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Aufruf zum Rückruf
Untertitel
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Liebe Pharmaindustrie, bitte ruft jetzt mal das Gros eurer Medikamente zurück! Nehmt sie vom Markt. Oder testet sie seriös. Bewerbt sie weniger unseriös. So sollten die Aussagen, die in Inseraten für eure Produkte mit Nümmerchen auf Artikel verweisen, von diesen auch bestätigt werden – was nur zu oft nicht der Fall ist. Meine Patienten und Patientinnen sind es nämlich leid, ständig von Skandalen zu lesen oder sie gar am eigenen Leib erleiden zu müssen.
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Rubriken — ARSENICUM
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11968
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Aufruf zum Rückruf

Liebe Pharmaindustrie, bitte ruft jetzt mal das Gros eurer Medikamente zurück! Nehmt sie vom Markt. Oder testet sie seriös. Bewerbt sie weniger unseriös. So sollten die Aussagen, die in Inseraten für eure Produkte mit Nümmerchen auf Artikel verweisen, von diesen auch bestätigt werden – was nur zu oft nicht der Fall ist. Meine Patienten und Patientinnen sind es nämlich leid, ständig von Skandalen zu lesen oder sie gar am eigenen Leib erleiden zu müssen. Und ich will nicht immer am nächsten Tag, nachdem das schädigende Mittel zurückgerufen wurde, den raubvogelartigen Angriff der Pharmavertreter der Konkurrenzprodukte abwehren müssen, die mir ihr Mittel aufschwätzen wollen. Contergan, einige Kalziumantagonisten, viele kardiale Antiarrhythmika, einige Antidepressiva, Lipobay, Hormonersatztherapie, Magenmotilitätshemmer und gastroenterale Antiinfektiosa, Impfstoffe, jetzt Vioxx und möglicherweise auch bald Bextra – habe ich etwas vergessen? Vermutlich, denn die Liste ist lang, die Rückrufe häufen sich, folgen immer schneller im ebenfalls schneller werdenden Crescendo von Auf-den-Markt-bringen-intensivbewerben-möglichst-viel-verkaufen-bevorder-Patentschutz-ausläuft. Besonders ärgerlich ist die Informationspolitik der Pharmaindustrie. Nur dank der Laienpresse erfährt der sich intensiv mit

Fachliteratur fortbildende Arzt, der kein Pharmamailing ungelesen lässt, dass das Mittel X oder Y gefährlich ist. Peinlich, wenn man als behandelnder Hausarzt nicht dazu gekommen ist, die «NZZ» beim Frühstück zu lesen und die Morgennachrichten nicht im Autoradio gehört hat, und die Patienten dann mit «Tagi» und «Blick» in der Hand erzürnt die Medikamentenschachtel auf den Tisch werfen, mit deren Inhalt man sie vergiftet hat. Beunruhigend, wenn man an Herrn S. denkt, einen sportlichen, schlanken, ungestressten Nichtraucher mit uralt gewordenen Vorfahren, der mit 52 einen letalen Herzinfarkt erlitten hat, zwei Jahre, nachdem man ihm Vioxx verschrieben hatte. Eilfertig sendet die Pharmaindustrie hingegen eine «Vorinformation für Fachleute» aus, wenn irgendeine klitzekleine Studie vermuten lässt, dass das Medikament Z möglicherweise auch grenzwertige Wirkungen auf irgendeine banale Beschwerde hat, die aber nicht in der Indikationsliste für das Produkt registriert ist. Enthusiastische Aussendienstmitarbeiter bearbeiten einen dann, das Medikament Z doch auch mal bei Patienten mit diesen Beschwerden auszuprobieren: 2986 Schweizer Ärzte führten gerade eine Patientenanwendungsstudie mit 3011 Patienten durch und schon die ersten Daten zeigten, dass dank Mittel Z die Lebensqualität

als besser empfunden würde. Die «forschende Pharmaindustrie», die ihre Medikamentenpreise immer mit dem Hinweis auf die horrenden Forschungskosten rechtfertigt, gibt in Wirklichkeit das Doppelte, in den USA sogar mehr als das Drei- bis Vierfache, für Werbung aus. Die Firma Roche – einer der wenigen Pharmahersteller, der zumindest transparente Zahlen liefert – wandte 4,77 Milliarden Franken für Forschung und Entwicklung und 8,85 Milliarden für Marketing und Vertrieb auf. Noch darf in der Schweiz – anders als in den USA – für «ethische», verschreibungspflichtige Produkte nicht beim Publikum geworben werden. Aber Gründungen von «Selbsthilfegruppen» gegen Akne, Osteoporose und andere nicht letale Leiden erfolgen oft mit massivem, diskretem Sponsoring der Pharmaindustrie. Schweigen wir lieber über die Reisen und Bankette, die uns Ärzten nach wie vor von der Pharmaindustrie angeboten werden. Als alter Hausarzt, der schon zu viele Pharmaskandale erlebt hat und der der Industrie in hohem Masse misstraut, verschreibe ich sehr konservativ, insbesondere bei nicht lebensbedrohlichen Krankheiten. Schade, denn so kommen bestimmt viele meiner Patienten nicht in den Genuss besserer, neuerer Medikamente – aber «nihil nocere» ist auch ein wichtiges Prinzip ärztlichen Handelns.

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