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Migräne
Was bei Kindern, Schwangeren und Alten zu beachten ist
POSTGRADUATE MEDICINE
Die Diagnose und Therapie von Migräne stellt bei bestimmten Patientengruppen eine grosse Herausforderung dar. Hierzu gehören Kinder und Jugendliche, alte Menschen und Schwangere. Eine Autorengruppe um Jonathan P. Gladstone zeigt in «Postgraduate Medicine» auf, was bei diesen Migränikern zu beachten ist. Der Neurologe John Edmeads fragt zudem nach einem einfachen Weg, eine Migräne in der Allgemeinarztpraxis zu diagnostizieren.
Migräne ist in schweren Fällen eine Erkrankung, die eine erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigung bedeutet und die Betroffenen während des Anfalls zur Arbeitsunfähigkeit verdammt. Nach dem
Grad der Beeinträchtigung ist die Migräne, nach einem Bericht der WHO, mit einer Psychose oder Demenz vergleichbar. Epidemiologischen Untersuchungen zufolge beträgt die Migräneprävalenz bis zu 10 Prozent bei Kindern und Jugendlichen zwischen 5 und 15 Jahren; sie steigt dann auf 18 Prozent zwischen 18 und 49 Jahren, um zum Alter hin deutlich seltener zu werden. Trotz dieser Häufigkeit wird die Migräne nicht immer (richtig) diagnostiziert. Ein Grund hierfür besteht nach Auffassung des amerikanischen Neurologen John Edmeads in der mangelhaften Ausbildung der Ärzte auf diesem Gebiet. Die Migräne spiele im Studium eine völlig untergeordnete Rolle: «Viele Hausärzte müssen sich die Kenntnisse im Selbststudium und durch praktische Erfahrung aneignen.» Seiner Meinung nach werden drei Irrtümer relativ häufig begangen: 1. Fehlannahme: «Wenn keine Aura vor-
handen ist, handelt es sich nicht um eine Migräne.» In Wirklichkeit haben nur 15 Prozent jemals eine Aura. 2. Fehlannahme: «Migräne ist eine Erkrankung von Frauen. Männer haben keine Migräne.» Diese Ansicht ist falsch, auch wenn ganz überwiegend Fauen betroffen sind. 3. Fehlannahme: «Wenn die Patienten nervös sind, dann muss es sich um einen Spannungskopfschmerz handeln und nicht um Migräne.» Die Komorbiditäten einer Migräne sind Depression, Angst, Panikattacken.
Edmeads hält den Hausärzten zugute, dass man von ihnen nicht das Rüstzeug verlangen könne, das den Spezialisten zur Verfügung stünde, deren Bibel die «International Classification of Headache Disorders» ist – ein Werk, das in 2. Auflage
Merk-
sätze
q Migräne ist bei Kindern und Jugendlichen keine Seltenheit, in schweren Fällen kann die schulische (und soziale) Entwicklung beeinträchtigt werden. Nichtmedikamentöse Massnahmen sind wichtig. Medikamentös sind Paracetamol und NSAR erste Wahl in der Akuttherapie. Triptane sollen auch gut wirken, sind aber für Kinder noch nicht zugelassen.
q Frauen mit Migräne können in der Schwangerschaft auf eine Besserung ihres Kopfwehleidens hoffen. Ein erstmals in der Schwangerschaft auftretender Migräneanfall sollte Anlass für eine genaue Abklärung auf eine sekundäre Ursache sein. Bei der Pharmakotherapie ist in der Schwangerschaft Zurückhaltung angesagt, nichtmedikamentöse Massnahmen stehen zumeist im Vordergrund.
q Die Migräne verschwindet typischerweise mit dem Alter. Es gibt aber Ausnahmen. Die medikamentöse Akut- und die prophylaktische Therapie erweisen sich nicht selten als schwierig angesichts oft bestehender und interferierender Komedikation.
allein 160 Seiten umfasst, 10 Seiten davon handeln von der Diagnose.
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Migräne
Eine Migräne ist gekennzeichnet durch folgende Charakteristika: q Wiederholter Kopfschmerz, der wenige
Stunden bis wenige Tage dauert. q Kopfschmerz mit wenigstens zwei der
folgenden Charakteristika: – Einseitigkeit – mittlerer bis starker Schmerz von pochend-hämmernder Qualität, der sich während Aktivitäten verschlechtert. – Aversion gegen Lärm und Licht und/oder Auftreten von Übelkeit und Erbrechen. – Fehlen von Hinweisen auf eine (andere) Organerkrankung.
