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Neue Antiepileptika
Teil 2: Ihr Einsatz, aufgezeigt anhand von Fallbeispielen
JAMA
Momentan gibt es keine
Richtlinien für den Einsatz
der in der letzten Ausgabe
vorgestellten neuen Antiepi-
leptika. Im Folgenden werden
anhand von klinischen Fall-
beispielen Aspekte diskutiert,
die bei der Medikamenten-
auswahl hilfreich sein kön-
nen. Grundlage ist eine Über-
sichtsarbeit im JAMA.
Fallbeispiel 1 Eine 22-jährige, ansonsten gesunde Frau leidet seit sechs Monaten an kurzzeitigen, ein bis zwei Minuten dauernden partiellen Anfällen, die sich durch Unansprechbarkeit und Schmatzautomatismen auszeichnen. Die Anfälle treten zwei- bis dreimal im Monat auf. Die Patientin nimmt keine Medikamente ein. Sie lebt mit ihrem Partner in fester Beziehung und verhütet unregelmässig mit der Anti-Baby-Pille. Das EEG ergibt links temporale epileptische Aktivitäten, im MRI zeigt sich links eine mesiale temporale Sklerose.
Hintergrund An Epilepsie erkrankte Frauen im gebärfähigen Alter stellen eine besondere Herausforderung dar: Kontrazeption, Schwangerschaft und Knochenstoffwechsel müssen bei der Wahl des Antiepileptikums bedacht werden. In diesen Punkten weisen die klassischen Antiepileptika einige Probleme auf. 1. Einige Substanzen können die Kontra-
zeption bei Einnahme einer niedrig dosierten «Pille» beeinträchtigen, obwohl man dem mit einem höher dosierten Kontrazeptivum entgegenwirken kann. Die meisten neuen Antipileptika wirken nicht auf den Östrogen-Metabolismus ein, mit Ausnahme von Felbamat, Topiramat und Oxcarbazepin. 2. Die antiepileptische Behandlung während einer Schwangerschaft ist Sache des Spezialisten, da bei Einsatz von Antiepileptika das Risiko kongenitaler Missbildungen besteht. 4 bis 6 Prozent der Kinder epileptischer Mütter kommen mit Missbildungen zur Welt; werden zwei Antiepileptika eingesetzt, ist die Rate noch höher. Es spricht vieles dafür, dass dafür die Medikamente direkt verantwortlich sind. Ein hohes Risiko bergen insbesondere Phenobarbital, Phenytoin, Carbamazepin und Valproinsäure. Nach den Daten des North American Antiepileptic Drug Pregnancy Registry beträgt beispielsweise unter Valproinsäure-Monotherapie die Inzidenz von Kindsschädigungen 8,8 Prozent, unter Phenobarbital 6,3 Prozent – gegenüber 1,6 Prozent in Kontrollgruppen. Für die neuen Antiepileptika liegen noch keine ausreichenden Sicherheitsdaten vor. Allerdings geben bisherige Erfahrungen Anlass für eine gewisse Zuversicht. Prospektive Untersuchungen
Merk-
sätze
q Neue Antiepileptika haben dazu beigetragen, dass die Anfallskontrolle heute oft bei besserer Verträglichkeit gelingt.
q Obwohl es an direkten Vergleichsstudien zwischen den neuen Antiepileptika mangelt, lässt sich aufgrund der klinischen Umstände und der Substanzeigenschaften eine Auswahl treffen.
