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Kalender auf der Agenda
Untertitel
-
Lead
Novartis sei gedankt, dass mir ihr Werbegeschenk die Entscheidung abnimmt, welche Agenda benutzt wird. Das dickleibige Buch wirkt so kostbar (in Leinen gebunden!), dass meine MPAs es als schnöde Geldverschwendung ablehnen, eine andere Agenda zu kaufen. Die Doktor-Vasella-Firma vertraut darauf, dass der Doktor sich Zeit für seine Patienten nimmt: die Termin-Einteilung ist im 15-Minuten-Takt. Der zaghafte Einwand meiner Frau, ein DIN-A4-Quartalsheft böte doch mehr Raum, wird abgeschmettert: Das nähme auch mehr Platz auf dem Schreibtisch weg! Ausserdem würde es nicht das Hauptproblem lösen: die unleserliche Schrift des Praxisinhabers, welche die Patientenidentifikation verunmöglicht, wenn er Namen einschreibt. Meine Kinder spotten, dass ich der letzte Arzt in der Schweiz sei, der noch einen Papierkalender führt. Heutzutage organisiere man sich elektronisch.
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Rubriken — ARSENICUM
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11990
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Kalender auf der Agenda

Novartis sei gedankt, dass mir ihr Werbegeschenk die Entscheidung abnimmt, welche Agenda benutzt wird. Das dickleibige Buch wirkt so kostbar (in Leinen gebunden!), dass meine MPAs es als schnöde Geldverschwendung ablehnen, eine andere Agenda zu kaufen. Die Doktor-Vasella-Firma vertraut darauf, dass der Doktor sich Zeit für seine Patienten nimmt: die Termin-Einteilung ist im 15-Minuten-Takt. Der zaghafte Einwand meiner Frau, ein DIN-A4-Quartalsheft böte doch mehr Raum, wird abgeschmettert: Das nähme auch mehr Platz auf dem Schreibtisch weg! Ausserdem würde es nicht das Hauptproblem lösen: die unleserliche Schrift des Praxisinhabers, welche die Patientenidentifikation verunmöglicht, wenn er Namen einschreibt. Meine Kinder spotten, dass ich der letzte Arzt in der Schweiz sei, der noch einen Papierkalender führt. Heutzutage organisiere man sich elektronisch. Mag sein, aber wenn der PC schlapp macht, könnten wir keine Termine mehr vergeben. Ausserdem müsste ich noch eine Station anschaffen, denn am Gerät in der Anmeldung ist garantiert immer jemand am Eingeben von Daten. Oder am Solitär spielen. Meine Kollegen Bruno und Markus geben ständig mit gerunzelten Brauen (man kann als Alterssichtiger halt das Display nicht mehr so gut erkennen …) etwas in ihre Palmtops ein. Und verpassen dann ihre Termine – weil sie vergessen haben, sie in ihre PCs zu übertragen. Ich meide Diskussionen über Agenden, denn wenig erhitzt die Gemüter mehr. Die Wahl von Kalendern erlaubt es zudem, psychologische Diagnosen zu stellen. So

wurde ich schon als Achtjähriger auf dem Pausenhof abgeschlagen, als ich stolz ein kleines weissledernes Büchlein mit Goldschnitt, integriertem eleganten Miniaturstift und dem in Gold geprägten Logo der drei gekreuzten Schlüssel zückte. Das hätten nur Wyber und Schwule, wurde mir eingebläut – im wahrsten Sinne des Wortes. Zwar benutzte ich dieses BankvereinKalenderchen weiter (schliesslich enthielt es eine Weltkarte, alle Nationenflaggen, sämtliche kantonale Schulferien sowie Einsteckbüchlein mit Adressen), aber seither konspirativ. Jörg hingegen verwendete offen ein C5-Format in virilem schwarzen Plastik (Credit Suisse), aus welchem er das ganze Jahr in Form eines Leporellos entfalten konnte. Für Einträge war jedoch eine Lupe nötig. Meine querdenkende, -köpfige und -schlagende Tochter benutzt querformatige Wochenplaner mit Spiralbindung. Ihr Freund kleistert sich mit dem riesigen VSAO-Wandplaner sein Zimmer zu. Ordentliche Menschen schaffen es, die Zusatzblätter für ihr Filofax so aufzubewahren, dass sie sie finden, wenn sie sie brauchen. Ich nicht. Von meinem Chaos und von schlechtem Time-Management zeugen auch die unabgerissenen Tage am scheusslichen Werbegeschenk unseres Apothekers. Seine Abrisskalender müssen wir aber jedes Jahr wieder aufhängen, obwohl der Hintergrundkarton – ausser Name und Adresse seiner Apotheke – stets kitschige Sujets mit gepressten Blumen zeigt. Der Apotheker ist nämlich ein guter Freund, schickt uns laufend Patienten und wenn ich die Blutgerinnung seiner Mutter kontrolliere, kontrolliert sie, ob

er hängt (der Kalender). Wenn ich wieder mal 14 Tage en bloc abgerissen habe, ergötze ich mich aber dann doch an Chamisso-Sprüchen, Lem-Aphorismen und Goethe-Worten auf den Rückseiten der Blätter. Im Wartezimmer bestehen die MPAs auf einem grossen Fotokalender mit Schweizer Bergwelt, damit die Patienten auch etwas Heimeliges anschauen könnten und nicht nur meine kalten, geometrischen Vasarely-Drucke. Und im Labor streiten sie sich, ob der Kalender mit UliStein-Cartoons oder «Die 365 besten Bürowitze» gehisst werden. Jedes Jahr bekommen wir in Praxis und privat mehr Kalender geschenkt, als wir aufhängen oder weiterverschenken können. Die selbstgebastelten Fotokalender meiner Gottenkinder müssen sichtbar an einen Ehrenplatz gehängt werden. Sie haben ideellen Wert, obwohl weder die Kartoffelstempel- und Glitzerstift-Verzierungen, noch die verwackelten Schnappschüsse der kleinen zahnspangetragenden Monster ästhetische Mindeststandards erreichen. Besser gefallen mir da die gestochen scharfen Fotos im Kalender meines Sohnes: 24 Akte (auf)reizender Frauen. Aber ich sage das nicht, sondern nicke, wenn meine Frau unsere Stube mit einem dekonstruktivistischen Kalender verschandelt. Sie hat ihn aus Wohltätigkeit erstanden, weil die Bilder darin mit dem Mund und den Füssen gemalt wurde, was man ihm auch ansieht. Ich weiss ja inzwischen, dass das Outen von Kalendervorlieben gefährlich sein kann …

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