschwelle» sinken, aber im Regelfall nur, wenn hoch dosiert wird. Dorn: Ich meine auch, es besteht hier eine Überangst. Dass ein Patient mit schwerer Epilepsie, der etwa auf ein Antidepressivum oder Neuroleptikum eingestellt wird, plötzlich einen Anfall bekommt – das kommt natürlich vor. Es spielt aber in der Praxis keine grosse Rolle. Das sollte uns also nicht davon abhalten, eine antidepressive oder neuroleptische Therapie im individuellen Fall zu installieren.

ARS MEDICI: Wie oft kommt das vor? Dorn: Bei mesialer Temporallappenepilepsie sind Gedächtnisstörungen obligat, deren Ausmass aber interindividuell erheblich schwanken kann. Je länger die Erkrankungsdauer und je stärker die Anfallsaktivität, desto grösser sind im Allgemeinen die neuropsychologischen Ausfälle. Bei einzelnen Patienten können sich sogar Intelligenzeinbussen zeitigen. Diesen liegt nicht ein «Massensterben» von Neuronen nach Anfällen zugrunde, sondern vielmehr langsam fortschreitende Umbauvorgänge vor allem im Hippocampus, die sich heute in der Kernspintomografie darstellen lassen.

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Ganz: Man darf dabei aber auch nicht ausser Acht lassen, dass neuropsychologische Veränderungen auch von der Medikation beeinflusst werden. Dorn: Ja, eine bestehende neuropsychologische oder kognitive Einschränkung wird von den meisten Antiepileptika akzentuiert. Andererseits muss man aber bedenken, dass Anfälle vorübergehend auch vorbestehende neuropsychologische Funktionsstörungen verstärken können. Die Patienten brauchen manchmal nach einem Anfall zwei bis drei Tage, bis sie sich neuropsychologisch wieder auf das vorherige Niveau erholen. Hier kann die Behandlung der Epilepsie mit Antiepileptika unter dem Strich neuropsychologisch eine Verbesserung bedeuten. Die Zusammenhänge sind also recht kompliziert.
ARS MEDICI: Welche weiteren psychiatrischen Störungen gibt es? Ganz: Psychosen. Sie sind aber selten. 2 bis 9 Prozent der Menschen mit Epilepsie erleiden im Laufe des Lebens eine psychotische Episode. Sie tritt zumeist postiktal, oft nach Anfallsserien auf, nach einem luziden Intervall von ein bis drei Tagen. Vielfach dauern sie nur wenige Tage und verschwinden spontan wieder. Sie können aber auch über mehrere Wochen und Monate fortbestehen. Spätestens hier müssen dann Neuroleptika eingesetzt werden, wobei wir uns keine grosse Sorge wegen einer möglichen Senkung der «Krampfschwelle» machen müssen.
ARS MEDICI: Kann man prognostizieren, welche Patienten zusätzlich psychiatrische Symptome entwickeln werden? Dorn: Da gibt es schon Erfahrungswerte. Bei den therapieschwierigen Epi-
“ Neuropsychologische oder kognitive Störungen werden
von den meisten Antiepileptika
”akzentuiert.

“ Es gibt auch eine Last der Normalität. Sobald die Anfälle nach einem erfolgreichen epilepsiechirurgischen Eingriff

aufhören, folgt bei manchen die Flucht in die Krankheit –
”zum Beispiel in Form psychogener nicht-epileptischer Anfälle.

lepsien, also solchen, bei denen die erste und vielleicht auch zweite ausdosierte Monotherapie scheitert, ist auf längere Sicht mit psychiatrischer Komorbidität zu rechnen – vielleicht auch, weil bei ihnen eine ausgedehntere Hirnpathologie vorhanden ist. Selten kann eine Psychose auftreten, wenn mit Optimierung der antiepileptischen Pharmakotherapie Anfallsfreiheit erreicht wird («forcierte Normalisierung»).
ARS MEDICI: Was hat es mit psychogenen Anfällen auf sich? Ganz: Das ist auch ein wichtiges Thema. 10 bis 20 Prozent der Epilepsiepatienten haben zusätzlich nicht-epileptische, psychogene Anfälle. In der Allgemeinbevölkerung sind diese dagegen extrem selten. Dahinter stehen womöglich unbewusste Motive, welche eine Anfallssymptomatik entstehen lassen, etwa nach erfolgreicher Pharmakotherapie oder auch epilepsiechirurgischem Eingriff. Man kann dies manchmal als Verarbeitung der Last von Normalität nach langjährig erlernter Hilflosigkeit interpretieren. Es handelt sich dabei nicht um Simulation. Dorn: Tatsächlich bleibt der soziale Erfolg nach gelungener Therapie der Anfälle des Öfteren aus, weil dann immer noch die psychiatrische Dimension der Epilepsie besteht.
ARS MEDICI: Aber auch die Umwelt spielt eine Rolle, etwa die Situation am Arbeitsplatz. Dorn: Viel mehr Menschen sind heute in Berufen tätig, die intellektuell anspruchsvoller sind, zudem ist der ökonomische Druck viel grösser geworden. Da fallen manche aus dem Arbeitsprozess heraus, nur weil sie zu langsam sind und die Arbeitswelt sie nicht mehr mitträgt und kleine Defizite nicht mehr toleriert. Der

Mensch mit Epilepsie «funktioniert» unter den veränderten Bedingungen nicht mehr wie gewünscht. Wenn jemand früher einmal nach einem Anfall für einige Stunden oder Tage depressiv war, hat man das akzeptiert oder kaum zur Kenntnis genommen. Heute ist die Wahrnehmung und Beurteilung eine andere geworden. Das zeigt, dass die sozialen Auswirkungen psychiatrischer und/oder neuropsychologischer Symptome heute viel gravierender für die Betroffenen sind.
ARS MEDICI: Aber es gibt doch sicher auch den Epilepsiebetroffenen, der mit seiner Erkrankung gut lebt und keine weit reichenden Einschränkungen zu beklagen hat? Dorn: Den gibt es natürlich; wie häufig er ist, ist schwer zu ermessen. Wir sehen aufgrund der Aufgabenstellung unserer Spezialklinik solche Patienten natürlich
“ Manche fallen heute aus dem
Arbeitsprozess heraus, nur weil sie
zu langsam sind. Früher wurden
”kleine Defizite toleriert.
seltener. Aber grundsätzlich muss man sich darüber im Klaren sein: Wer mit chronisch Kranken zu tun hat – seien es Menschen mit Epilepsie oder etwa mit Diabetes –, hat auch mit Phänomenen wie Depression, dysfunktionaler Krankheitsverarbeitung, vielleicht auch Kankheitsgewinn zu tun.
ARS MEDICI: Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Interessenkonflikte: keine

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