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MEDIZINGESCHICHTEq APERÇU
Wie ein Schweizer Brei die Welt eroberte
Bircher-Benner und sein Müesli-Hit
HEINI HOFMANN
In einer frühen Morgenstunde des 22. August 1867 loderte aus der KirchenglockenGiesserei in Aarau ein Flammenmeer gen Himmel. Ob dieser Feuersbrunst erschreckte sich eine schwangere Frau im Nachbarhaus dermassen, dass sie zwei Monate zu früh gebar – ihren zweiten Sohn Max, der später zum Jahrhundert-Schweizer werden sollte. Den zähen Überlebenswillen und die immense Schaffenskraft hatte er wohl von seinen bergbäuerlichen Vorfahren ererbt.
Vor 100 Jahren
Die Rede ist vom Arzt, Klinikgründer und Ernährungsreformer Maximilian BircherBenner. Schon als Jungmediziner galt seine Neugierde den aufkeimenden Naturheilverfahren, vorab den Wasserkuren. So eröffnete er denn bereits als Dreissigjähriger 1897 in der Limmatstadt eine kleine Siebenbetten-Privatklinik mit Hydrotherapie und war später Mitinitiant einer der ersten Zürcher Badeanstalten. Sein grosser Wurf gelang ihm vor einem Jahrhundert, als er 1904 am Zürichberg, nicht weit vom Hotel Dolder, sein Sanatorium «Lebendige Kraft» eröffnen konnte, ein patriarchalisch geführtes Familienunternehmen, die spätere Bircher-BennerKlinik. (Das ehemalige Sanatoriumsgebäude steht heute noch, dient nun aber einem internationalen Finanzdienstleister als Entwicklungszentrum; aus dem Sanatorium wurde ein Pecuniarium.) Hier konnte Bircher-Benner sein reformmedizinisches Programm im Kampf gegen die «zunehmende Konstitutionsverschlechterung der Kulturmenschheit» (O-Ton eines Klinikprospekts) auf sein Patientengut projizieren. Selbst internationale Promi-
Abbildung 1: Das Sanatorium «Lebendige Kraft» vor 100 Jahren, im Eröffnungsjahr 1904, am noch unverbauten Zürichberg; nach dem Tod seines Gründers wurde es «Bircher-Benner-Klinik» genannt.
nenz wie etwa Golda Meir oder Yehudi Menuhin unterzog sich hier dem extrem gestrengen Kurregime, das Thomas Mann in einem Brief als «hygienisches Zuchthaus» apostrophierte, in dem er sich als «Gras essender Nebukadnezar» fühle ...
Bircher-Benner und Kellogg
Zwei Hauptströmungen prägten damals die Ernährungsrevolution: Was der radikale Doktor vom Zürichberg, Maximilian Oskar Bircher-Benner (1867–1939) in der Schweiz, war zeitgleich der adventistische Arzt und Cornflakes-Erfinder John Harvey Kellogg (1852–1943) in der Neuen Welt, wenn auch reichlich unterschiedlich: Der Amerikaner aus Michigan symbolisierte Industriefood und vegetarische Kost, der Schweizer vollwertig-naturnahe Rohkost.
Gemeinsam war ihnen, und dies gilt auch für ihren Vorläufer, Sylvester Graham (1794–1851), den Presbyterianer aus Connecticut und Vater der modernen Ernährungsreform (Grahambrot), dass sie einer moralischen Physiologie huldigten – und dabei ausgegorene Patriarchen waren, die jedoch der Feminisierung des Essens den Weg bereiteten. Sie waren nachgerade die Inkarnation der These der englischen Sozialanthropologin Mary Douglas, wonach sich Reinheitsstreben und hierarchisches Denken gegenseitig bedingen. Zudem scheint es eine Gesetzmässigkeit zu sein, dass Naturärzte durch persönliche Lebensumstände und eigene Krankheit auf das Thema ihres Lebens stossen und zu missionarischem Eifer beflügelt werden. Alle hatten ein schwieriges Jugendumfeld, Kellogg erkrankte an Tuberku-
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lose, Bircher-Benner litt an Schlafstörungen und Herzbeschwerden. Die Naturheilkunde – eine Erfahrungsmedizin?
