Transkript
FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE
Tiefe Venenthrombose
Diagnose, Abklärung und Management
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Die tiefe Venenthrombose ist
eine wichtige Ursache von
Morbidität und Mortalität. Die
Übersicht ordnet den Stellen-
wert von Klinik, D-Dimer-Tests
und bildgebenden Verfahren
ein und befürwortet die
ambulante Behandlung.
Die venöse thromboembolische Erkrankung hat in entwickelten Ländern eine geschätzte jährliche Inzidenz von 1 auf 1000 Einwohner. Der Verlauf einer tiefen Venenthrombose reicht von völliger Auflösung des Gerinnsels ohne Folgen bis zur tödlichen Lungenembolie. Zur konsekutiven Morbidität gehört das postthrombotische Syndrom mit chronischem Extremitätenschmerz, Hautveränderungen, Ulzera und venöser Gangrän. Schmerzen und Schwellung der unteren Extremität kommen in der Alltagspraxis häufig vor und bieten ein weites Spektrum von Differenzialdiagnosen (Tabelle 1). In ihrer Übersicht im «British Medical Journal» (1) erinnern Clive Tovey und Suzanne Wyatt daran, dass es keine diagnostische Abklärungsmethode der tiefen Venenthrombose gibt, die wirklich ideal ist, also eine 100-prozentige Sensitivität und Spezifität bei geringen Kosten und fehlendem Risiko bietet.
Diagnostische Methoden
Klinische Diagnose Bei der tiefen Venenthrombose der unteren Extremität ist die klinische Diagnose unzuverlässig. Im Einzelfall sind Beschwerden und Symptome von geringem Wert, und auch das Homanns-Zeichen (Wadenschmerz bei Dorsalflexion des Fusses) ist wertlos. An grösseren Patientenzahlen wurde ein klinisches Modell prospektiv validiert, das aufgrund von Anamnese und Befunden eine Abschätzung erlauben soll, ob eine geringe, intermediäre oder hohe Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer tiefen Venenthrombose vorliegt (Tabelle 2). Dieses Modell ist in verschiedenen diagnostischen Algorithmen eingesetzt worden, um die Zahl notwendiger Tests bei Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf tiefe Venenthrombose zu verringern.
Screening-Tests Diese Wahrscheinlichkeitsüberlegung ist jedoch kein wirklich sicheres Ruhekissen, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie von Philip S. Wells zeigte (2). Anhand des klinischen Modells kategorisierten die beteiligten Ärzte bei 1000 ambulanten Patienten den Verdacht auf tiefe Venenthrombose als entweder wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Die Patienten wurden dann entweder zu einer direkten Ultraschalluntersuchung (Kontrollgruppe) oder zu einem D-Dimer-Test mit folgendem Ultraschall randomisiert. In dieser Gruppe wurde auf eine Ultraschalluntersuchung nur dann verzichtet, wenn die klinische Wahrscheinlichkeit gering und der D-Dimer-Test negativ war. Die Gesamtprävalenz von tiefer Venenthrombose und Lungenembolie betrug 15,7 Prozent. Unter den Patienten, bei
Tabelle 1:
Mögliche Ursachen für eine Schwellung der unteren Extremität
venös: q tiefe Venenthrombose
q oberflächliche Thrombophlebitis
q postthrombotisches Syndrom
q chronische venöse Insuffizienz
q venöse Obstruktion
andere: q Zellulitis
q Baker-Zyste
q Gastrocnemius-Muskelriss
q Fraktur
q Hämatom
q akute arterielle Ischämie
q Lymphödem
q Hypoproteinämie (z.B. Zirrhose, nephrotisches Syndrom)
denen eine tiefe Venenthrombose mit dem initialen diagnostischen Vorgehen ausgeschlossen worden war, kam es in der D-Dimer-Gruppe zu 2 bestätigten thromboembolischen Ereignissen (0,4%, 95%-KI 0,05–1,5%) und in der Kontrollgruppe zu 6 Ereignissen (1,4%, 95%-KI 0,5–2,9%). Der Einsatz des D-Dimer-Tests führte zu einer signifikanten Reduktion der Ultraschalluntersuchungen von 1,34 Tests pro Patient in der Kontrollgruppe auf 0,78 in der D-Dimer-Gruppe. In dieser Gruppe benötigten 39 Prozent der Patienten keinen Ultraschall. Bei klinisch unwahrscheinlicher tiefer Venenthrombose und negativem D-Dimer-Test, so die Schlussfolgerung der Autoren, kann also auf eine
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FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE
Tiefe Venenthrombose
Tabelle 2: Klinisches Modell zur Schätzung der Vortest-Wahrscheinlichkeiten einer tiefen Venenthrombose nach Wells
Klinisches Symptom Aktives Tumorleiden (unter aktueller Therapie oder Palliativbehandlung
