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LITERATURq LITTÉRATURE
Was ist Medizin?
Der Sinologe und Medizinhistoriker Paul Unschuld diskutiert östliche und westliche Wege der Heilkunst
JOSEF AMREIN
Westliche und östliche Medi-
zin gelten als Gegensätze: der
westlichen wird nachgesagt,
sie sei reduktionistisch, heile
das Symptom, die chinesi-
sche, ganzheitliche Medizin
hingegen packe das Übel an
der Wurzel. Doch stimmt das?
In den letzten Jahrzehnten fand eine Annäherung der widerstrebenden medizinischen Systeme in Ost und West statt. Bei uns greift man mittlerweile gerne zur Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), allerdings in verwestlichter Form. So nennt die WHO heute im Sinne der Komplementarität des Yin und Yang (das eine ist ohne das andere nicht denkbar) rund 80 Indikationen für die Akupunktur, die in der Schweiz zur Pflichtleistung der Krankenkassen gehören. Umgekehrt findet die westliche Medizin in China seit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 immer grössere Zustimmung. Eine vergleichende Darstellung europäischer und chinesischer Heilkunst von der Antike bis in die Gegenwart liefert der Sinologe und Vorsteher des Instituts für Geschichte und Medizin der Universität München, Paul U. Unschuld, in seinem Buch «Was ist Medizin? Westliche und östliche Wege der Heilkunst». Es ist keine
herkömmliche Geschichte der Medizin wollte man sich vom Dämonenglauben,
mit einer Aneinanderreihung und Wür- magischen Vorstellungen oder den von
digung herausragender Entdeckungen. Göttern geschickten Krankheiten verab-
Vielmehr skizziert er Zusammenhänge so- schieden. In Griechenland breitete sich
wie den gesellschaftlichen und histori- um das fünfte Jahrhundert vor Christus
schen Kontext, in dem die beiden Heil- die Viersäftelehre aus. Das Interesse galt
systeme zur Entfaltung kommen konnten. dem Mischungsverhältnis der Säfte, dem
Wie war es möglich, dass die Chinesen Substrat, wie der Sinologe und Mediziner
bereits vor Christi Geburt eine ähnliche Unschuld erklärt. Nur 200 Jahre später
Kenntnis über die zwei geschlossenen wurden die Grundsteine der chinesischen
Blutkreisläufe besassen, von denen sie Medizin gelegt: die Yin-Yang-, die Fünf-
annahmen, dass in ihnen das Blut wie in phasen-Lehre (Holz, Feuer, Erde, Metall,
einem Ring ohne Anfang und Ende zirku- Wasser) und diejenige der systematischen
liert, wie sie unserem heutigen Wissens- Entsprechungen. Beide Heilsysteme hat-
stand entspricht? In der abendländischen ten über mehr als zwei Jahrtausende
Medizin hingegen liess die Entdeckung Bestand. Neben dem wissenschaftlichen
des Blutkreislaufes durch den Londoner Mainstream lebten Magie und Dämonen-
Arzt William Harvey (1578–1657) bis zum glauben weiter. Dies gilt bis heute.
Jahre 1628 auf sich warten. Leichenöff- Unschuld stellt nun die These auf, dass
nungen fanden in China erst im 11. Jahr- diese Unterschiede im gesellschaftlichen
hundert statt. Galen, der wohl berühmte- Kontext beziehungsweise vor dem Hinter-
ste griechische Arzt (130–203 n. Chr.), grund der damaligen politischen Umwäl-
hatte zwar eine detailgetreue Anatomie zungen zu verstehen seien: In Griechen-
der Organe und der Blutbewegungen land zerfielen die Königreiche in eine
vom Herz weg beschrieben, doch der Unzahl von unabhängigen politischen Ge-
Blick auf einen Kreislauf blieb ihm ver- bilden, so genannte Polisdemokratien. In
sperrt, obwohl er in Rom öffentlich Tiere China hingegen formierte sich nach lan-
seziert haben soll. Worauf gründen diese gen traumatischen Kriegswirren im Jahr
unterschiedlichen Sichtweisen?