Wenn diese Kriterien erfüllt sind, ist eine Migräne gesichert. Mit Hilfe von drei Fragen an den Patienten kann sich der Hausarzt recht gut orientieren: q Sind Sie von Ihren Kopfschmerzen
stark beeinträchtigt? q Leiden Sie während der Attacke unter
Übelkeit? q Sind Sie bei einem Anfall
lichtempfindlich?
Werden alle Fragen bejaht, liegt wahrscheinlich eine Migräne vor. Die entsprechende Sensitivität beträgt, einer Studie zufolge, 0,81, die Spezifität 0,75 und der positive prädiktive Wert 0,93. Das seien beeindruckende Zahlen, meint Edmeads. Allerdings müsse bedacht werden, dass bei bis zu 10 Prozent der vermeintlichen Migräniker eine andere Ursache hinter den geklagten Kopfschmerzen stehe, weshalb grundsätzlich eine vollständige und ausführliche Anamnese und Diagnostik nötig sei, um Menschen etwa mit Aneurysma und Tumor zu erkennen. Denn ihnen sei nicht damit gedient, ein Triptan verschrieben zu bekommen.
Kinder und Jugendliche
Migräne ist eine häufige Ursache von primärem Kopfschmerz bei Kindern, und: Migränepatienten haben ihren ersten Anfall oft am Ende der Adoleszenz. Jugendliche Migräniker erleiden oft mehrere Attacken pro Woche, und die Anfälle er-
Tabelle 1: Migränetherapie in der Schwangerschaft
Akuttherapie Erstlinienmedikament Paracetamol Zusatzmedikation Prochlorperazin Promethazin Zweitlinienmedikamente NSAR* Acetylsalicylsäure* Koffeinhaltige Analgetika** Kodein** Andere Opiate**
Prophylaktische Therapie Erste Wahl Regulierung der Tagesaktivitäten (Mahlzeiten, Schlaf) Vermeidung von Triggern Verhaltenstechniken – Entspannung – Biofeedback – Stressmanagement – Verhaltenstherapie Zweite Wahl Propanolol ‡ Amitriptylin ‡ Verapamil ‡ Topiramat ‡
* Nicht nach der 32. SSW ** Mit grosser Vorsicht einzusetzen ‡ Nur wenn Nutzen höher als das Risiko für Mutter und Fetus
eignen sich häufiger als bei Erwachsenen zur Tageszeit. Oft ist es ihnen nicht möglich, die Schule zu besuchen, mit den absehbaren Folgen. Ansonsten läuft die Migräne bei den jungen Patienten im Prinzip ähnlich ab wie bei Erwachsenen, der Schmerz betrifft aber öfter beide Kopfhälften und ist zumeist von etwas kürzerer Dauer.
Akuttherapie Bislang ist kein spezifisches Schmerzmittel speziell für die Migränetherapie im Kin-
des- und Jugendalter zugelassen. Allerdings haben verschiedene Substanzen ihre Wirksamkeit in klinischen Studien unter Beweis gestellt. Zur Akuttherapie werden zumeist Paracetamol (z.B. Ben-uron®, Dafalgan®) oder NSAR (z.B. Diclofenac, Voltaren®; Ibuprofen, Algifor®) eingesetzt. Bei Übelkeit kann ein Antiemetikum (z.B. Metoclopramid, Paspertin®) hilfreich sein, die Schweizerische Kopfwehgesellschaft (SKG) empfiehlt Domperidon (Motilium®) als Suspension oder als Suppositorien. Die Therapieevidenz für Triptane ist bei Kindern und Jugendlichen noch begrenzt, «aber durchaus viel versprechend», meinen die Autoren. Sumatriptan ist die am besten untersuchte Substanz. Die SKG führt in ihren aktuellen Empfehlungen Imigran® Nasalspray (max. 40 mg/24 Stunden) als einziges Triptan bei Kindern ab zwölf Jahren an.