bei 168 Frauen, die Lamotrigin erhielten, ergaben Missbildungen bei 1,8 Prozent der Neugeborenen, was vergleichbar ist mit der Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung. Weitere Daten werden derzeit gesammelt, um ein zuverlässigeres Bild zu bekommen. Wahrscheinlich spielt für die Teratogenität Folsäuremangel eine wichtige Rolle. Es sind verschiedene Mechanismen diskutiert worden, die den Effekt von Antiepileptika auf den Folsäurestoffwechsel erklären könnten, unter anderem Leberenzyminduktion oder Hemmung der Folsäuresynthese. Der Einfluss der neueren Antiepileptika auf den Folsäuremetabolismus ist bislang noch nicht untersucht worden, aber sicher ist, dass die meisten Substanzen die Leberenzyme nicht induzieren, weshalb das Schädigungspotenzial von dieser Seite her gering sein dürfte. 3. Viele «alte» Antiepileptika können die Knochendichte vermindern, wahrscheinlich, weil sie den Katabolismus von Vit-
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Neue Antiepileptika
amin D beschleunigen. Für die neuen Antiepileptika gibt es diesbezüglich noch keine gesicherten Erkenntnisse; aber auch hier hoffen die Experten, dass sie wegen der fehlenden Enzyminduktion günstiger abschneiden. In dem beschriebenen Fall handelt es sich um eine rezidivierende partielle Epilepsie, die vom linken Temporallappen ausgeht. Da die Frau nur sporadisch Kontrazeptiva einsetzt, sollte unbedingt das Antiepileptikum mit der geringsten Teratogenität eingesetzt werden. Nach bisherigem Erkenntnisstand scheint dies Lamotrigin zu sein, obwohl, wie gesagt, letzte Sicherheit hierüber noch nicht besteht. Lamotrigin weist darüber hinaus folgende Vorzüge auf: Es induziert nicht das Zytochrom-P450-Enzymsystem, und es interagiert nicht mit Kontrazeptiva. Der Frau sollte neben Lamotrigin auch Folsäure verschrieben werden.
Fallbeispiel 2
Ein 65-jähriger Mann mit Bluthochdruck, Vorhofflimmern und Hypercholesterinämie hat vor sechs Monaten einen zerebralen Insult erlitten. Seither erlitt er drei epileptische Anfälle, bei denen sich der Kopf nach links neigte und rhythmische Zuckungen im linken Arm und in der linken Gesichtshälfte auftraten. Die Anfälle dauerten etwa eine Minute. Der Patient nimmt unter anderem Warfarin ein.
Hintergrund Ältere Menschen haben die höchste Epilepsieinzidenz, sie erkranken fast zweimal so häufig wie Kinder. Zumeist stecken Schlaganfall, neurodegenerative Erkrankungen oder ein Hirntumor dahinter. Andererseits lässt sich bei der Hälfte von ihnen keine organische Ursache ausfindig machen. Die Therapie ist problematisch, weil alte Menschen oft begleitende Erkrankungen haben, verschiedene Medikamente einnehmen und auf Antiepileptika empfindlicher reagieren, also auch anfälliger auf Nebenwirkungen sind. Allerdings können alte Menschen oft mit einer Substanz gut eingestellt werden. Was die neuen Antiepileptika angeht, gibt
es speziell für diese Patientengruppe nur wenige kontrollierte Untersuchungen. In zwei Studien wurden Lamotrigin und Gabapentin mit Carbamazepin verglichen, wobei die neuen Antiepileptika besser vertragen wurden. Aufgrund der selteneren Arzneimittelinteraktionen und der geringeren Proteinbindung dürften ältere Menschen von den meisten neuen Antiepileptika, besonders Gabapentin und Levetiracetam, profitieren. Ein Schlaganfall ist, wie in diesem Fall, ein häufiger Grund für epileptische Anfälle im Alter. Die Anfälle können erstmals unmittelbar nach dem Insult auftreten, aber auch Monate oder Jahre später einsetzen, mit einem Wiederholungsrisiko von etwa 50 Prozent. Bei diesem Patienten ist vor allem auf fehlende Arzneimittelinteraktionen zu achten, insbesondere wegen der Einnahme von Warfarin. Die Autorinnen schlagen Lamotrigin als gute Wahl zur Initialtherapie vor. Auch Gabapentin stellt bei älteren Menschen eine Erfolg versprechende Alternative dar. Eine Umfrage unter EpilepsieSpezialisten hat ergeben, dass diese Substanz tatsächlich gern als Monotherapie verschrieben wird. Ähnlich verhält es sich bei Levetiracetam, das als Monotherapie nicht getestet wurde, aber ein günstiges pharmakokinetisches Profil und eine geringe Toxizität aufweist.
