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Epoetin alfa
Klassische und neue Anwendungsgebiete
ARCHIVES OF INTERNAL MEDICINE
Epoetin alfa ist bis heute bei
etwa drei Millionen Anämie-
patienten zum Einsatz gekom-
men. Neue pathophysiologische
und klinische Erkenntnisse
haben dazu geführt, dass das
Medikament eine Ausweitung
der Indikationsgebiete er-
fahren hat. Viele der aktuell
diskutierten neuen Anwen-
dungen sind aber noch ex-
perimentell, und ihr tatsäch-
licher Nutzen ist offen.
Rekombinantes humanes Erythropoetin (Epoetin alfa, Eprex®) war eines der ersten gentechnisch hergestellten Medikamente, das vor bald 20 Jahren in den klinischen Alltag einzog – zur Therapie der Anämie bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz. Ein Jahrzehnt später eroberte sich das Hormon auch einen Platz in der Anämietherapie bei mit Zidovudin (AZT) behandelten HIV-Patienten. Seither haben neue pathophysiologische und epidemiologische Erkenntnisse zu einer Ausweitung der Einsatzgebiete von Epoetin alfa geführt. Einige präklinische Studien
haben gezeigt, dass es sich bei Erythropoetin um ein pleiotropes Zytokin handelt, das neben antiapoptotischen auch antioxidative und neuroprotektive Effekte haben soll. In einem Review in den «Archives of Internal Medicine» stellt eine Autorengruppe die unterschiedlichen Anwendungsgebiete vor. Viele von ihnen sind dabei vorerst noch unzureichend durch zuverlässige klinische Studien abgesichert.
Chronische Niereninsuffizienz
Die neu propagierten Anwendungen von Epoetin alfa beziehen sich vor allem auf die frühzeitige Anämiebehandlung bei unterschiedlichen Grunderkrankungen. Dazu gehört vor allem die chronische Niereninsuffizienz. Hier spricht, nach Angaben der Autoren, manches dafür, dass die frühzeitige Korrektur einer beginnenden Anämie kardiovaskuläre Dysfunktionen zu verhindern imstande ist. Immerhin sind kardiovaskuläre Erkrankungen bei Niereninsuffizienz häufig, und die Anämie gilt als unabhängiger Risikofaktor. Deshalb könnte Epoetin alfa dazu beitragen, linksventrikulärer Dysfunktion, Herzinsuffizienz und Schlaganfall vorzubeugen. Wie bei Diabetikern, die auf einen optimalen Blutdruck eingestellt werden und auf ACE-Hemmer, um das Fortschreiten der Mikroalbuminurie zu verhindern, so dürfte auch die Anämiebehandlung bei beginnender Niereninsuffizienz den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen, spekulieren die Autoren. Ein näher liegendes Ziel der Epoetintherapie bei diesen Patienten ist die Erhaltung der Leistungsfähigkeit und der Lebensqualität. Eine prospektive Studie hat ergeben, dass sich bei Patienten mit beginnender Niereninsuffizienz Hämoglobin (Hb)- und Häma-
Merk-
sätze
q Epoetin alfa wird heute breit eingesetzt zur Behandlung einer Anämie bei Patienten mit Niereninsuffizienz, HIV/Aids und bei Krebspatienten.
q Epoetin alfa erhöht vielfach die Lebensqualität und senkt den Transfusionsbedarf, möglicherweise bedeutet die Therapie gelegentlich auch einen Überlebensvorteil. Bei Krebspatienten wurde jedoch auch ein erhöhtes Mortalitätsrisiko festgestellt.
q Als neue Anwendungsgebiete werden unter anderem ZNS-Erkrankungen, Hepatitis-C-Infektion oder kognitive Störungen erforscht. Die Datenlage ist aber aus klinischer Sicht noch völlig unzureichend. Derzeit laufende Studien müssen abgewartet werden.
