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FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE
Diagnostik der Osteoporose
Knochendichte bestimmen allein reicht nicht aus
PETER SCHNEIDER
Die Festigkeit eines Knochens hängt von vielen Faktoren ab, und sie ändert sich je nach Alter des Patienten, mechanischer Beanspruchung und systemischen Gegebenheiten wie dem Hormonhaushalt. Daher muss man das Krankheitsbild der Osteoporose im richtigen Zusammenhang mit der funktionalen Einheit des muskuloskelettalen Systems sehen. Die Messung der Knochendichte (Osteodensitometrie) allein genügt jedenfalls nicht, um Patienten mit Osteoporose bereits im Frühstadium zu identifizieren.
Die Durchsicht der wichtigsten aktuellen deutschsprachigen Literatur (1, 2, 3) lässt erkennen, dass die Pathogenese der Osteoporose immer noch unzureichend ver-
standen ist. Im letzten Expertenkonsens der WHO wurde die Osteoporose nun als reduzierte Festigkeit des Knochens definiert. Die Festigkeit als individuelles Merkmal fand bislang aber nur in eine einzige nach Kriterien der evidenzbasierten Medizin valide klinische Studie Eingang (4) und hat zurzeit noch keinen angemessenen Stellenwert für die Routinediagnostik erlangt.
Was macht den Knochen fest?
Knochengewebe ist ein natürlicher Kompositwerkstoff. Die Knochenfestigkeit wird von folgenden Faktoren bestimmt: 1. vom Material: q genetisch bestimmte Eigenschaft
(Kollagen, Mineralisationsgrad) q mechanische Eigenschaft:
Zug- und Druckfestigkeit q Fähigkeit zur Reparatur von
Mikroläsionen. 2. von der Architektur: q Art des Knochens:
diaphysärer oder spongiöser Knochen q Form des Knochens.
Keine verfügbare Methode (Tabelle 1) kann Mikroläsionen in vivo aufdecken. Indikatoren des Mineralisationsgrades wie die Knochendichte (BMD) oder -masse (BMC) sind unterschiedlich unzuverlässige Parameter für die Knochenfestigkeit. Mit Schnittbildverfahren (QCT, pQCT, MRT) lässt sich grundsätzlich die Architektur des Knochens beurteilen, was Rückschlüsse auf dessen Festigkeit erlaubt (4, 5). Masse oder Dichte sind dazu nicht erforderlich. Es gibt deshalb derzeit kein densitometrisches Verfahren, mit dem nur am Knochen eine echte Osteoporose diagnostiziert werden kann. Auch die Analyse der Mikrostruktur liefert nur einen Teilaspekt.
Merk-
sätze
q Die Pathogenese der Osteoporose ist immer noch unzureichend verstanden.
q Frakturen entstehen durch inadäquate Krafteinwirkung als inkompetente Antwort eines Knochens.
q Die Risikobewertung mittels Knochendichtemessung (T-Score und Z-Score) gilt laut WHO nur für postmenopausale Frauen.
Regelsystem Knochenfestigkeit
Leider kann jedoch kein Indikator der Knochenfestigkeit allein beschreiben, ob ein Knochen gesund, das heisst normalen Anforderungen mechanisch ausreichend gewachsen ist. Materialeigenschaft und Architektur des Knochens werden über ein biomechanisches Regelsystem kontrolliert. Demzufolge ist es nicht relevant, ob eine «Peak Bone Mass» erreicht wird oder nicht. Denn der gesunde Mensch weist zu jeder Zeit eine optimal angepasste Knochenfestigkeit auf. Stimuli für das Regelsystem sind Verformungen des Knochens, induziert durch regionale Muskelkontraktionskräfte in Verbindung mit der Gravitation. Osteozyten reagieren auf diese Kräfte und setzen eine Signalkette in Gang, von der die Tätigkeit von Osteoblasten und Osteoklasten abhängt (6). Die Festigkeit des Knochens beinträchtigen somit (Abbildung):
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Tabelle 1: Übersicht der osteodensitometrischen Routinemethoden (a) und Ultraschallverfahren (b)
(a) Methode Messort
QCT Quantitative Computertomografie Th12–L3
standardisierte Präzision (Vk%) Richtigkeit Knochenfestigkeit* Muskelquerschnitt
2–8 ++ + (möglich) +
pQCT Periphere quantitative Computertomografie Radius, Tibia
1–2 ++ + +
DXA ZweienergieRöntgenabsorptiometrie L1–L4, Hüfte, Ganzkörper, Radius 2–5 + (nur am Phantom) – –
(b) Methode Messort standardisierte Präzision (Vk%) Knochenfestigkeit*, Muskelquerschnitt
Schallgeschwindigkeit (SOS) Finger, Patella, Calcaneus, Haut 4–23 – –
Breitbandabsorption (BUA) Calcaneus 2–6 – –
Longitudinaltransmission (SOS) Tibia ca. 5 – –
Vk = Variationskoeffizient; *Neudefinition der Osteoporose. Nur DXA wird in den DVO-Leitlinien empfohlen.