221 vor Christus das Kaiserreich. Diese
“ Politische Ordnungen finden
ihre Abbilder in den Formulierungen
”der Heilsysteme
neuen politischen Ordnungen hätten ihre Abbilder in den Formulierungen der Heilsysteme gefunden. «Die Polisdemokratie», so der Medizinhistoriker Georg Harig, «rückte zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte den Men-
Aufschluss darüber gibt ein Blick auf die schen als ein politisches Individuum aus
Anfänge: Unabhängig voneinander und der Anonymität in den Mittelpunkt des
in nur geringem Zeitabstand entstanden gesellschaftlichen Geschehens und setzte
in Ost und West je eine erste naturwissen- die Auffassung durch, dass die Gesell-
schaftliche Medizin, die Gesetzmässigkei- schaft als eine Gemeinschaft von gleich-
ten im Kampf gegen Krankheiten, gegen wertigen Individuen zu verstehen ist. Diese
den Willen der Natur formulierte. Dabei Entwicklung bildete den gesellschaftlichen
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Hintergrund für die Bemühungen der wissenschaftlichen Medizin». Die Gesundheit wurde fortan als (individuelle) Harmonie unter den vier Säften (Blut, gelbe und
wie für «ordnend eingreifen». Die chinesischen Kreislaufvorstellungen sind aus gegenwärtiger psychologischer Sicht als
“ In Europa forscht man, weil das wahre Wissen
schwarze Galle, Schleim) verstanden, dies Projektionen von sozioökonomistreng nach den neuen Prinzipien des schen Wahrnehmungen auf den
in der Zukunft liegt,
Staates: Nur Ausgewogenheit aller Betei- Körper zu verstehen. Sie sollten ligten garantierte Harmonie und Frieden sich, nicht nur was den Blut-
in China forscht man nicht,
in der Polis. Schadstoffe (eine falsche Mi- kreislauf anbelangte, später als schung der Säfte) wurden eliminiert: richtig erweisen. Den autarken
weil das wahre Wissen in den
durch Aderlass, Erbrechen, Abführen, Polisdemokratien (ohne wesentSchwitzen. Wenn nichts half, wurde das liche Handelsstrassen), so Un-
Büchern der Antike
Messer angesetzt. Für die Polis galt: Wer schuld, habe die Aufmerksam-
sich nicht einfügte, wurde ausgestossen. keit gegenüber grossräumigen bereits vollkommen zur Verfügung
Kein Geringerer als Sokrates musste dies erfahren. Den alten Griechen war der Glaube an
Beziehungen gefehlt. Medizinische Konzepte seien immer Spiegelbilder des jewei-
”steht.
Selbstheilungskräfte des Körpers, eine Art ligen staatlichen oder gesell-
eingebaute Teleologie der Harmonie, heute schaftlichen Umfeldes respektive wurzelten seine zentrale Rolle ab: Das Blut werde
(auch) Plazebo genannt, vertraut.
darin, ist Unschuld überzeugt: «Stets war von der Peripherie angezogen «und wie-
Nicht so in der chinesischen Medizin, die, es die wirkliche oder die angestrebte der zum Herzen zurückgeschickt. Jawohl!
rückblickend, als Abbild der autoritären Struktur menschlichen Zusammenlebens, Wer da glaubt, er könne in Berlin eine
Strukturen des Staates zu verstehen ist. die – gemeinsam mit Hinweisen aus der Zentralregierung einrichten, die über die
Die Körperorgane wurden, in Anlehnung Natur – die Anregungen für medizinische Peripherie bestimmt, dem sei ganz ein-
an die Organisation des Staates, in «In- Konzepte lieferte.» Diese banale, aber deutig entgegengerufen: Die Macht über
nenspeicher» oder «Gouverneure» (Herz, einleuchtende und kaum je so konse- den Fluss der Mittel liegt in der Peripherie!
Lunge, Leber) und «Aussenspeicher» oder quent vorgetragene These belegt der Au- Die Hauptstadt ist von den Lieferungen
«Paläste des Gouverneurs» (Magen, Darm, tor mit zahlreichen Beispielen bis in die abhängig! ... Dass das Herz überhaupt
Harnblase) zusammengefasst. Ein kom- Neuzeit.
schlägt, kommt daher, dass die Peripherie
plexes System von Leitbahnen, analog zu Erst als in Europa – zuerst in England – ihm das Blut zuschickt und nicht umge-
den Wasser-, Land- und Handelsstrassen grossräumiger Handel aufkam, die ersten kehrt.» (sic!)
des geeinten Reiches, durchzog und ver- Banken entstanden, Masse und Gewichte Auch spätere Errungenschaften der west-
band den Körper mit seinen Organen standardisiert wurden, wurde der Blick lichen Medizin, wie die Entdeckung der
(Palästen und Speichern). In diesem Kon- auf den grossen Körperkreislauf frei. Es Bakterien, das Denken in Systemen oder
zept hatte der Blutkreislauf schon früh sei- war wohl kein Zufall, dass ihr Entdecker, die Kybernetik, waren den Chinesen längst
nen festen Platz. Transportiert wurde der britische Arzt Harvey, selbst aus einer vertraut. Die westliche Medizin sei zu Ein-
neben dem Blut unter anderem auch das reichen Kaufmannsfamilie stammte, in sichten gelangt, die in China schon seit
so genannte Qi (eine Art Lebenskraft). Die deren Mittelpunkt Gespräche über «Han- zwei Jahrtausenden bekannt waren, so
Behandlung (beispielsweise mit Akupunk- del und Wandel» standen. «Harvey über- Unschuld. Dies dürfte die Aufnahme der
tur) hatte den unterbrochenen Fluss in trug die Magna Charta aus der englischen westlichen Medizin in China erleichtert
den Leitbahnen zu regulieren: beim Pa- Verfassungswirklichkeit auf die Verfas- haben. Richtet man jedoch den Fokus auf
tienten wie im Staat. Wohl nicht zufällig sung des menschlichen Organismus. Sein die Forschung, zeigen sich gewichtige Un-
ist (noch heute) der chinesische Terminus Vorbild war der König, als primus inter pa- terschiede, die Unschuld wie folgt zusam-
für «therapeutisch eingreifen» derselbe res. Das Herz als primus inter pares», so menfasst: «In Europa forscht man, weil
Unschulds Hypothese. Deutsch- das wahre Wissen in der Zukunft liegt, in
“ Harvey übertrug die Magna
Charta aus der englischen Verfassungs-
land, in dem noch bis ins 18. und 19. Jahrhundert viele kleine Königreiche und Herzogtümer existierten, war noch lange
China forscht man nicht, weil das wahre Wissen in den Büchern der Antike bereits vollkommen zur Verfügung steht.» Doch zeigen sich, was die Therapien anbelangt,
wirklichkeit auf die Verfassung des
nicht so weit. Selbst im 19. Jahr- bereits früh erstaunliche Parallelen: So finhundert sprachen medizinische den sich zum Teil identische Heilverfahren
”menschlichen Organismus.