tokritwerte nach 16 Wochen Epoetinbehandlung (1-mal wöchentlich) verbesserten, der Transfusionsbedarf sich deutlich verringerte und die Lebensqualität anstieg. Eine Epoetintherapie, die vor Beginn der Dialyse einsetzt, könnte möglicherweise auch einen Überlebensvorteil mit sich bringen, hoffen die Autoren. Einen Hinweis darauf liefert eine retrospektive Analyse bei 5000 Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz. Das geringste Mortalitätsrisiko wiesen dabei diejenigen auf, die frühzeitig mit Epoetin alfa behandelt
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Epoetin alfa
Erythropoietin
wird primär in der Niere sezerniert. Es stimuliert die Bildung und Ausreifung der Erythrozyten. Die Plasma-Erythropoietin-Konzentrationen bleiben relativ konstant bis zu einem Hb von 12 mg/ dl und steigen bei Hämoglobinabfall deutlich an. Nach 3 bis 4 Tagen setzt die Wirkung langsam ein. Klinische Effekte sind frühestens nach 2 bis 4 Wochen zu erwarten, es kann auch bis zu 6 Wochen dauern.
worden waren. Den grössten Überlebensvorteil hatten demnach Patienten mit einem Hämatokrit von über 31,8 Prozent vor Beginn der Dialyse. Der Überlebensvorteil war in den ersten 19 Monaten nach Dialyse erkennbar, auf längere Sicht verschwand er aber.
HIV/Aids
Anämie ist eine der häufigsten hämatologischen Begleiterkrankungen bei HIVoder Aids-Patienten, insbesondere bei fortgeschrittener Erkrankung. Die erste antiretrovirale Substanz, das Ziduvodin, führte in den damals verabreichten hohen Dosierungen zur Knochenmarksuppression und Anämie. Mehrere plazebokontrollierte Studien haben bestätigen können, dass Epoetin alfa den Hämatokrit bei diesen Patienten erhöht und der Transfusionsbedarf mit der Kankheitsprogression nicht zunimmt. Nachfolgende Studien ergaben, dass auch die subkutane Applikation einmal pro Woche den erwünschten Effekt einträgt. Mit der Einführung des HAART-Therapieregimes wurde dann Ziduvodin niedriger dosiert, und die Anämie erschien fortan als ein geringeres klinisches Problem. Allerdings haben, nach Darstellung der Autoren, jüngere Daten unter Beweis gestellt, dass auch nach Umstellung auf HAART oft noch eine leichtere Anämie bei den Patienten fortbesteht. Eine prospektive Kohortenstudie über durchschnittlich zwei Jahre ergab, dass die Mortalität der
Patienten mit einem Hb zwischen 9 und 11 g/dl um das 1,7fache erhöht war und dass umgekehrt bei Rückbildung der Anämie das Sterblichkeitsrisiko in dem Zeitraum um 40 Prozent sank gegenüber denen, die anämisch blieben. Die Gabe von Epoetin, so schlussfolgern die Autoren, dürfte bei HIV-Patienten wohl gerechtfertigt sein, sobald der Hb-Wert abfällt.