1. primäre Störungen der knochenbildenden Zellen (primäre Erkrankung)
2. mechanische Minderbeanspruchung des Knochens (häufigste Ursache)
3. systemisch induzierte Verschiebungen des System-Setpunktes, zum Beispiel durch Hormone (sekundäre Erkrankung)
4. Alterung einzelner Komponenten des Systems (z.B. Neurodegeneration, Sarkopenie u.a.).
Frakturen entstehen durch inadäquate Krafteinwirkung als inkompetente Antwort eines Knochens. Sie kommen fast immer durch einen Sturz oder andere Krafteinwirkungen zustande. Ein Knochen bricht niemals «spontan». Aus Studien ist bekannt, dass eine begleitende Osteopenie den Knochenbruch wahrscheinlicher macht. Alterung, Muskelkraft, neuromuskuläre Koordination, Gleichge-
wicht oder Visus sind jedoch gleichermassen am Risiko beteiligt.
Wie definiert man Osteoporose?
Wie kann man nun das individuelle Frakturrisiko eines Patienten bestimmen? Glaubt man den Leitlinien des Dachverbands Osteologie (DVO), ist das Frühstadium der Osteoporose – bevor eine Fraktur stattgefunden hat – eine «gut diagnostizierbare Erkrankung». Im amerikanischen Ärzteblatt kann man dagegen lesen: «Die Interpretation von Ergebnissen diagnostischer Tests ist für Ärzte schwierig und nicht direkt möglich» (7). Die gegenwärtige WHO-Empfehlung zur Diagnose einer Osteopenie und Osteoporose anhand von Knochendichtemes-
Tabelle 2: Alterskorrigiertes Frakturrisiko (RR) von Frauen pro Abnahme der Knochendichte um eine Standardabweichung
Messort distaler Radius Schenkelhals LWS
RR Unterarmfraktur 1,7 1,4 1,5
RR Hüftfraktur 1,8 2,6 1,6
RR Wirbelfraktur 1,7 1,8 2,3
RR alle Frakturen 1,4 1,6 1,5
sungen berücksichtigt weder die Ursache noch die Pathogenese oder die Festigkeit. Der Begriff «T-Score» beschreibt dabei die Abweichung des individuellen Messwerts vom Mittelwert junger, gesunder Erwachsener (20 bis 45 Jahre) desselben Geschlechts. Mit «Z-Score» ist die Differenz zu den durchschnittlichen Messwerten gleichaltriger und gleichgeschlechtlicher Personen gemeint. Nach WHO (8) gilt die Risikobewertung mittels dieser Scores jedoch nur für postmenopausale Frauen. Für prämenopausale Frauen, Männer, Kinder und Heranwachsende ist sie nicht definiert und obsolet. Darüber hinaus wurden diese Scores laut WHO nur für die Messorte Unterarm, LWS und Hüfte validiert.
Auch Knochen altert
Bedingt durch unsere Zivilisationsgesellschaft führt eine Minderbeanspruchung des Muskel-Knochen-Systems (Punkt 2 in der Abbildung) zu einem physiologischen Adaptationsprozess, der sich mittels Densitometrieapparaten als eine «Osteopenie» zu erkennen gibt. Eine solche Osteopenie ist jedoch physiologisch und kein Frühsymptom einer Erkrankung. Um einen solchen physiologischen Anpassungsprozess handelt es sich vermutlich sogar bei
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Alterung
4
3
Systemische Faktoren
(Hormone etc.)
