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Verschwiegene Medikamente
Jeder fünfte Patient nimmt Medikamente ohne Wissen der Ärzte ein
Rund 20 Prozent der Klinikpatienten nehmen Substanzen ein, deren Einnahme in der Krankenakte nicht verzeichnet ist, vor allem Schmerz- und Beruhigungsmittel sowie Medikamente gegen Sodbrennen. Dies hat eine Studie der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg ergeben, die kürzlich im «European Journal of Clinical Pharmacology» (2004; 60: 363–368) erschienen ist. Die unerkannte Medikamenteneinnahme ist bereits aus früheren Studien bekannt. Bislang wurde jedoch nur nach wenigen Substanzen bei spezifischen Patientengruppen gefahndet. «Mit sehr feinen Messmethoden haben wir in dieser Studie erstmals ein sehr breites Spektrum von insgesamt 996 Medikamenten im Urin nachweisen können», erklärt der Heidelberger Professor Walter Haefeli. Zudem gehörten die insgesamt 44 StudienteilnehmerInnen mit einem durchschnittlichen Alter von rund 69 Jahren
nicht einer bestimmten Patientengruppe an, sondern litten an unterschiedlichen internistischen Erkrankungen. Die Heidelberger Wissenschaftler sehen zwei mögliche Ursachen für das Informationsdefizit: Entweder wurde die Krankengeschichte vom Arzt nicht vollständig erhoben oder die Patienten behandelten sich selbst. Auf jeden Fall birgt die unbekannte Medikamenteneinnahme Risiken: Mögliche Wechselwirkungen mit verordneten Medikamenten können bei der Medikamentenwahl oder -dosierung nicht berücksichtigt werden. Haefeli fordert deshalb, Ärzte in Klinik und Praxis sollten die Erinnerungsfähigkeit der Patienten unterstützen und explizit nach sämtlichen Arzneimitteln fragen. Noch immer würden viele Menschen davon ausgehen, dass pflanzliche Produkte keine Sicherheitsrisiken beinhalten, beklagt Haefeli. Ein Medikament, dessen Einnahme im Einzelfall schwere Interaktionen zeitigen kann, ist Johanniskraut. Das pflanzliche
Antidepressivum, das ansonsten verträglicher ist als synthetische Präparate, beschleunigt den Abbau einzelner Arzneimittel, bei denen die präzise Dosierung wichtig ist, wie etwa Cyclosporin oder Antikoagulanzien. Die Heidelberger Wissenschaftler untersuchten in einer zweiten Studie insgesamt 150 Patienten, die wegen unterschiedlicher Erkrankungen für einige Tage stationär aufgenommen wurden. Bei 12 der 150 Patienten (8%) waren Inhaltsstoffe von Johanniskraut im Blut nachweisbar, aber nur bei 1 Patienten war die Einnahme den behandelnden Ärzten bekannt. Durch gezielte Befragung wurden 2 weitere Patienten entdeckt, während 9 Patienten ohne die aufwändige Nachweistechnik unentdeckt geblieben wären (Br J Clin Pharmacol 2004; 58: 437–441).
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red
Negative Studie
Galantamin bei chronischem Müdigkeitssyndrom
Müdigkeit und Erschöpfungsgefühle («Fatigue») lassen sich nur schwer messen und behandeln. Ein Rätsel – nicht nur hinsichtlich der Häufigkeit, sondern auch hinsichtlich der Pathogenese – bleibt das chronische Müdigkeitssyndrom. Zwar gibt es genug anekdotische Berichte über erfolgreiche Medikamente gegen das zentrale Symptom der alles überdeckenden chronischen Müdigkeit, sie halten aber einer genauen Prüfung nicht stand. Klar ist nach den wenigen Dutzend kontrollierter randomisierter Studien nur, dass die Symptome im Lauf der Zeit fluktuieren, dass eine beträchtliche Plazeboansprechrate besteht und dass sie auch spontan verschwinden können.
Eine randomisierte, plazebokontrollierte Multizenterstudie mit dem Acetylcholinesterasehemmer Galantamin (Reminyl®) hat, wie «JAMA» kürzlich berichtete, ein eindeutiges Resultat gebracht. Die Substanz beeinflusste nach 16 Wochen die Symptome des chronischen Müdigkeitssyndroms in keiner der drei untersuchten Dosierungen besser als Plazebo. Die Autoren sind erstaunt, dass die in den Ausgangsmessungen dokumentierte kognitive Beeinträchtigung auf Galantamin gar nicht ansprach und schliessen daraus, dass sie bei Patientinnen und Patienten mit chronischem Müdigkeitssyndrom nicht durch ein cholinerges Defizit verursacht wird.
Entgegen der Erfahrungen in anderen Stu-
dien war hier die Plazeboansprechrate mit
16,5 Prozent keineswegs besonders hoch.
Interessanterweise waren die Plazebo-
ansprechraten unter den US-amerikani-
schen Studienteilnehmenden im Vergleich
zu denjenigen aus Europa deutlich höher.
Vielleicht waren die amerikanischen Pa-
tienten den Studienärzten gegenüber eher
bereit, eine therapiebedingte Besserung
«zuzugeben»?
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C.V. Russell Blacker et al.: Effect of galantamine hydrobromide in chronic fatigue syndrome. A randomized controlled trial. JAMA 2004; 292: 1195–1204.
H.B.
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