Migräneprophylaxe Kinder und die Eltern sollten darüber informiert werden, Migräne-Trigger herauszufinden und die Auslöser nach Möglichkeit zu vermeiden. Wichtig ist es, den Schlaf zu normalisieren und regelmässige körperliche Betätigung zu üben. Die Rolle von Nahrungsauslösern wird nach Meinung der Autoren überschätzt. Es gibt deshalb keine Migränediät, gleichwohl ist es ratsam, zum Beispiel den Kaffeekonsum einzuschränken. Biofeedback und Entspannungstherapien sind bei Jugendlichen besonders wirksam. Auch mögliche psychische Probleme sollten erörtert und gegebenenfalls behandelt werden. Die medikamentöse Prophylaxe ist nicht unproblematisch, da Daten zur Verträglichkeit und Sicherheit der bei Ewachsenen zum Einsatz kommenden Medikamente begrenzt sind. Die Autoren empfehlen am ehesten Betablocker (z.B. Metoprolol, Beloc Zoc®) und Amitriptylin (z.B. Saroten®), besonders bei Kindern mit Angst- oder Schlafstörungen. Wenn Sedierung ein Problem ist, kann Nortriptylin (Nortrilen®) eine Alternative sein. Nach Auffassung der SKG ist die medikamentöse Langzeitprophylaxe nur selten indiziert und auch nur bei Kindern über zwölf Jahre.
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Migräne
Tabelle 2: U n t e r s c h i e d l i c h e S y m p t o m a t i k z w i s c h e n Migräne (aura) und transitorisch ischämischer
Attacke (TIA) bei alten Menschen
Migräneaura
TIA
Visuelle Symptome (Flimmerskotom)
Langsame Ausbildung Sequenzielle Progression von einer Modalität zur nächsten (Visus, Sensorik, Sprache)
Repetitive Attacken gleicher Natur
Dauer etwa 20–30 min Geringer Kopfschmerz nach der Aura bei 50% der Patienten
«Negative» Symptomatik (Visusverlust) Plötzlicher Beginn Simultane Erscheinungsweise
Variable Symptomatik Dauer unter 15 min Kopfschmerz weniger wahrscheinlich
Schwangere
Die Migräne verbessert sich bei 50 bis 80 Prozent der Frauen in der Schwangerschaft zum Ende des ersten Trimesters. Diese Entwicklung ist mit dem Östrogenabfall erklärbar. Wenn Kopfschmerz erstmals in der Schwangerschaft auftritt, ist der Verdacht auf eine andere Ursache gegeben, und es sollten Schlaganfall und zerebrale venöse Sinusthrombose bedacht werden, die gelegentlich während der Schwangerschaft auftreten können. Auch ein Hypophysentumor oder ein Meningeom können sich während der Schwangerschaft vergrössern. Eine Eklampsie kündigt sich oft mit Kopfschmerz an. Migräne bedeutet im Übrigen keine unmittelbare Gefährdung der Schwangerschaft und hat keine Auswirkungen auf die Gesundheit des Nachkommens.
Therapie Risiken und Nutzen der Therapie müssen in der Schwangerschaft besonders kritisch abgewogen werden. Nichtpharmakologischen Massnahmen kommt die entscheidende Bedeutung zu. Weil Migräniker allgemein eine hohe Sensitivität gegen Umweltveränderungen haben, ist die Regulierung der Tagesaktivitäten wichtig, neben den oben genannten nichtpharmakologischen Massnahmen gehört auch die kognitive Verhaltenstherapie zu den therapeutisch fruchtbaren Mitteln. Phar-
makologisch ist eine Behandlung dennoch des Öfteren gerechtfertigt, meinen die Autoren, während die SKG in ihren aktuellen Richtlinien zurückhaltend ist: «Eine vitale Indikation besteht kaum. Zudem muss die Unschädlichkeit der gewöhnlich verwendeten neurotropen Substanzen auch bei entlastenden Tierversuchen in Frage gestellt werden, da alle diese Substanzen mit dem in rascher Entwicklung befindlichen fötalen Nervensystem interferieren.» Die SKG empfiehlt allenfalls die kurzfristige Anwendung von Paracetamol. Die Medikamente sind in Tabelle 1 aufgelistet.