BMD BMC Knochenarchitektur
Osteopenie
2
1
Setpunkt
Steifigkeit des Knochens
Osteoporose
ZNS
Kräfte:
Input Knochen-
Gravitation physikal. Aktivität
Mechanostat
Steifigkeit des Materials
Verletzungsneigung
Sicherheitsfaktor und «Frakturrisiko»
Festigkeit des Knochens
Brüchigkeit
= Übergang zum pathologischen Zustand
Abbildung: Rolle des Knochen-Mechanostaten bei mechanischer Stimulation, endokrin-metabolischen Faktoren und Alterung. Die Pathogenese der Osteoporose greift an verschiedenen Punkten an: 1 = primäre Osteoporose, 2 = Minderbeanspruchung, 3 = sekundäre Osteoporose, 4 = senile Osteoporose. Die dicken Pfeile kennzeichnen die Schwelle zur Definition der Erkrankung.
den meisten über 60-Jährigen, die nach WHO-Definition (T-Score ≤ -2,5) eine «Osteoporose» haben sollen. Die gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) dagegen lässt Osteoporose erst als Krankheit gelten, wenn eine Fraktur eingetreten ist oder wenn das Symptom Osteopenie auf pathophysiologischen Ursachen 1, 3 und 4 beruht (Abbildung).
Kofaktoren berücksichtigen
Aus den Regeln der epidemiologischen Statistik ergibt sich, dass eine Risikostratifizierung ohne Berücksichtigung von Kofaktoren von geringem individuellem Nutzen ist. In welchem Ausmass sich das Frakturrisiko unabhängig von der Knochendichte verändert, zeigen Daten zur Prävalenz von Schenkelhalsfrakturen bei einer Knochendichte von 0,8 g/cm2 in zwei verschiedenen Altersgruppen (50 und 80 Jahre [9]). In dieser Studie konnte ein Risikoanstieg bei den älteren Probanden um den Faktor 10 (!) verbucht werden, der nicht dem
Tabelle 3: S t u r z r i s i k o - D i a g n o s t i k n a c h R u n g e
Merkmal
Erläuterung
Punktwert
Gehstörungen oder Balancestörungen
unregelmässige Schrittfolge, Tandemstand* nicht länger als 10 Sekunden möglich
2
Kraftminderung (Knie, Hüfte, Sprunggelenk)
Mehr als 4 verschiedene Medikamente oder 1 neurotropes Medikament
Aufstehtest: für 5-mal hintereinander Aufstehen und wieder Hinsetzen werden mehr als 11 Sekunden benötigt
Mit neurotropen Medikamenten sind Neuroleptika, trizykl. Antidepressiva, Benzodiazepine usw. gemeint
2 2
Positive Sturzanamnese 3 oder mehr nichtsynkopale Stürze pro Jahr
2
Alltagsrelevante kognitive psychomotorische Auffälligkeiten, Unruhe Minderung mit psychomotorischer Unruhe
2
Visusminderung
Visusminderung von mehr als 20% oder gravierende Seitenunterschiede
1
*Beim Tandemstand stehen die Füsse in einer Linie hintereinander, die Hacke des vorderen Fusses berührt die Spitze des hinteren.
Diese (unvollständige) individuelle Diagnostik deckt den wesentlichen Anteil des Frakturrisikos ab. Ein Score von 4 bedeutet bereits eine stark erhöhte Sturzwahrscheinlichkeit.
