Transkript
STUDIE q ETUDE
Nur mit Diät kontrollierter Typ-2-Diabetes
Eine Querschnittsuntersuchung aus englischen Allgemeinpraxen
THE LANCET
Diät oder Tabletten? Engli-
sche Allgemeinpraktiker
scheinen die Frage nicht
durchgehend nach den auf
Ergebnissen klinischer
Studien basierenden Empfeh-
lungen zu entscheiden.
Eine konsequente Blutzuckerkontrolle reduziert bei Typ-1- und Typ-2-Diabetikern das Risiko mikrovaskulärer Komplikationen, wie gleich mehrere grosse Studien gezeigt haben. Die Umsetzung der Resultate von randomisierten kontrollierten klinischen Studien in die Alltagspraxis braucht jedoch Zeit. Anekdotische Evidenz, so die Autoren dieser «Lancet»-Studie, weist darauf hin, dass die Vorstellung eines «leichten» Diabetes, der keiner besonders intensiven Therapie bedarf, durchaus noch am Leben ist. Solche Patientinnen und Patienten werden dann am ehesten nur diätetisch behandelt.
Methodik Anhand der umfangreichen Datenbank mit den elektronischen Krankengeschichten aus der Grundversorgung erfassten J. Hippisley-Cox und M. Pringle bei 253 618 Patienten aus 42 Allgemeinpraxen der englischen Region Trent den Anteil der nur mit Diät behandelten Typ-2-Diabetiker, die Häufigkeit von diabetischen Kom-
plikationen und verschiedene Parameter für die Behandlungsqualität.
Resultate In der Gesamtpopulation waren 8626 Zuckerkranke (Prävalenz 3,4%). Von diesen hatten 8,8 Prozent einen Typ-1-Diabetes und 59,5 Prozent einen medikamentös behandelten Typ-2-Diabetes. 2700 Patientinnen und Patienten (31,3%) litten an einem Typ-2-Diabetes, der nicht mit Medikamenten behandelt wurde, was die Autoren dahin interpretieren, dass diese Patienten nur mit Diät behandelt wurden. Bemerkenswert ist, dass dieser Anteil zwischen den untersuchten 42 Allgemeinpraxen sehr stark – zwischen 15,6 und 73,2 Prozent – schwankte. Wie Tabelle 1 zeigt, waren die nur diätetisch behandelten Typ-2-Diabetiker hinsichtlich wichtiger Parameter wie HbA1c, Cholesterin, Kreatinin, Blutdruck und Mikroalbuminurie signifikant seltener abgeklärt worden als die mit Antidiabetika medikamentös behandelten Patienten.
Merk-
sätze
q In einer Querschnittsuntersuchung von 42 Allgemeinpraxen in England zeigte sich, dass fast ein Drittel der Typ-2-Diabetiker lediglich mit Diät behandelt werden.
q Bei diesen Patienten fallen die Abklärungen und die RoutineÜberwachung deutlich weniger intensiv aus, obwohl sie hohe Komplikationsraten zeigen.
Tabelle 2 zeigt wiederum anhand der elektronischen Krankengeschichten, dass zwischen den beiden Diabetikerkollektiven auch deutliche Unterschiede bei den registrierten Zielwerten für wichtige Risikofaktoren bestanden. Zwar hatten die nur mit Diät Behandelten seltener erhöhte
Tabelle 1: Abklärungen bei Typ-2-Diabetikern
medikamentös
behandelte Pat.
laut den elektronischen
Patientendaten jemals erfasst:
HbA1c
85,6%
Cholesterin
88,9%
Kreatinin
92,0%
Blutdruck
98,9%
BMI 94,4%
Raucherstatus
96,8%
Mikroalbuminurie
18,5%
Retina-Screening
9,8%
Fusspulse
49,8%
neurolog. Status
0,3%
nur diätetisch behandelte Pat.
p-Wert
59,2% 81,2% 79,5% 96,8% 91,3% 93,7% 8,5% 7,0% 34,8% 0,1%
< 0,0001 < 0,0001 < 0,0001 < 0,0001
0,038 0,008 < 0,0001 0,04 0,001 0,48
872 A R S M E D I C I 1 7 q 2 0 0 4
STUDIE q ETUDE
Nur mit Diät kontrollierter Typ-2-Diabetes
HbA1c-Werte, aber von denjenigen, bei denen dieser Wert überhaupt vorlag, hatten doch 17,3 Prozent ein HbA1c > 7,4 Prozent. Sofern Messwerte vorlagen hatten die diätetisch im Vergleich zu den medikamentös Behandelten öfter ein zu hohes Cholesterin (46,7% vs. 39,7%). Trotz erhöhter Cholesterinwerte erhielten von den nur mit Diät Behandelten mehr Patienten kein Statin als unter denjenigen, denen eine medikamentöse blutzuckersenkende Medikation verschrieben worden war (65,6% vs. 55,0%). Insgesamt hatte ein beträchtlicher Anteil der Typ-2-Diabetiker einen Blutdruck über den Zielwerten (140/85 mmHg); in der Diätgruppe war dieser Anteil nur marginal höher (Tabelle 2). Auch bei der antihypertensiven Therapie war bei den nur mit Diät behandelten Diabetikern weniger energisch und wohl auch weniger zweckmässig vorgegangen worden: Deutlich mehr erhielten überhaupt keine Antihypertensiva, und wenn, dann häufiger Thiazide und seltener Kalziumantagonisten oder ACEHemmer. Tabelle 3 zeigt die Häufigkeit mikro- und makrovaskulärer Komplikationen bei den hier erfassten Typ-2-Diabetikern im Vergleich zu Patienten ohne Diabetes. Insgesamt hatten von den medikamentös behandelten Typ-2-Diabetikern 80,0 Prozent mindestens eine derartige Komplikation, bei den mit Diät Behandelten 67,9 Prozent. Unabhängig von der eingeschlagenen Therapie hatten die Typ-2-Diabetiker ein deutlich höheres Komplikationsrisiko als die nichtdiabetischen Patienten.
