Transkript
STUDIE q ÉTUDE
Spironolacton und Hyperkaliämiegefahr
Auswirkungen der RALES-Studie
THE NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE
Die Botschaft wichtiger klini-
scher Studien hören wir wohl.
Allein, verstehen wir sie für
die Praxis auch richtig?
Eine Beobachtung zur RALES-
Studie aus Kanada.
Die Publikation der Randomized Aldactone Evaluation Study (RALES) im September 1999 hatte für einiges Aufsehen gesorgt, da sie belegen konnte, dass eine Behandlung mit niedrig dosiertem Spironolacton (Aldactone®, Primacton®, Xenalon®) bei Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz zu einer substanziellen Reduktion von Morbidität und Mortalität führt. Spironolacton ist preiswert, in niedriger Dosierung gut verträglich, kann aber zusammen mit ACE-Hemmern zu lebensbedrohlicher Hyperkaliämie führen. All dies war damals bekannt. In der RALESUntersuchung entwickelten jedoch nur wenige Patienten (2%) in der Spironolacton-Gruppe eine Hyperkaliämie. Diese niedrige Inzidenz dürfte auf der engen Laborüberwachung in der Studie, auf der Einschränkung bei anderen Medikamenten, die zu Hyperkaliämie führen können, und auf dem Ausschluss von Patienten mit fortgeschrittener Nierenerkrankung oder vorbestehender leichter Hyperkaliämie beruhen. In der Folge seien die Studienergebnisse rasch in die klinische Praxis übernommen
worden, vermutlich aber nicht immer die Einschränkungen der Studie, schreiben die Autoren der eben im «New England Journal of Medicine» veröffentlichten ökologischen Studie aus Ontario, Kanada (1). So hätte eine Untersuchung gezeigt, dass nach der RALES-Publikation viele Patienten neu Spironolacton erhielten, die keine schwere Herzinsuffizienz zeigten, dass ein Drittel an Niereninsuffizienz litt und mehr als einem Drittel gleichzeitig auch noch Kaliumsupplemente verschrieben wurde. Daher wollten die Autoren die Hyperkaliämiegefahr auf Bevölkerungsebene unter den realen Bedingungen des Alltags erfassen.
Methodik
Sie konnten sich dabei auf die ausgedehnte Datenbank des Gesundheitssystems in Ontario stützen, die alle Verschreibungen rezeptpflichtiger Medikamente und die diagnosespezifischen Hospitalisationsraten erfasst und diese miteinander in Beziehung zu setzen erlaubt. Die achtjährige Beobachtungsperiode von 1994 bis 2001 (also gut zwei Jahre nach der RALES-Publikation) wurde jeweils in Jahrestrimester eingeteilt, und für jedes
Viermonatsintervall wurden die Verschreibungen für Spironolacton, ACE-Hemmer, Betablocker, Schleifendiuretika, nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR), Kaliumsupplemente, Thiazid-Diuretika sowie kaliumsparende Diuretika erfasst. Ebenso konnten für jedes Intervall die Hospitalisationen wegen Hyperkaliämie oder Herzinsuffizienz eruiert werden.
Resultate
Die Zahl der Patienten über 66 Jahre, denen nach Hospitalisation wegen Herzinsuffizienz ein ACE-Hemmer verschrieben wurde, stieg von Anfang 1994 bis Ende 2001 kontinuierlich an (von 20 820 auf 32 283). Unter diesen Patienten blieb die Verschreibungshäufigkeit von Spironolacton zunächst konstant (Anfang 1994: 34/1000, Anfang 1999: 30/1000). Nach der RALES-Publikation kam es jedoch zu einem abrupten, signifikanten Anstieg um etwa das Fünffache, auf 149/1000 Ende 2001 (Tabelle). Die mediane Dosis nach der RALES-Publikation betrug dabei 25 mg/ Tag. Die Patienten unter ACE-Hemmern, denen zusätzlich Spironolacton verschrieben wurde, waren durchschnittlich 13 Jahre
Tabelle: Verschreibungen von Spironolacton, Hospitalisations- und Mortalitätsraten wegen Hyperkaliämie
Ausgangsjahr 1994
Verschreibungen von Spironolacton Hospitalisationen wegen Hyperkaliämie Hyperkaliämie-bedingte Hospitalmortalität
34/1000 Pat. 2,4/1000 Pat. 0,3/1000 Pat.
Ende 2001 (nach Publikation RALES-Studie)
149/1000 Pat.
11,0/1000 Pat.
