Transkript
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Varizellenimpfung
Eine generelle Impfempfehlung wird diskutiert
UWE GOERING
Als hochkontagiöse Virus-
infektion ist die Varizellen-
erkrankung eine Kinderkrank-
heit, die zurzeit bis zu
96 Prozent der Kinder vor der
Pubertät durchmachen. Mit
einer generellen Impfempfeh-
lung liessen sich jährlich –
auch ökonomisch vertretbar –
viele schwere Verläufe und
Komplikationen sowie einige
Todesfälle verhindern und
auch etliche Erkrankungen an
Herpes zoster verhüten.
Die Varizellenimpfung wird von der Ständigen Impfkommission (STIKO) des Robert-Koch-Instituts derzeit als Indikationsimpfung für spezielle Risikogruppen, zum Beispiel seronegative Frauen mit Kinderwunsch, empfohlen. Doch wahrscheinlich wird es nicht mehr lange dauern, bis die Impfkommission eine generelle Impfempfehlung für Kinder im zweiten Lebensjahr ausspricht. Bei Aufnahme in den Leistungskatalog der Krankenkassen würden zwar zunächst die
Kosten steigen. Doch der medizinische und volkswirtschaftliche Nutzen ist wesentlich höher einzuschätzen.
Mehr als eine harmlose Kinderkrankheit
Varizellen stellen in Deutschland die häufigste Infektionskrankheit dar, die durch eine Impfung vermieden werden kann. Jährlich erkranken an dieser hochkontagiösen Virusinfektion zwischen 700 000 und 800 000 Menschen. Gemeinhin herrscht die Vorstellung, dass es sich dabei um eine harmlose Krankheit handelt. Dabei weiss jeder, dass Jugendliche, Erwachsene und Risikopatienten (Immunsupprimierte) häufig schwerere Verläufe aufweisen.
Schwangere besonders gefährdet
Besonders gefährlich sind die Varizellen bei seronegativen Schwangeren – im ersten und zweiten Trimenon können sie einen Abort oder ein embryonales Varizellensyndrom verursachen. Erkrankt eine Schwangere kurz vor oder nach der Entbindung, kann das Virus intrauterin auf das Kind übertragen werden, die Folge sind lebensbedrohliche perinatale Varizellen. Trotzdem ist bei vielen Kollegen in Gesprächen eine zurückhaltende Einstellung zu einer generellen Varizellenimpfung zu verspüren. Aus diesem Grund sollen in diesem Beitrag noch einmal die wichtigsten Argumente für die generelle Impfempfehlung zusammengefasst dargestellt werden.
Daten zu Varizellenverläufen
Ende 2001 lagen die Ergebnisse einer Expertenrunde vor. EVITA (Economic Vari-
Merk-
sätze
q Zur Zeit gilt die Varizellenimpfung in Deutschland und in der Schweiz nur für bestimmte Risikogruppen als indiziert.
q Angesichts der Komplikationshäufigkeit besonders bei Erwachsenen, aber auch bei Kindern, ist jedoch eine generelle Impfung im Rahmen des Impfplans ernsthaft zu diskutieren.
cella Vaccination Tool for Analysis) war das erste gesundheitsökonomische Modell zur Berechnung der potenziellen klinischen und ökonomischen Effekte der Varizellenimpfung in Deutschland. In einer repräsentativen Umfrage wurden 1334 Varizellenfälle aus 282 Arztpraxen analysiert. Man dokumentierte das Alter bei Diagnosestellung, Geschlecht, Impfstatus, Schwere der Erkrankung, Komplikationen und den Ressourcenverbrauch von Medikamenten, ambulanter oder stationärer Behandlung, die Arbeitsunfähigkeit sowie den Arbeitsausfall wegen Betreuung erkrankter Kinder.
Komplikationen und Todesfälle in Deutschland
Jährlich kommt es durchschnittlich zu 739 000 Varizellenerkrankungen mit rund 40 000 Komplikationen, davon 5700 schweren Komplikationen mit Hospitalisierung, ausserdem 22 Todesfällen. Für die gesamte Volkswirtschaft entstehen dadurch Kosten von rund 96 Mio. Euro,
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Varizellenimpfung
davon entfallen alleine auf die Krankenkassen 40 Mio. Euro, die Aufwendungen zur Lohnfortzahlung bei Betreuung eines kranken Kindes betragen 23 Mio. Euro.
Effekte eines Impfprogramms
Eine allgemeine Impfempfehlung führt nicht automatisch zu einer hundertprozentigen Durchimpfungsrate der betreffenden Altersgruppe. Schon wenn man nur 85 Prozent der Kinder im zweiten Lebensjahr impfen würde, liessen sich jährlich rund 611 000 Varizellenfälle, 33 000 Komplikationen, 4700 schwere Komplikationen und 18 Todesfälle vermeiden. Für die Krankenkassen entstünden jährliche
Einsparungen von 12,3 Mio. Euro, die Varizellen wären nach etwa 18 Jahren sogar eliminiert.