Koryphäen wie Carl Heinrich wie medizinische Bäder, das Anlegen von Schulz (1798–1871) dem Herzen Kompressen, Massagen, das Schröpfen
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und auch der Aderlass (!), der dann um das Jahr 100 v. Chr. in China durch die Akupunktur abgelöst wurde. Beide Kulturen entwickelten eine differenzierte Pflanzenheilkunde mit ähnlicher Verwendung, beispielsweise für Rhabarberwurzel, Engelwurz, Zimt, Wegerich und so weiter. Interessant ist, dass im 19. Jahrhundert die chinesischen Behörden die Anwendung der Akupunktur als zu unsicher beurteilten und vorübergehend gar untersagten. Seefahrer und Missionare hatten das Verfahren kurz zuvor erstmals nach Europa gebracht. Die eindrückliche Vermischung von politischem mit medizinischem Gedankengut zeigte sich nicht nur beim Briten Harvey, sondern auch beim deutschen Arzt und Zellularpathologen Rudolf Virchow (1821– 1902), dem Begründer der modernen naturwissenschaftlichen Medizin. Die Lebens- und Naturkraft, von den Chinesen Qi, den Griechen Pneuma, später Seele genannt, hatte ausgedient: Die Ansicht, alles Leben folge gewöhnlichen Gesetzen der Physik und Chemie, setzte sich durch. Nun, Virchow war ein radikaler republikanischer Demokrat, der sich in Berlin auch politisch betätigte. Unverkennbar sind in seinen wissenschaftlichen Texten politische Allegorien: «Es ist daher keine Noth, dass wir durch unsere vielen Lebensherde die Einheit des lebenden Organismus verlieren. Freilich die Einheit im Sinne der Nervenpathologie sind wir ausser Stande
aufzuweisen. Der Spiritus rectus fehlt; es ist ein freier Staat gleichberechtigter, wenn auch nicht
“ Die lebende Welt gleicht
gleichbegabter Einzelwesen, der zusammenhält, weil die Einzelnen auf einander angewiesen sind, und weil gewisse Mittelpunkte
dem Produkt eines gigantischen
”Baukastens.
der Organisation vorhanden sind,
ohne deren Integrität den einzelnen Thei- schungsgelder in Projekte, in denen die
len ihr notwendiger Bedarf an gesundem Baukasten-Weltsicht vorangetrieben wird.
Ernährungsmaterial nicht zukommen kann.» Wie lange diese Sicht Bestand haben
Der Übergang in die moderne Medizin ist wird, muss offen bleiben.
nahtlos.
Fest steht aber, dass medizinische Denk-
Waren es zu Virchows Zeiten die Gesetze systeme weder in den letzten 2000 Jahren
der Physik, so sind es heute diejenigen der noch heute auf Beobachtungen am Pa-
Molekularbiologie, welche die Denkge- tienten basier(t)en. Dies gilt für West wie
bäude der Medizin errichten. Unschulds Ost.
q
These folgend, müsste das Körper(vor)bild
der Molekularbiologie dasjenige der Glo- Paul U. Unschuld: Was ist Medizin? West-
balisierung sein: eine Welt, so nah und so liche und östliche Wege der Heilkunst.
unterschiedslos zugleich. Regionale, kul- C.H. Beck. 2003, Preis: Fr. 33.60.
turelle und politische Gegensätze sind Paul U. Unschuld: Chinesische Medizin.
aufgehoben. In der Tat gilt dies auch für C.H. Beck. Wissen. 2003 Preis: Fr. 14.50.
die Medizin. Der französische Molekular-
biologe und Nobelpreisträger François Ja-
cob («Die Maus, die Fliege und der
Dr. med. Josef Amrein
Mensch») schreibt: «Alle Lebewesen er-
Medizinpublizist
weisen sich aus den gleichen, auf unter-
Seidenweg 63
schiedliche Weise angeordneten Modulen
Postfach
zusammengesetzt. Die lebende Welt
3000 Bern 9
gleicht dem Produkt eines gigantischen
Tel./Fax 031/302 75 76
Baukastens.» Der Markt fordert die eine
Welt und bekommt sie: Von den Men-
schenrechten bis hin zu den Genen. Je-
denfalls fliessen heute die meisten For- Interessenkonflikte: keine
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