2,0/1000 Pat.
p-Wert p < 0,001 p < 0,001 p < 0,001 868 A R S M E D I C I 1 7 q 2 0 0 4 STUDIE q ÉTUDE Spironolacton bei Herzinsuffizienz und Hyperkaliämiegefahr älter als diejenigen in der RALES-Studie. Frauen und Männer waren etwa gleich vertreten. Die meisten Patienten erhielten zusätzlich auch Schleifendiuretika. Auch die Hospitalisationsraten wegen Hyperkaliämie stiegen während der Beobachtungsperiode zunächst kontinuierlich an (von 2,4/1000 auf 4,0/1000), verdreifachten sich aber nach RALES auf 11,0/1000. Ebenso verhielt sich die durch Hyperkaliämie bedingte Hospital-Mortalität bei mit ACE-Hemmern behandelten Patienten: 1994: 0,3/1000, 1999: 0,7/1000, aber Ende 2001: 2,0/1000. Keinen Einfluss hatte die auf die RALES-Studie folgende Praxisänderung hingegen auf die Rate der Rehospitalisationen wegen Herzinsuffizienz. Sie nahm von 1994 bis 2001 stetig etwas ab (von 58/1000 auf 44/1000). Während des Beobachtungszeitraums erhielten die meisten Herzinsuffizienzpatienten ein Schleifendiuretikum, zunehmend populär wurde hingegen die Verschreibung von Betablockern (auch dies sicher eine Auswirkung kontrollierter, randomisierter klinischer Studien). Die Verschreibung von NSAR erlebte 1996 nach der Einführung einer Kostenbeteiligung durch die Patienten einen Knick, nahm jedoch im Jahr 2000 mit der Einführung COX-2-spezifischer Präparate wieder zu. Die Beziehungen zwischen der RALES-Publikation und der Zunahme von Hyperkaliämien und Todesfällen änderte sich bei Berücksichtigung der Trends bei den übrigen Medikamenten nicht wesentlich. Die Autoren untersuchten auch die Daten jener Patienten, die ACE-Hemmer erhielten, unabhängig von vorherigen Hospitalisationen wegen Herzinsuiffzienz. Bei diesen Patienten wurde Spironolacton zunächst nur selten verschrieben (bei 12/1000), nach RALES stieg aber auch hier die Verschreibungsrate von Spironolacton um fast das Dreifache (auf 32/1000). Auch die Hospitalisationsrate wegen Hyperkaliämie und die Rate der hyperkaliämiebedingten Todesfälle verdoppelten sich nach dem SpironolactonBoom. Auf die Hospitalisationsrate wegen Herzinsuffizienz und die Gesamtmortalitätsrate hatte RALES in dieser Gruppe keinen Einfluss. Schliesslich verglichen die Autoren mit einem statistischen Modell die Raten der erwarteten mit denjenigen der beobachteten Fälle und kamen zu folgender Hochrechnung: Die Publikation von RALES war bei mit ACE-Hemmern behandelten, zuvor wegen Herzinsuffizienz hospitalisierten Patienten in Ontario mit ungefähr 560 zusätzlichen Hyperkaliämie-bedingten Hospitalisationen assoziiert (95%-Konfidenzintervall: 285–754) und dürfte zu mindestens 73 zusätzlichen Todesfällen während einer Hospitalisation geführt haben (95%-KI 27– 120). Analoge Schätzungen für alle mit ACEHemmern behandelten Patienten ergeben 1485 zusätzliche hyperkaliämiebedingte Hospitalisationen (95%-KI 1150–1802) und 171 zusätzliche Todesfälle (95%-KI 129–219). Diskussion Die Autoren stellen zunächst fest, dass sie nach der RALES-Publikation einen abrupten Anstieg der Verschreibungen von Spironolacton bei älteren mit ACE-Hemmern behandelten Patienten in Ontario belegen konnten, und zwar unabhängig von vorangegangenen Hospitalisationen wegen Herzinsuffizienz. Dies sei dahin zu interpretieren, dass eine grosse klinische Studie die Verschreibungspraxis signifikant verändern kann, auch wenn direkte Marktkräfte seitens der Pharmaindustrie keine Rolle spielten. Da diese bevölkerungsbasierten Daten plötzliche Todesfälle ausserhalb des Spitals oder auf Notfallstationen sowie Patienten unter 66 Jahren ausschlossen, dürften die Zahlen das wirkliche Ausmass der hyperkaliämiebedingten Morbidität und Mortalität nach Publikation der RALESStudie noch unterschätzen. In jedem Fall zeigten sie, dass die Spironolacton-assoziierte Hyperkaliämie in der Alltagspraxis ein wesentlich grösseres Problem sei als im Rahmen einer klinischen Studie, so die Autoren. Dafür sehen sie sechs Gründe: 1. Die Ärzte überwachen in der Praxis die Kaliumspiegel weniger genau. 