Transkript
FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE
Atypische Antipsychotika bei Demenz
Systematischer Review zur Behandlung von Verhaltensstörungen und psychologischen Symptomen
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Atypische Antipsychotika
scheinen in der Behandlung
von schwer wiegenden Verhal-
tensauffälligkeiten und psy-
chologischen Problemen bei
Demenzkranken gegenüber
klassischen Neuroleptika ge-
wisse Vorteile hinsichtlich
Wirksamkeit und Nebenwir-
kungen zu haben. Die Beweis-
lage zugunsten der teureren
Therapie ist aber zurzeit noch
unbefriedigend.
Mit «Verhaltensstörungen und psychologischen Symptomen» soll ein Spektrum von nichtkognitiven Manifestationen bei Demenz umschrieben werden, das verbale und physische Aggression, Agitation, psychotische Symptome (Halluzinationen, illusionäre Verkennungen), Schlafstörungen und Umherwandern umfasst. Diese Problematik kann die Lebensqualität von Patienten und Pflegenden massiv beeinträchtigen und die Wahrscheinlichkeit der Einweisung in eine Pflegeinstitution erhöhen. Bisher ist das Management von Verhaltensstörungen und psychologischen
Symptomen bei Demenz nicht standardisiert und umfasst verschiedene – durchaus wirkungsvolle – nichtpharmakologische sowie pharmakologische Massnahmen. Zunächst wurden am häufigsten typische Antipsychotika (Neuroleptika) eingesetzt. Die dazu vorliegenden umfangreichen Erfahrungen zeigen nur einen mässigen Effekt bei gleichzeitig potenziell schwer wiegenden Nebenwirkungen, die den Einsatz bei älteren Menschen begrenzen. In neuerer Zeit stehen atypische Antipsychotika zur Verfügung, und sie werden bei psychotischen Störungen breit eingesetzt, da man ihnen überlegene Wirksamkeit und Sicherheit zuschreibt. Insbesondere sollen sie weniger extrapyramidale Symptome wie Parkinsonismus und Spätdyskinesien hervorrufen. Die Daten, die diese Vorstellungen stützen, sollten jedoch angesichts hoher Kosten und neu beobachteter Nebenwirkungen näher geprüft werden, schreiben die Autoren dieses systematischen Reviews. Besonders gelte dies für den Einsatz bei dementen älteren Patienten, wo noch viel weniger Informationen vorliegen.
Methodik
Die Autoren suchten in den gängigen elektronischen Quellen wie Medline, Embase und Cochrane nach Studien, in denen atypische Antipsychotika wie Risperidon (Risperdal®), Olanzapin (Zyprexa®), Quetiapin (Seroquel®) oder Clozapin (Leponex®) bei Demenz eingesetzt wurden. Daneben sahen sie manuell auch Referenzenlisten durch und kontaktierten klinische Experten. Einschluss fanden alle publizierten doppelblinden randomisierten Studien. Besondere Beachtung fanden Angaben über wichtige Nebenwirkungen und die methodologische Qualität.
Merk-
sätze
q Ein systematischer Review fand nur fünf randomisierte Studien, die die Wirksamkeit und Sicherheit von atypischen Antipsychotika bei Verhaltensstörungen und psychologischen Symptomen von Demenzpatienten untersucht haben.
q Die beschränkte Evidenz stützt den Eindruck, dass atypische im Vergleich zu typischen Antipsychotika verbesserte Wirksamkeit und Nebenwirkungsraten bieten.
q Um eindeutige Empfehlungen abgeben zu können, sind weitere Studien notwendig.
Resultate
Die Suche ergab gerade einmal fünf randomisierte Studien mit insgesamt 1570 Patienten. Vier Studien evaluierten Risperidon, eine Olanzapin. Alle Studien waren von der Industrie gesponsert. Im Allgemeinen, so die Autoren, waren die Studien von guter Qualität, allerdings gaben nur zwei die Bemühungen zur Geheimhaltung der Therapieallokation adäquat wieder. Die meisten Studienteilnehmer lebten in Pflegeinstitutionen (> 96%). Die Beurteilung der Wirksamkeit gestaltete sich wegen der Unterschiedlichkeit der angewandten Skalen, verschieden strenger Ansprüche an den Wirkungsnachweis und multipler Vergleiche zwi-
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FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE
Atypische Antipsychotika bei Demenz
schen Gesamtscores und den Werten in Untergruppen schwierig.
Wirksamkeit im Vergleich zu Plazebo Eine Studie verglich drei fixe Dosen von Risperidon (0,5 mg, 1 mg und 2 mg/Tag) mit Plazebo. Die mit den beiden höheren Dosen behandelten Demenzkranken zeigten gegenüber Plazebopatienten signifikante Verbesserungen bei mehreren Messparametern. Eine andere Studie untersuchte Risperidon und Haloperidol (z.B. Haldol®) gegenüber Plazebo. Primärer Endpunkt war eine über 30-prozentige Reduktion in der Skala BEHAVE-AD. Dabei war Risperidon weder Haloperidol noch Plazebo überlegen. Einige Unterschiede ergaben sich jedoch bei sekundären Endpunkten. Eine weitere Studie verglich flexible Risperidon-Dosen mit Plazebo und sah Risperidon bei Aggressionsscores und weiteren BEHAVE-Gesamt- und Subscores Plazebo signifikant überlegen. Für Olanzapin fanden die Autoren nur eine Studie, die die Teilnehmer zu Plazebo oder drei fixen Olanzapin-Dosen randomisierte. Gemessen am NPI-NH-Gesamtscore war Olanzaapin in den Dosierungen von 5 und 10 mg/Tag Plazebo überlegen.