oder Therapie innert der letzten 6 Monate) Paralyse, Parese oder kürzliche Immobilisation
(Schienung der unteren Extremitäten) Kürzlich während mehr als 3 Tagen bettlägerig
oder grösserer chirurgischer Eingriff innert der letzten 4 Wochen Lokalisierte Druckempfindlichkeit entlang dem tiefen Venensystem Ganzes Bein geschwollen Wadenschwellung > 3 cm im Vergleich zum asymptomatischen Bein
(gemessen 10 cm unter Tuberositas tibiae) Eindellbares Ödem (ausgeprägter im symptomatischen Bein) Vorhandensein von oberflächlichen Kollateralvenen (keine Varikosis) Alternative Diagnose gleich wahrscheinlich oder wahrscheinlicher als TVT
Score
1
1
1 1 1
1 1 1 -2
Auswertung: Punktezahl 0 oder < 0 1 oder 2 3 oder mehr Wahrscheinlichkeit einer TVT Gering Mittel Hoch Wahrscheinlichkeit (%) 3–10 17–33 75–85 Tabelle 3: Prävalenz der TVT in den klinischen Wahrscheinlichkeitsgruppen Klinische Einschätzung TVT wahrscheinlich – davon TVT wirklich vorhanden Pat.-Zahl 495 138 Prävalenz 45,7% 27,9% TVT unwahrscheinlich – davon TVT dennoch vorhanden 587 32 54,3% 5,5% (Konfidenzintervall 3,8–7,6) Ultraschalluntersuchung gefahrlos verzichtet werden. Die Studie liefert aber unter praktischen Gesichtspunkten einen weiteren Hinweis, den der Zürcher Angiologe Werner Blättler kürzlich in einer Leserzuschrift (AM 14/04, S. 714) erwähnt hat: Wenn die klinische Wahrscheinlichkeitsüberlegung zur Diagnose gemacht wird, beträgt das Risiko, eine tiefe Venenthrombose zu übersehen, mehr als 5 Prozent (Tabelle 3). Als Screeningtests diskutieren denn auch Clive Tovey und Suzanne Wyatt die D-Di- mer-Tests und verschiedene Plethysmografie-Methoden beim Spezialisten. Die Plasma-D-Dimere sind spezifische vernetzte Derivate, die entstehen, wenn Fibrin durch Plasmin abgebaut wird; entsprechend ist ihre Konzentration bei venösem Thromboembolismus erhöht. Die D-Dimere sind zwar auf dieses Krankheitsgeschehen sensitiv, hohe Konzentrationen sind jedoch nicht ausreichend spezifisch zur Stellung einer positiven Diagnose, da sie auch bei anderen Zuständen wie Malignomerkrankung, Schwangerschaft oder nach Operationen vorkommen können. Insgesamt haben D-Dimer-Tests aber einen hohen negativen prädiktiven Wert und erlauben zusammen mit der Klinik den Ausschluss der Diagnose. Es existieren verschiedene Formen des D-Dimer-Tests, so ein Labortest (Dimertest® Gold EIA) oder – für die Praxis geeignet – Simplify™ und SimpliRED®. Es gibt auch Hinweise, dass nach dem Ende der Antikoagulation ein D-Dimer-Test das Risiko einer erneuten Thrombose abschätzen lässt. Definitive Diagnose Die definitive Diagnose einer tiefen Venenthrombose erfolgt durch ein bildgebendes Verfahren, das den Thrombus sichtbar macht. Der Goldstandard ist dabei zwar die Phlebografie, das Verfahren ist jedoch invasiv, technisch nicht immer durchführbar und trägt ein kleines Risiko einer allergischen Reaktion oder venösen Thrombose. Als beste nichtinvasive Methode hat sich die Ultrasonografie etabliert, die in Vergleichsstudien mit der Phlebografie bei tiefer proximaler Venenthrombose eine Sensivität und Spezifität von 97 Prozent erreicht. Bei der Unterschenkelvenenthrombose ist die Ultraschalluntersuchung jedoch nicht zuverlässig, mahnen Clive Tovey und Suzanne Wyatt, denn hier beträgt die Sensitivität selbst bei symptomatischer Thrombose nur 75 Prozent. Das einfachste Ultraschallkriterium ist die Nichtkomprimierbarkeit des Gefässlumens unter sanftem Schallkopfdruck (Kompressions-Ultraschall). Eine genauere Beurteilung des venösen Abflusses erlauben die Doppler-Sonografie und die Farb-Doppler-Darstellung. Bei Unterschenkelthrombose können die Ultraschalltechniken zunächst versagen. In solchen Fällen kann die Ultraschalluntersuchung nach fünf Tagen wiederholt werden. Eine weitere Möglichkeit, die jetzt durch die erwähnte Studie von Wells et al. gestützt wird, ist die Kombination mit dem D-Dimer-Test und der Verzicht auf eine erneute Ultraschalluntersuchung, wenn beide Diagnosemethoden negativ waren. Vorläufig aus Kostengründen für einen 812 A R S M E D I C I 1 6 q 2 0 0 4 FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE Tiefe Venenthrombose breiten Einsatz sicher nicht geeignet sind Spiral-Computertomografie und Magnetresonanz-Darstellung (MRI). Therapie Traditionell bestand das initiale Management bei tiefer Venenthrombose in der Hospitalisierung und kontinuierlichen intravenösen Therapie mit unfraktioniertem Heparin. Anschliessend erfolgte eine orale Antikoagulation mit einer Ziel-INR von 2,5 über sechs Monate, wobei die Dauer der Antikoagulation umstritten bleibt. Heute haben die niedermolekularen Heparine (NMH) – Certoparin (Sandoparin®), Dalteparin (Fragmin®), Enoxaparin (Clexane®) und Nadroparin (Fraxiforte®, Fraxiparine®) – einen bedeutsamen Wandel gebracht. Ihre Vorteile sind eine konsistentere und besser vorhersagbare Antikoagulationsantwort, eine längere Halbwertszeit mit der Möglichkeit der einmal täglichen subkutanen Verabreichung sowie die fehlende Notwendigkeit der Überwachung der partiellen Thromboplastinzeit. NMH sind hinsichtlich rezidivierender venöser Thromboembolien mindestens so effektiv wie unfraktioniertes Heparin und verringern statistisch signifikant das Risiko für massive Blutungen in der Initialtherapie und die Gesamtmortalität. Bei Patienten mit Kontraindikationen für orale Antikoagulanzien kann zudem die NMH-Langzeittherapie eine Alternative sein. Dies ist besonders bei Thrombosen in der Schwangerschaft bedeutsam. Thrombolytika können zwar zu einer rascheren Auflösung des Thrombus und Symptomreduktion und zu einer besseren Erhaltung der venösen Klappen führen, das Risiko von Blutungskomplikationen ist jedoch dreifach erhöht, weshalb Thrombolytika heute kaum noch eingesetzt werden. Fondaparinux (Arixtra®) ist ein synthetisches Pentasaccharid, das den aktivierten Faktor X hemmt. Die Substanz ist zur Pro- Merk- punkte q Die klinische Diagnose ist bei der tiefen Venenthrombose unzuverlässig. q Screening-Abklärungen umfassen D-Dimer-Tests und Plethysmografie-Verfahren q Die definitive Diagnose erfolgt normalerweise durch Ultraschall oder Phlebografie. q Die Initialbehandlung besteht aus unfraktioniertem oder – heute bevorzugt – niedermolekularem Heparin, gefolgt von oraler Antikoagulation. q Die ambulante Behandlung der tiefen Venenthrombose gilt als sicher. phylaxe venöser thromboembolischer Ereignisse im Rahmen orthopädischer Eingriffe zugelassen. Der potenzielle Einsatz zur Behandlung tiefer Venenthrombosen ist noch nicht abschliessend evaluiert. Speziellen Situationen ist der Einsatz eines Vena-cava-inferior-Filters vorbehalten, etwa bei Lungenembolismus mit Kontraindikation für die Antikoagulation oder bei rezidivierenden Lungenembolien trotz adäquater Antikoagulation. Gut abgestützt ist hingegen die Empfehlung, dass Patientinnen und Patienten mit tiefer Venenthrombose Kompressionsstrümpfe tragen sollen. In einer Studie mit 194 Fällen einer erstmaligen proximalen Thrombose konnte durch genau angepasste Kompressionsstrümpfe das Risiko für ein postthrombotisches Syndrom halbiert werden. Ambulante Therapie Durch die NMH ist heute eine ambulante Behandlung tiefer Venenthrombosen möglich. Inzwischen haben viele Studien dieses Vorgehen mit der initialen Hospitalisation verglichen. Zwar waren die meisten Untersuchungen unkontrolliert, ihre etwas eingeschränkte Evidenz zeigt jedoch, dass die Behandlung zu Hause kosteneffektiv ist, von den Patienten vorgezogen wird und nicht zu mehr Komplikationen führt als die Spitalbehandlung. Das genaue Muster von Screening- und diagnostischen Tests hängt von den lokalen Gegebenheiten ab. Weitere Untersuchungen, um der Thrombose zugrunde liegende Ursachen oder Prädispositionen aufzudecken, sind sinnvoll. Insbesondere sind bei Personen über 45 Jahre Krebserkrankungen und Immobilisierung führende Ursachen für eine tiefe Venenthrombose, bei jüngeren eine Thrombophilie. 1. Clive Tovey, Suzanne Wyatt (Prince Charles Hospital, Merthyr Tydfil, Glam- organ/UK): Diagnosis, investigation, and management of deep vein thrombosis. Brit Med J 2003; 326: 1180–1184. 2. Philip S. Wells (Departments of Medi- cine, Radiology, and Emergency Medicine, Ottawa Hospital, University of Ottawa, Ottawa/CAN) et al.: Evaluation of d-dimer in the diagnosis of suspected deep-vein thrombosis. N Engl J Med 2003; 349: 1227–1235. q Halid Bas Interessenkonflikte: Der Autor CT deklariert Zuwendungen der Firma Pharmacia, die Fragmin® herstellt. 814 A R S M E D I C I 1 6 q 2 0 0 4