2. Sie vernachlässigen die Ausgangsbedingungen, die zu Hyperkaliämie prädisponieren (z.B. Diabetes). 3. Sie übersehen krankhafte Veränderungen, die während der Therapie hinzutreten (z.B. Niereninsuffizienz). 4. Sie verschreiben unangemessen hohe Dosen von Spironolacton oder weitere Medikamente, die zu einer Hyperkaliämie beitragen. 5. Einige Patienten könnten absichtlich ihren Kaliumkonsum steigern, so wie dies oft während Behandlung mit Schleifendiuretika empfohlen wurde. 6. Ärzte könnten fälschlicherwiese die RALES-Ergebnisse auf Patienten übertragen, die keine linksventrikuläre systolische Dysfunktion aufweisen (sondern z.B. eine diastolische Dysfunktion oder ein Cor pulmonale). Einschränkend weisen die Autoren darauf hin, dass ihre Studie nur Beobachtungscharakter hat und keine Kausalität beweisen kann. Zudem könnten wegen Hyperkaliämie hospitalisierte und im Spital verstorbene Patienten auch an einer anderen Erkrankung verstorben sein oder zusätzlich eine durch Spironolacton verursachte Volumenkontraktion oder Niereninsuffizienz aufgewiesen haben. Diese Aufschlüssung liessen die verfügbaren Daten nicht zu. Auch wurde unerwünschte Arzneimittelwirkungen ausserhalb des Spitals nicht erfasst. Dennoch halten sie den nach der RALES-Publikation beobachteten Anstieg von hospitalisationsbedürftigen Hyperkaliämien im zeitlichen Zusammenhang für überzeugend, biologisch plausibel und konsistent mit bisherigen Erkenntnissen. Ein Kommentar «Die Anwendung auf klinischen Studien beruhender Evidenz ist ein Hauptziel moderner medizinischer Praxis. Aus dieser Perspektive könnten die in der Studie von Juurlink und Mitarbeitern präsentierten Ergebnisse als ermutigend betrachtet werden», schreiben John J.V. McMurray und Eileen O’Meara in einem Kommentar zur Publikation der Ontario-Studie (2). Sie erinnern an die Hauptaussage der RALESStudie: Die Zugabe einer niedrigen Dosis von Spironolacton zu einer Standardtherapie (inkl. ACE-Hemmer) führte bei Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz A R S M E D I C I 1 7 q 2 0 0 4 869 STUDIE q ÉTUDE Spironolacton bei Herzinsuffizienz und Hyperkaliämiegefahr (NYHA-Klasse IV) zu einer Abnahme des Sterberisikos um 30 Prozent während zwei Jahren. Unter diesen sorgfältig überwachten Patienten kam es in der Spironolacton-Gruppe nur selten zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen wie Nierendysfunktion oder Hyperkaliämie. Warum nun dieser Unterschied zur jetzigen Beobachtung aus Kanada? Zunächst dürfte dies die Differenz zwischen klinischem Versuch und «realer Welt» widerspiegeln. Restriktive Ein- und Ausschlusskriterien sind allen klinischen Studien gemeinsam. Ärztinnen und Ärzte müssen sie daher in jedem Fall auf ihre eigene Praxis extrapolieren. Diese Extrapolation ist immer eine Frage des klinischen Augenmasses. Für die Zunahme von Hyperkaliämiekomplikationen war zudem sicher auch eine weitere Änderung der Behandlungspraxis wichtig, die in den letzten Jahren zunehmende Akzeptanz fand: die Verschreibung von Betablockern bei Patienten mit Herzinsuffizienz. Beide Faktoren zusammen könnten zum hier beobachteten, unerwünschten Phänomen beigetragen haben, vermuten John J.V. McMurray und Eileen O’Meara. Bei empfindlichen Personen ist die Kaliumhomöostase etlichen gefährdenden Einflüssen ausgesetzt. Die bemerkenswerte Fähigkeit der Nieren, Kalium auch bei abnehmender glomerulärer Filtrationsrate auszuscheiden, beruht vornehmlich auf einer Adaptation des distalen Tubulus. Diese ist auf genügend Natrium und ausreichendes Urinvolumen im distalen Tubulus und auf ein Mindestmass an Aldosteron angewiesen. Die Aldosteronproduktion ist im Alter ohnehin vermindert, ebenso bei