Zoster eindämmen
Der Einwand, man würde durch die Impfung die Erkrankung in spätere Lebensjahre verschieben, wird von Fachleuten eindeutig verneint, wenn man entsprechend hohe Durchimpfungsraten erreicht. Die Erfahrungen in Ländern, die die Impfung bereits in ihren Impfplan als Standardimpfung aufgenommen haben, zeigen, dass auch ein positiver Effekt auf die Zosterinzidenz zu erwarten ist. Ein Rückgang der Zostererkrankungen, die durch
eine Reaktivierung des Virus in späteren
Lebensjahren bedingt sind, würde die
medizinischen und ökonomischen Argu-
mente für eine generelle Varizellenimp-
fung noch zusätzlich verstärken.
q
Dr. med. Uwe Goering Facharzt für Kinderheilkunde
D-91257 Pegnitz
Interessenkonflikte: Der Autor ist Mitglied im Advisory Board von GlaxoSmithKline.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 6/2004. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Varizellensituation und Impfempfehlungen in der Schweiz
Bernard Vaudaux, Lausanne, und Claire-Anne Siegrist, Genf, haben sich unlängst mit der Frage «Generelle Varizellenimpfung in der Schweiz?» auseinander gesetzt und einige Zahlen aus der Schweiz zusammengetragen (1). Eine Sentinella-Untersuchung kam 1998 zur Schätzung von zirka 60 000 Varizellenfällen pro Jahr, davon 84 Prozent bei unter 15-Jährigen. Seroprävalenzstudien ergaben unter Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren positive Titer bei rund 96 Prozent. Die Anzahl jährlicher pädiatrischer Hospitalisationen wegen Varizellen wird auf 70 bis 77 geschätzt. Bei immunkompetenten Kindern ist die häufigste zur Hospitalisation führende Komplikation eine transitorische Zerebellitis (75%), selten eine hämorrhagische Form oder kutane Superinfektion. Sehr schwere Verläufe sind extrem selten. Bei Erwachsenen wird die Varizelleninzidenz auf jährlich etwa 9600 Fälle geschätzt. Diese relativ wenigen Fälle führen jedoch zu gleich viel Hospitalisationen wie bei Kindern; das Hospitalisationsrisiko ist somit bei Erwachsenen 25-mal grösser als bei Kindern. Aus der Extrapolation der Zahlen an der medizinischen Abteilung des CHUV Lausanne auf die gesamte Schweiz rechnen die Autoren pro Jahr mit 7,6 Fällen von Meningitis, 1,6 Enzephalitiden, 26,6 Pneumopathien und 3,8 anderen Komplikationen. Auch aus Daten am CHUV ergibt sich für den Kanton Waadt eine Varizelleninzidenz während der Schwangerschaft von 0,04 Prozent. Vaudaux und Siegrist halten angesichts der Zahlen aus der Schweiz das Anliegen für berechtigt, Varizellen beim Erwachsenen im Allgemeinen und bei Schwangeren im Speziellen vor-
beugen zu wollen. Die Prävention von «gewöhnlichen» Varizel-
len bei gesunden Kindern sei hingegen wegen des gutartigen
Verlaufs nicht prioritär: «Die Varizellenkomplikationen beim ge-
sunden Kind sind zu selten und insgesamt eher gutartig, als dass
daraus um jeden Preis eine Präventionsforderung abgeleitet
werden könnte.» Zur Prävention von Varizellen bei Erwachsenen
und der Folgen für Fötus und Neugeborenes bei Infektion
während der Schwangerschaft wäre eine generelle Impfung der
Adoleszenten ausreichend. Da in diesem Lebensalter 96 Prozent
die Varizellen schon durchgemacht haben, gälte es mittels sorg-
fältiger Anamnese (unter Einbezug der Mütter) und Serologie
bei nicht gesicherter Infektion die 4 Prozent der Präadoleszenten
herauszufiltern, die die Varizellen nicht als Kinderkrankheit
durchgemacht haben.
Zurzeit empfiehlt der Schweizerische Impfplan 2004 (2) die Vari-
zellenimpfung (in der Schweiz erhältlich: Varilrix®) nur für nicht
immune (seronegative) Personen mit einem erhöhten Risiko von
Komplikationen: 1. Personen mit Leukämie oder malignem Tu-
mor (Impfung während der klinischen Remission), vor einer im-
munsuppressiven Behandlung oder Organtransplantation, Kin-
der mit einer HIV-Infektion (vor Immunsuppression). 2. Kinder
mit schwerer Neurodermitis. 3. Personen mit engem Kontakt zu
den oben genannten Patienten (Geschwistern, Eltern). 4. Medi-
zinal- und Pflegepersonal (insbesondere der Bereiche Gynäkolo-
gie/Geburtshilfe, Pädiatrie, Onkologie, Intensivmedizin, Betreu-
ung von immunsupprimierten Patienten).
q
H.B.
1. Bernard Vaudaux , Claire Anne Siegrist, Paediatrica, 2003, 14 (Nr.1): 22–27; version française: Paediatrica 2002; 13 (No. 6): 12–17 2. www.bag.admin.ch/infekt/ publ/supplementa/d/suppl8_impfpl.pdf
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