Von Alphirten inspiriert
Bircher-Benner gehört zu jenen Reformern, die am tiefgründigsten über das Wechselspiel zwischen Essen, Körper und Gesellschaft reflektierten, und der mit viel Spürsinn Weisheiten vorweggedacht hat, die heute ernährungswissenschaftliches Allgemeingut sind. Er begegnete der bürgerlichen Braten-, Speck- und Schweinebauchgesellschaft als Mahner, indem er der Rohkost und der pflanzlichen Ernährung das Wort redete und dabei Qualität vor Quantität und Leichtes über Schweres setzte. «Sonnenlichtnahrung» war seine wissenschaftlich nicht fassbare Theorie – die Rückkehr zu einem Leben in Harmonie mit der Natur, so wie er es in den Lebensweisheiten seiner bergbäuerlichen Ahnen verwirklicht glaubte. Bircher-Benner hat denn auch immer Wert darauf gelegt, dass die
D’Spys – das Originalrezept
Ohne zu ahnen, dass dereinst in der Agglomerationsgesellschaft die Einzelhaushalte dominieren würden, hat Bircher-Benner seine symbolträchtige Rohkostspeise, die er liebevoll «d’Spys» nannte und die ein Welthit werden sollte, nicht etwa – wie in bürgerlichen Kochbüchern üblich – für eine vierköpfige Familie, sondern für eine Einzelperson berechnet. Für sein Birchermüesli waren Zutaten und Zubereitung von gleich grosser Bedeutung:
Zutaten: q 2–3 kleinere oder ein grosser Apfel – samt Schale und Kerngehäuse q 1 Esslöffel geriebene Baum- und Haselnüsse sowie Mandeln q 1 gestrichener Esslöffel Haferflocken, 12 Stunden vorgeweicht in 3 Löffel Wasser q Saft einer halben Zitrone und 1 Esslöffel gezuckerte Kondensmilch
Zubereitung: Zuerst werden Kondensmilch und Zitronensaft unter die Haferflocken gemischt, dann der Apfel auf der Raffel gerieben und laufend unter den Brei gemischt, damit die appetitliche, weisse Farbe des Fruchtfleisches erhalten bleibt. Wichtig ist, dass die Zubereitung unmittelbar vor dem Essen erfolgt. Die geriebenen Nüsse (als Eiweissund Fettergänzung) werden bei Tisch aufgestreut.
Genuss: Bircher-Benner empfahl sein Müesli als Frühstück, Abendbrot oder ersten Gang beim Mittagsmahl – niemals jedoch als Nachtisch oder gar als Mahlzeit. Die Hauptsache der Spys war der Apfel, nicht das Getreide; deshalb die bewusst kleine Menge davon. Und im Gegensatz zu traditionellen Getreidespeisen wird das Müesli – zur Freude der Küchenkraft – kalt genossen.
Die Krux: Wenn Bircher-Benner sähe, was heute alles für Mischmasch-Kreationen unter dem Begriff «Birchermüesli» feilgeboten werden, und wenn er wüsste, dass der Name seiner Gesundheitsspeise im geflügelten Wort für «schreckliches Durcheinander» steht (Das ist ein schönes Birchermüesli!), dann würde er sich wohl im Grabe drehen ...
Abbildung 2: Der Vater des Birchermüesli und Pionier der biologischen Ganzheitsmedizin, Maximilian Oskar Bircher-Benner, beim Genuss seiner erfolgreichen «Spys».
konkretisierte Quintessenz seiner Ernährungsphilosophie, das Birchermüesli oder «d’Spys», wie er schlicht sagte, verwandt sei mit der Nahrung helvetischer Alphirten, die in seinen Augen ein besonders gesundes, weil naturnahes Leben führten. So reiht sich denn das Bircher’sche Müesli im Grunde genommen in die lange Tradition der Getreidemus-Speisen und Frühstücks-Getreidebreie ein, die bis zur Industrialisierung den bäuerlichen Speisezettel bestimmten, genau das, was Gotthelf so arg vermisste, als er 1821 in Göttingen studierte.