Patienten unter Medikamenten, die Renin (Betablocker) oder Angiotensin II (ACE-Hemmer, A-II-Antagonisten) blockieren. Auch NSAR unterdrücken die Renin-Freisetzung, und Diabetes ist mit einem hyporeninämischen Hypoaldosteronismus assoziiert. Selbstverständlich können auch externe Kaliumzufuhr, kaliumsparende Diuretika sowie eine Abnahme der glomerulären Filtrationsrate durch Volumenverarmung und Hypotonie die Kaliumhomöostase beeinträchtigen. Die Ontario-Studie und andere Merk- sätze q Die RALES-Studie zeigte bei Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz, dass die Zugabe von Spironolacton zu einer Standardtherapie (inkl. ACE-Hemmer) einen signifikanten Behandlungsgewinn bringt. q Die Umsetzung der Empfehlung für Spironolacton führte in der kanadischen Provinz Ontario zu einer abrupten Zunahme von Spironolacton-Verschreibungen und von Hyperkaliämie-bedingten Hospitalisationen und Todesfällen. q Bei der Übernahme neuer Therapien in die Alltagspraxis sind in jedem Einzelfall vernünftiges Abwägen, Vorsicht und Sorgfalt zu fordern. Berichte lassen den Schluss zu, dass oft mehrere der erwähnten Faktoren zusammenspielen. So waren die Patienten deutlich älter als in RALES, hatten initial höhere Kreatininspiegel (in RALES waren Werte über 2,5 mg/dl [221 mmol/l] Ausschlusskriterium) und umfassten einen hohen Anteil an Frauen. Warum setzten viele Ärzte in der Praxis höhere Dosen ein als in der RALES-Studie? Hier vermuten die Kommentatoren, dass die seit langem bekannte Substanz Spironolacton und das Fehlen der bei der Einführung neuer Präparate üblichen Informationskampagnen eine Rolle spielte. Auch sind das Augenmerk auf mögliche Nebenwirkungen und die Intensität der Überwachung bei einem neuen Wirkstoff sicherlich grösser. Zum Schluss kommen die Kommentatoren zu fünf Forderungen: 1. In klinischen Studien sind die Einschlusskriterien so breit und die Ausschlusskriterien so eng wie nur möglich zu fassen, damit die Ergebnisse auch für die meisten Patienten der Alltagspraxis relevant sind. 2. Es muss Anliegen von Sponsoren und Studienleitern sein, die Ärzteschaft im sorgfältigen Einsatz einer Studienmedikation anzuleiten. 3. Ärzte, die eine neu empfohlene Therapie übernehmen, müssen sich völlig mit den Bedingungen, unter denen sie in der Studie eingesetzt wurde, mit Kontraindiaktionen, Vorsichtsmassnahmen, Nebenwirkungen und Interaktionen vertraut machen. 4. Guidelines sollten sich nicht nur mit Empfehlungen für Behandlungen begnügen, sondern auch zum konkreten Einsatz Aussagen machen. 5. Mehr vernetzte Datenbanken sind notwendig und sollten auch interessierten Forschergruppen und formellen PostMarketing-Überwachungsprogrammen offen stehen. Unter nochmaligem Hinweis auf die guten RALES-Ergebnisse – unter jenen Bedingungen liessen sich in zwei Jahren auf 100 mit Spironolacton behandelte Patienten 11 vorzeitige Todesfälle und 8 Hospitalisationen verhüten – schliessen die Kommentatoren: «Um den Nutzen zu maximieren, müssen wir akzeptieren, dass die moderne Herzinsuffizienztherapie eine komplexe, sorgfältig veranlasste und überwachte Polypharmazie erfordert.» 1 David N. Juurlink et al. (Departemnt of Medicine, University of Toronto, Toronto/ CAN): Rates of hyperkalemia after publication of the randomized aldactone evaluation study. N Engl J Med 2004; 351: 543–551. 2 John J.V. McMurray, Eileen O’Meara (Department of Cardiology, Western Infirmary, Glasgow/UK): Treatment of heart failure with spironolactone – trials and tribulations. N Engl J Med 2004; 351: 526528. q Halid Bas Interessenkonflikte: Die Studie von D. Juurlink et al. wurde durch Gelder verschiedener kanadischer Förderungsinstitutionen ermöglicht. J. McMurray deklariert Forschunsgelder von Novartis und AstraZeneca sowie Beratertätigkeit für diese Firmen und Pfizer sowie Takeda. A R S M E D I C I 1 7 q 2 0 0 4 871