Atypische versus typische Antipsychotika Zwei Studien verglichen Risperidon mit Haloperidol. Eine Post-hoc-Analyse konnte unter Risperidon hinsichtlich der BEHAVEAD-Gesamtscores keine grösseren Verbesserungen nachweisen als unter Haloperidol. Signifikant bessere Ergebnisse ergaben sich für Risperidon jedoch auf zwei Aggressivitätssubskalen. Eine Vergleichsstudie untersuchte flexible Dosen von 0,5–2 mg/Tag mit entweder Risperidon oder Haloperidol. Es ergaben sich keine signifikanten Unterschiede, allerdings lässt die geringe Teilnehmerzahl kaum zuverlässige Rückschlüsse zu.
Nebenwirkungen und Therapieabbrüche In den erfassten Studien waren verschiedene Skalen zur Erfassung von extra-
pyramidalen Symptomen, einer häufigen Nebenwirkung von Antipsychotika, zur Anwendung gekommen. Meistens richtete sich angesichts der jeweils kurzen Studiendauer von sechs bis zwölf Wochen das Augenmerk auf Parkinsonismus und nicht auf Spätdyskinesien. Zwei Studien mit mittleren Dosen von ungefähr 1 mg/die Risperidon konnten für das atypische Antipsychotikum gegenüber Plazebo signifikante Unterschiede hinsichtlich extrapyramidaler Symptome nachweisen. Eine andere Studie dokumentierte eine dosisabhängige Zunahme extrapyramidaler Symptome unter Risperidon, die bei einer Dosis von 2mg/Tag signifikant war. Die einzige Studie mit Olanzapin ergab keine Unterschiede zu Plazebo. Die Vergleichsstudien zwischen Risperidon und Haloperidol berichten beide von häufigeren extrapyramidalen Symptomen unter dem klassischen Neuroleptikum Haloperidol. Eine Studie dokumentierte schwer wiegende Nebenwirkungen unter Plazebo bei 9 Prozent und unter Risperidon bei 17 Prozent der Teilnehmenden. Hier kamen in der Risperidon-Gruppe sechs zerebrovaskuläre Ereignisse vor, in der Plazebogruppe keines. Trotz ihrer kurzen Dauer verzeichneten die meisten Studien hohe Abbruchraten sowohl in den Verum- wie in den Plazebogruppen. Dabei waren die nebenwirkungsbedingten Therapieabbrüche unter Risperidon beziehungsweise Olanzapin in je einer Studie klar dosisabhängig.
Diskussion
Die Autoren bedauern, dass sie keine direkten Vergleichsstudien zwischen atypischen Antipsychotika finden konnten, die über deren Wert in der Behandlung von Verhaltensstörungen und psychologischen Symptomen bei Demenzpatienten weiteren Aufschluss geben könnten. Verbesserungen bei diesen schwer therapierbaren Problemen wurden sowohl bei den mit atypischen Antipsychotika Behandelten wie in den Plazebogruppen beobachtet. Dies könnte zum Teil auf nichtphar-
makologischen Interventionen beruhen,
die in den Plazebogruppen begleitend zur
Anwendung kamen.
Entgegen der häufig anzutreffenden Pra-
xis waren die untersuchten Studien auf
einen engen Zeitrahmen von sechs bis
zwölf Wochen begrenzt. Idealerweise, so
die Autoren, sollten zukünftige Studien
eine längere Beobachtungszeit abdecken.
Häufige und auch für die Therapiewahl
entscheidende Nebenwirkungen sind me-
dikamentös induzierter Parkinsonismus,
Somnolenz und Gangstörungen. Die un-
erwünschten Wirkungen scheinen dosis-
abhängig zu sein. Daher ist die Empfeh-
lung zu anfänglich niedriger Dosierung
und langsamer Steigerung entsprechend
der Verträglichkeit sicher sinnvoll.
Ein warnendes Wort der Autoren gilt den
sich mehrenden Erfahrungen, dass atypi-
sche Antipsychotika mit metabolischen
Störungen, insbesondere einer Beein-
trächtigung des Zuckerstoffwechsels und
der Förderung von Hyperlipidämien, as-
soziiert zu sein scheinen. Für derartige
Stoffwechselstörungen fanden die Auto-
ren in den untersuchten Studien keine Be-
lege, was angesichts deren kurzer Dauer
aber auch nicht erstaunt.
Lee und Mitautoren verlangen abschlies-
send, dass die zunehmende Verbreitung
der Therapie von Verhaltensstörungen
und psychologischen Symptomen bei
Demenz mit atypischen Antipsychotika
durch weitere adäquate Studien unter-
mauert wird.
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Philip E. Lee (Rotman Research Institute, Baycrest Centre for Geriatric Care, Toronto/ CAN) et al.: Atypical antipsychotic drugs in the treatment of behavioural and psychological symptoms of dementia: systematic review. Brit. Med. J. 2004; 329: 75–78.
Halid Bas
Interessenlage: Der Koautor Morris Freedman deklariert finanzielle Entschädigungen der Firmen Janssen-Ortho, Pfizer und Novartis.
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