Krebs
Eine Tumoranämie tritt häufig bei Krebspatienten auf. Sie ist Teil der Erkrankung und wird oft durch Chemo- oder Strahlentherapie noch verstärkt. Viele Krebspatienten leiden deshalb unter Müdigkeit. Die Anämie kann aber nicht nur die Lebensqualität beeinträchtigen, sie kann auch lebensbedrohlich werden. Anämie wird heute als ein unabhängiger Prognosefaktor für das Überleben geführt. Eine bestehende Anämie soll beispielsweise die Mortaliät von Patienten mit Lungenkrebs oder Tumoren an Kopf, Hals oder Prostata erhöhen. Offenbar bedürfen Krebspatienten höherer Erythropoietinspiegel, um die Anämie zu korrigieren. Mit Hilfe von Epoetin alfa lassent sich, wie die Autoren unter Hinweis auf randomisierte Doppelblindstudien vermerken, der Hb-Wert anheben und der Transfusionsbedarf senken – und zwar bei chemotherapierten und strahlentherapierten Patienten. Angeblich soll es auch einen Trend zur Lebensverlängerung unter Korrektur der Anämie geben. Nicht aufgeführt ist in dem Review allerdings eine Studie aus Deutschland und der Schweiz, die im vergangenen Jahr im «Lancet» erschien. Bei 351 Patienten, die an einem Plattenepithelkarzinom im Mund- und Rachenraum oder des Kehlkopfes litten und strahlentherapiert wurden, führte die Epoetinbehandlung zu einer deutlich erhöhten Sterblichkeit und zu häufigerem lokalen Fortschreiten des Tumors. Betroffen waren von diesen ungünstigen Entwicklungen in erster Linie Patienten, bei denen der Tumor nicht oder nicht vollständig reseziert werden konnte. Bereits zuvor war eine Studie bei Patientinnen mit Mammakarzinom vorzeitig ab-
gebrochen werden, weil die Sterblichkeit in der Epoetin-Behandlungsgruppe erhöht war.
Chirurgie
Obwohl die Sicherheit von Blutkonserven heute sehr hoch ist, ist man bemüht, Transfusionen möglichst zu vermeiden. Epoetin alfa kann den Bedarf an Blutkonserven durchaus verringern und ist geeignet, den Hb perioperativ anzuheben. Das haben plazebokontrollierte Studien bei Patienten ergeben, die sich grossen orthopädischen Eingriffen unterziehen mussten. Ähnlich scheint es sich auch bei radikaler retropubischer Prostatektomie zu verhalten. Die vorliegenden Studien zeigen, dass Epoetin alfa sicher, wirksam und kostenäquivalent im Vergleich mit der Transfusion ist, meinen die Autoren.
Kongestive Herzinsuffizienz
Patienten mit kongestiver Herzinsuffizienz entwickeln nicht selten eine Anämie, die mit dem Schweregrad der Herzerkrankung zunimmt. Offenbar ist das ischämische oder hypertrophierte Herz anfälliger auf eine Anämie und reagiert auch auf geringen Hb-Abfall. Andererseits führt eine schwere Anämie zur Salz- und Flüssigkeitsretention, die sich durch Korrektur der Blutarmut zurückbildet. Bei anämischen Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz bewirkt die Behandlung mit Epoetin alfa eine Reduktion der linksventrikulären Hypertrophie, sie verhindert eine Ventrikeldilatation und verbessert die linksventrikuläre Auswurffraktion. Deshalb, so die Autoren, dürfte eine Korrektur der Anämie klinisch die Herzfunktion verbessern. Erste Studienergebnisse sprechen dafür, doch sind die Aussagen derzeit noch nicht als definitiv anzusehen. Genauere Auskünfte erhofft man sich von einer randomisierten Studie, die derzeit im Gang ist.
ZNS-Erkrankungen
Es gibt seit langem ein grosses Interesse an neuroprotektiven Substanzen, die bei-
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Epoetin alfa
spielsweise bei Kopftraumata oder Schlaganfall günstig auf den Krankheitsverlauf Einfluss nehmen können. Möglicherweise erfüllt Epoetin alfa diese Hoffnungen. Bisherige Ergebnisse wurden aber grösstenteils an Tiermodellen gewonnen. Durch intrazerebrale Injektion von Epoetin alfa lassen sich demnach Hypoxämie oder Ischämie und neuronale Schädigungen bei Epilepsie und Autoimmunenzephalitis günstig beeinflussen. Eine intrazerebrale Injektion ist natürlich beim Menschen nicht möglich. Neue Erkenntnisse haben die Vermutung aufkommen lassen, dass Epoetin alfa die Blut-Hirn-Schranke womöglich durchdringen kann, und zwar auch ohne vorliegende Verletzung oder Entzündung. Die neuroprotektiven Effekte könnten über Erythropoietinrezeptoren erfolgen, deren Existenz im Gehirn nachgewiesen ist.