Alte Menschen
Menschen über 65 Jahre klagen seltener über Kopfschmerz als junge Menschen. Dennoch haben 2 bis 4 Prozent von ihnen täglich oder fast täglich Kopfweh. Die Prävalenz von Migräne beträgt etwa 3 bis 11 Prozent, und Frauen sind auch im Alter deutlich häufiger betroffen als Männer. Für all jene, die auch im Alter ihre Migräne behalten, mag zumindest ein wenig tröstlich sein, dass die Attacken in der Regel seltener werden, weniger schwer verlaufen und kaum mehr mit Übelkeit einhergehen. Im Alter können wiederholte Anfälle von schmerzfreier Aura auftreten. Diese ist Ausdruck einer reversiblen fokalen kortikalen Dysfunktion und kann als rekur-
rente Parästhesie oder Flimmmerskotom in Erscheinung treten. Zuweilen ist eine Verwechslung mit einer transitorisch ischämischen Attacke (TIA) möglich. Eine sorgfältige Evaluation ist deshalb auch bei älteren Menschen notwendig. Die Unterschiede zwischen TIA und Migräne sind in Tabelle 2 zusammengefasst. Eine Migräne, die erst im Alter beginnt, kommt sehr selten vor. Oft handelt es sich um sekundären Kopfschmerz (Tabelle 3).
Akuttherapie Da alte Menschen oft mehrere Medikamente einnehmen und zudem einen veränderten Metabolismus aufweisen, bedeutet die Pharmakotherapie eine Herausforderung. Im Prinzip sind aber, unter Beachtung der altersspezifischen Besonderheiten, die meisten der sonst üblichen Medikamente und Verfahren einsetzbar. Für die Akuttherapie empfehlen die Autoren Acetylsalicylsäure (z.B. Aspirin®) als
Tabelle 3: H ä u f i g e Kopfschmerzursachen
im Alter
Primärer Kopfschmerz (2/3 aller Kopfschmerzformen) Spannungskopfweh Migräne Cluster-Kopfschmerz Trigeminusneuralgie
Sekundärer Kopfschmerz (1/3 aller Kopfschmerztypen) Temporalarteriitis Analgetikaabusus Arzneimittelnebenwirkung Schlaganfall Subdurales Hämatom Tumor Zervikogener Kopfschmerz Meningitis/Enzephalitis Kardiale Ischämie Postherpetische Neuralgie Erkrankungen an Auge, Nebenhöhlen, Zähnen und Ohren Paroxysmale Hypertension Metabolische Erkrankungen: Anämie, Polyzythämie, Nierenversagen, Hypothyreoidismus
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Migräne
Erstlinienmedikament. Daneben kommen auch Paracetamol und NSAR zum Einsatz. Antiemetika sind ihrer Ansicht nach oft notwendig und auch gut wirksam, allerdings sind alte Menschen für Nebenwirkungen wie Sedierung und Parkinsonismus besonders anfällig. In Studien mit Dihydergotamin und Triptanen wurden alte Menschen zumeist ausgeschlossen. Zudem sind Menschen mit kardiovaskulären und zerebrovaskulären Erkrankungen von der Behandlung mit Triptanen ausgeschlossen. Patienten, die mit Triptanen seit langem gute Erfahrungen gemacht haben, müssen diese im Alter aber keinesfalls absetzen, solange keine entsprechenden Kontraindikationen sich einstellen. Die klinische Erfahrung
zeigt nach Auffassung der Autoren, dass Triptane wohl nicht weniger sicher und nicht weniger wirksam sind als bei jüngeren Menschen. Deshalb werden sie «bei Abwesenheit von Kontraindikationen mit beachtlichem Erfolg eingesetzt», schreiben sie. Opiate sollten nur mit grosser Zurückhaltung eingesetzt werden, sie können aber bei sehr schweren Attacken in Einzelfällen notwendig werden. Zu beachten ist, dass diverse Medikamente eine Migräne verschlechtern können, wie etwa bestimmte Antihypertensiva (Nifedepin) oder Methyldopa. Die prophylaktische Langzeittherapie ist besonders problematisch wegen oft bestehender Kontraindikationen respektive
medikamentöser Interaktionen. Die De-
vise «start low and go slow» gilt bei Alten
ganz besonders.
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Jonathan P. Gladstone et al.: Migraine in specuial populations. Treatment strategies for children and adolescents, pregnant women, and the elderly. Postgraduate Medicine 2004; 115: 39–50. John Edmeads: Is there an easy way to diagnose migraine? Postgraduate Medicine 2004; 115: 55–58.
Uwe Beise
Interessenkonflikte: keine
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