Diskussion Diese Querschnittsuntersuchung hat ergeben, dass beinahe ein Drittel aller Patienten mit Diabetes lediglich diätetisch behandelt werden und dass unter diesen Komplikationen häufig sind, das RoutineMonitoring aber viel seltener durchgeführt wird als bei den Patienten unter einer blutzuckersenkenden Medikation. Dies könnte damit zusammenhängen, dass Anreiz und Gelegenheiten für Laborabklärungen geringer sind, wenn nicht ständig Rezepte erneuert werden müssen. Oder, so vermuten die Autoren, es könnte ein Hinweis darauf sein, dass Patienten
Tabelle 2: Nicht erreichte Zielwerte bei Typ-2-Diabetikern
HbA1c > 7,4% Cholesterin > 5 mmol/l Kreatinin > 120 mmol/l Blutdruck > 140/85 mmHg BMI > 30 kg/m2
medikamentös behandelte Pat.
38,4% 39,7% 9,4% 41,6% 48,0%
nur diätetisch behandelte Pat.
17,3% 48,7% 10,0% 42,9% 35,7%
Odds Ratio (95%-KI)
0,29 (0,22–0,37) 1,45 (1,22–1,72) 0,99 (0,81–1,21) 1,17 (1,02–1,33) 0,61 (0,54–0,70)
Tabelle 3: Makro- und mikrovaskuläre Komplikationen bei Typ-2-Diabetikern und Nichtdiabetikern
Gefässerkrankungen insgesamt Hypertonie ischäm. Herzerkrankung Hirnschlag kongest. Herzinsuffizienz Vorhofflimmern periphere Gefässerkrankung Retinopathie Glaukom Blindheit/Sehbehinderung Neuropathie Amputation oder Fussulkus Nierenerkrankung
Pat. ohne Diabetes 13,75% 10,29%
3,47% 1,73% 1,01% 1,09% 1,07% 0,005% 1,3% 0,5% 1,4% 0,4% 1,3%
medikamentös behandelte Pat.
70,3% 56,2% 23,8% 9,7% 8,7% 5,8% 7,6% 18,3% 10,0% 2,6% 16,5% 4,0% 9,6%
nur diätetisch behandelte Pat.
59,3% 47,2% 17,7% 8,3% 5,9% 6,6% 4,9% 7,4% 7,7% 2,3% 9,4% 2,3% 8,6%
und Ärzte glauben, dass ein mit Diät allein behandelter Diabetes weniger ernst zu nehmen sei als ein medikamentös kontrollierter. Die übrigen Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass dies nicht zutreffend ist. Am meisten beunruhigen muss in diesem Zusammenhang, dass auch die nur diätetisch behandelten Typ-2-Diabetiker eine hohe Komplikationsrate zeigen, die in jedem Fall viel höher liegt als bei Nichtdiabetikern. Anlass zu Sorge sei die Inkonsistenz bei der Entscheidung zum Einsatz einer rein diätetischen Therapie oder von Medikamenten. In manchen Praxen greift man eher zum Rezeptblock als in anderen. Wo eher auf Diät gesetzt wird, sind die Abklärungen weniger eingehend. Obwohl einige Menschen mit Typ-2-Diabetes mittels Diät allein effektiv behandelt werden können, wie die
Autoren einräumen, sei dennoch für eine bessere Routine-Überwachung dieser Patienten zu plädieren. Und für eine intensivere Therapie, wenn Blutzucker, Blutdruck oder Blutfette nicht optimal einzustellen sind oder irgendwelche diabetische Komplikationen auftreten.
J. Hippisley-Cox, M. Pringle (Division of
General Practice, Tower Building Univer-
sity Park, Nottingham/UK): Prevalence,
care, and outcomes for patients with diet-
controlled diabetes in general practice:
cross sectional survey. Lancet 2004; 364:
423–428.
q
Halid Bas
Interessenlage: Die Autoren deklarieren keine finanziellen Interessenkonflikte.
A R S M E D I C I 1 7 q 2 0 0 4 873