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«Dichtewert», sondern anderen Faktoren zuzuordnen ist. Die Knochendichte scheint dagegen einen verhältnismässig geringen Einfluss auf das Frakturrisiko zu haben. Aus einer Metaanalyse (10) geht hervor, dass bei Frauen das Frakturrisiko mit Abnahme der Knochendichte um eine Standardabweichung vom Altersmittelwert um 40 bis 60 Prozent zunimmt (Tabelle 2). Die jährliche Inzidenzrate von Hüftfrakturen in der «Risikogruppe» der Patienten mit einem T-Score von ≤ -2,5 liegt jedoch nur bei 15/1000. Um diese Rate auf die Hälfte (7,5/1000) zu reduzieren, müssten 1000 «Risikopatienten» behandelt werden. Nach diesem Scoring wären darüber hinaus mehr als die Hälfte der Patienten mit Hüftfraktur einer prophylaktischen Behandlung entgangen (9). Viel gravierender ist jedoch die Tatsache, dass die Osteodensitometrie nur 15 Prozent des Gesamtrisikos erhellen kann, das mit der osteoporotischen Fraktur assoziiert wird (5).
Diagnostik muss verbessert werden!
Es ist daher dringend erforderlich, die Osteoporosediagnostik auf andere Füsse zu stellen:
1. Bestimmung der Festigkeit des Knochens (nicht der «Dichte»); dies wäre Aufgabe des Osteologen
2. eine neuromuskuläre Funktionsanalyse als wesentlichster individueller Baustein zur Ermittlung des Sturzrisikos; damit können mehr als 50 Prozent des gesamten Frakturrisikos vom Hausarzt auf einfache Weise bestimmt werden (Tabelle 3), unabhängig von Knochendichtewerten.
Ein Sammelkorb von anamnestischen Merkmalen, wie: «Mutter hat Osteoporose», «schlank», «blond», «Raucher» und dergleichen, ist dadurch überflüssig. Solche Merkmale haben sich in der Praxis häufig als obsolet erwiesen.
Schlussfolgerung
Die derzeit mit hohem Empfehlungsgrad versehenen Arzneimittel müssen auf Kosten der Krankenkassen am korrekt diagnostizierten Patienten eingesetzt werden. Eine adäquate Sturzrisiko-Diagnostik mittels präziser quantifizierender Gerätetechnik wird derzeit wissenschaftlich evaluiert (11). Sie kann aber auch auf einfache Weise erbracht werden (12) und mit Hilfe eines Scores zur Therapieentscheidung führen (Tabelle 3). Durch diese indi-
viduelle Diagnostik wird die unscharfe
und den Patienten verunsichernde Zuord-
nung nicht aussagekräftiger «Risikofak-
toren» und Knochendichte-Werte ent-
behrlich. Bei Patienten mit einem hohen
Sturzrisiko ist primär die Verbesserung der
in Tabelle 3 angeführten Merkmale indi-
ziert.
q
Literatur unter www.allgemeinarzt-online.de
Prof. Dr. med. Dipl. Min. Peter Schneider Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin Josef-Schneider-Str. 2 D-97080 Würzburg
E-Mail: schneider_p@nuklearmedizin. uni-wuerzburg.de
Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 2/2004. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Akupunktur – Traditionelle Chinesische Medizin
Grundausbildung an der Universität Zürich,WS/SS 04 /05
2-semestrige Vortragsreihe unter dem Patronat von Prof. R. Saller,Abteilung Naturheilkunde, Dept. für Innere Medizin des USZ. Durchgeführt von den 3 in der ASA* zusammengeschlossenen Gesellschaften SÄGAA*, SAGA-TCM* und AG-TCM*. Anerkennung als Modul «Grundlagen» für den Fähigkeitsausweis Akupunktur – TCM ASA.
Ort: UniversitätsSpital Zürich, Nordtrakt, Kurszimmer C 307 Zeit: Donnerstags, 18.15 bis 21.00 Uhr, 21.10.2004 –3.2.2005 und 31.3.–30.6.2005 Kosten: Fr. 1200.–/Semester (für Studierende gratis,Assistenten/DoktorandInnen in Weiterbildung: Fr. 800.–/Semester) Anmeldeformulare anfordern bei: Frau O. Kappeler-Fitze, Schlossgasse 12, 8575 Bürglen,
Tel. 071 634 66 19, Fax 071 634 66 18, E-Mail: o.kappeler@tbwil.ch Anmeldeschluss: 1.10.2004
*ASA Assoziation Schweiz. Ärztegesellschaften für Akupunktur und Chinesische Medizin *SÄGAA Schweiz. Ärztegesellschaft für Akupunktur und Aurikulomedizin
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