Kognition
Es gibt vermehrt Berichte darüber, dass Patienten, die sich bestimmten therapeutischen Interventionen wie koronarer Bypassoperation oder adjuvanter Chemotherapie nach Mammaresektion unterziehen mussten, recht häufig unter kognitiven Einbussen zu leiden haben. Die genauen Gründe hierfür sind nicht bekannt. Möglicherweise, so spekulieren die Autoren, trägt Sauerstoffmangel seinen Teil dazu bei. Derzeit wird in Studien geprüft, ob es einen Zusammenhang zwischen Hb-Abfall und kognitiver Leistungseinbusse gibt. Eine Pilotstudie bei Brustkrebspatientinnen unter Chemothe-
rapie hat ergeben, dass Patientinnen, die Epoetin alfa erhielten, Verbesserungen der Stimmung, der Lebensqualität sowie bestimmter kognitiver Funktionen aufwiesen. Noch sind solche Ergebnisse aber mit Zurückhaltung zu interpretieren. Eine derzeit laufende grössere Prospektivstudie wird die noch fragile Datenlage auf ein stärkeres Fundament stellen.
Hepatitis-C-Infektion
Patienten, die wegen einer chronischen Hepatitis-C (HCV)-Infektion Ribavirin (z.B. Rebetol®) einnehmen, erleiden eine dosisabhängige Anämie, wobei der Hb-Wert bei etwa 30 Prozent der Patienten auf unter 11 g/dl absinkt und bei etwa 8 Prozent der Patienten auf unter 10 g/dl. Die Ribavarindosis wird dann entweder reduziert oder die Therapie ganz abgebrochen. Zudem gibt es Anhaltspunte dafür, dass auch Interferon alfa eine Knochenmarksuppression hervorrufen kann. Gelänge es, die Anämie durch eine begleitende Epoetinbehandlung zu beheben, wäre es denkbar, dass die Therapie fortgesetzt werden kann. Für diese Annahme spricht bislang eine offene Parallelgruppenstudie bei 36 entsprechend behandelten anämischen HCV-Patienten. Ein abschliessendes Urteil erlaubt die Studie jedoch nicht.
Sicherheit von Epoetin alfa
Epoetin alfa wird meist gut vertragen. Unerwünschte Nebeneffekte hängen auch mit der zugrunde liegenden Erkrankung zusammen. Bei Patienten mit Niereninsuf-
fizienz kann es womöglich bei raschem
Hämatokritanstieg zu Hypertonie kom-
men. Bei unkontrolliertem Bluthochdruck
ist Epoetin alfa kontraindiziert.
In einer randomisierten Prospektivstudie
bei über 1200 Hämodialysepatienten mit
klinisch relevanter Herzkrankheit, die
Epoetin alfa erhielten, war die Mortalität
erhöht bei denjenigen, die auf einen Ziel-
Hämatokrit von 42 Prozent eingestellt wa-
ren. Auch die Inzidenz von nicht tödlichen
Infarkten und Thrombosen stieg an im
Vergleich mit einer Patientengruppe, die
auf einen geringeren Hämatokrit von
30 Prozent eingestellt war. Bei Krebspati-
enten treten den Studien zufolge Diarrhö
und Ödem häufiger auf als unter Plazebo.
Die Sicherheit bei perioperativen Eingrif-
fen ist nur bei Patienten unter Antikoa-
gulation untersucht. «Ein erhöhtes post-
operatives Thromboserisiko kann nicht
ausgeschlossen werden», meinen die
Autoren.
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Epoetin alfa. Clinical Evolution of a pleiotropic cytokine. Arch Intern Med 2004; 164: 262–276.
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Interessenlage: Zwei der vier Autoren sind Mitarbeiter von Johnson und Johnson, der Erstautor ist neben seiner Kliniktätigkeit auch für Ortho Biotech Products tätig.
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