Fallbeispiel 3
Ein 21-jähriger adipöser Mann, der ansonsten gesund ist, hat seit fünf Jahren generalisierte tonisch-klonische Anfälle, die zwei- bis dreimal im Jahr auftreten. Der Arzt verschreibt ihm Valproinsäure, aber unter der Medikation fühlt er sich lethargisch, und er entwickelt einen Handtremor. Deshalb nimmt er das Medikament nicht regelmässig ein.
Hintergrund Generalisierte tonisch-klonische Anfälle werden am besten mit einem Breitspektrum-Antiepileptikum behandelt. Über viele Jahre war die einzig verfügbare Substanz Valproinsäure. Diese Substanz wird von vielen Spezialisten wegen der guten Wirk-
samkeit auch weiterhin als Erstlinienmedikament eingesetzt. Zum Unglück vieler Patienten hat es aber eine Reihe von Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Tremor, Lethargie oder Haarverlust. Unter den neuen Antiepileptika sind Lamotrigin und Topiramat wirksam bei diesem Anfallstyp, ohne dabei Organschäden hervorzurufen. Rötung ist bei Lamotrigin am ehesten zu erwarten, tritt aber zumeist bei Kindern auf und bei rascher Auftitrierung. Topiramat führt gelegentlich zu Gewichtsabnahme (um 1 bis 6 Kilogramm), selten kommt es zu Nierensteinen und Glaukom, das sich nach Absetzen zurückbildet. Topiramat kann auch kognitive Funktionsstörungen hervorrufen, insbesondere Sprachstörungen, wobei diese Komplikation wahrscheinlich abhängig ist von der Dosierung und dem Titrationsschema. Bei diesem Patienten mit generalisierter Epilepsie ist die mangelnde Compliance wohl massgeblich für die wiederholten Anfälle verantwortlich. Deshalb dürfte ein Wechsel auf ein verträglicheres Medikament die Situation verbessern. Topiramat bietet hier das Potenzial zur Gewichtsabnahme mit wahrscheinlich weniger Nebenwirkungen als Valproinsäure. Es ist allerdings nicht zur Monotherapie zugelassen und muss «off-label» eingesetzt werden. Da Lethargie ein Problem des Patienten unter Valproinsäure ausmacht, könnte auch Lamotrigin eine gute Alternative darstellen, weil es weniger sediert als die «alten» Antiepileptika.
Fallbeispiel 4
Eine 45-jährige Frau mit einer langjährigen Anamnese einer partiellen Epilepsie nimmt Carbamazepin 800 mg/Tag ein, worunter die Anfälle seltener geworden sind. Allerdings erleidet sie immer noch etwa alle zwei bis drei Monate einen Anfall. Der Versuch, die Dosis zu erhöhen, muss wegen nicht tolerierbarer Nebenwirkungen eingestellt werden.
Hintergrund Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Patient auf eine mittlere Dosis eines Antiepilepti-
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Neue Antiepileptika
kums nur unvollständig anspricht. Es gibt für die Betroffenen zwei Möglichkeiten: auf ein anderes Antiepileptikum zu wechseln oder ein zweites hinzuzufügen. Oxcarbazepin als Analogon zu Carbamazepin wäre hier eine Alternative, da es weniger Nebenwirkungen verursacht und es dadurch wahrscheinlich gelänge, die Dosis zu erhöhen, ohne dass die Patientin dies mit schlechterer Veträglichkeit zu bezahlen hätte. Grundsätzlich könnten auch
verschiedene neuere Antiepileptika zur
Kombinationsbehandlung eingesetzt wer-
den. Topiramat und Tiagabin erfordern
aber ein langsames Auftitrieren. Gabapen-
tin und Levetiracetam haben minimale
Wechselwirkungen mit anderen Medika-
menten, einschliesslich Carbamazepin, kön-
nen aber innerhalb von ein bis zwei Wo-
chen auf eine wirksame Dosis eingestellt
werden.
q
Suzette M. LaRoche, Sandra L. Helmers: The new antiepileptic drugs. Clinical Application. JAMA 2004; 291: 615–620.
Uwe Beise
Interessenkonflikte: keine
Teil 1 über neue Antiepileptika ist in ARS MEDICI 9/04 erschienen.
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