Globaler Siegeszug
Die Gretchenfrage ist wohl, warum eine solche Traditionsspeise zum Welthit und
Dauerbrenner wurde und auch heute noch aktuell ist. Der Leiter des BircherBenner-Archivs am Medizinhistorischen Institut und Museum der Universität Zürich (wo der 160 Laufmeter umfassende Nachlass der Klinik betreut wird), der Volkskundler und Medizinhistoriker Eberhard Wolff, weiss eine plausible Antwort: Das heutige, variationsreiche Müesli ist multifunktional, geeignet für Gesundheits- und Ökobewusste, aber auch für Sportler und Rentner, für Alt und Jung, kurz für alle – und zudem ist es von globaler Geschmacksakzeptanz. Es will ja schon etwas heissen, wenn ein Helvetismus wie der Begriff «Birchermüesli» – oder schlicht Müesli – Eingang findet in den kleinen Wortschatz von Internationalismen, die überall verstanden
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Wie ein Schweizer Brei die Welt eroberte
Ausstellung zum Birchermüsli
Das Museum «Mühlerama» in der Mühle Zürich-Tiefenbrunnen widmet dem «Birchermüesli» vom 29. 04. 2003 bis 31. 01. 2005 eine Sonderausstellung
(www.muehlerama.ch).
rungsreformer des 20. Jahrhunderts wach, sondern schmeichelt zudem nachhaltig der Vorstellung über die Schweiz als einer unschuldig-naturnahen Alpenidylle.
Abbildung 3: Einer der vielen prominenten Kurgäste aus aller Welt: der amerikanische Geiger und Dirigent Yehudi Menuhin mit Gattin am Esstisch der Bircher-Benner-Klinik (um 1950).
werden. Das hatten vorher nur wenige Wortgebilde geschafft, so etwa die Bezeichnung für die «Schweizer Krankheit», das Heimweh, das übers Französische (le hemvé) und Englische (home-sickness) in den internationalen Sprachschatz vordrang.
Ob Müesli, Müsli, musli, mussly – oder wie immer der Kosebegriff für diese Symbolspeise der postmodernen, körperbetonten Gesellschaft heutzutage irgendwo auf der Welt heisst, er hält nicht nur die Erinnerung an einen der markantesten Ernäh-
Auch Tieren zugetan
Der berühmte Arzt und Menschenfreund
Bircher-Benner hatte auch ein Herz für
Tiere. Oft traf man ihn auf Pferdes Rücken
beim Morgenritt, wo er seinen visionären
Gedanken freien Lauf lassen konnte. Dass
auch Tiere gelegentlich musartige Nah-
rung erhalten – zum Beispiel das ange-
feuchtete «Mash» für trächtige Stuten vor
der Geburt –, hat zwar nichts mit Bircher-
Benner zu tun, belegt aber die vielseitige
Verwendung von Musnahrung.
Besonders zugetan fühlte er sich seinen
Pekinesen, die ihn stets begleiteten. Und
fast rührend ist in diesem Zusammenhang
die Geschichte vom Ende des grossen
Lehrmeisters: Die mit der Pflege des im
Sterben liegenden Bircher-Benner be-
traute Krankenschwester hörte am Abend
des 24. Januar 1939 im Studierzimmer im
Untergeschoss die Hündchen plötzlich
webern und bellen, und es gelang ihr
nicht, sie zu besänftigen. Als sie wieder
ins obere Stockwerk zum Sterbezimmer
eilte, teilte man ihr mit, dass der Doktor
eben entschlafen sei ...
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Abbildung 4: Werbeanzeige für die bekannte «Milchmädchen»- Kondensmilch als Bir-
chermüesli-Zutat (aus der hauseigenen Bircher-Benner-Zeitschrift «Der Wendepunkt»,
1930).
Alle Abbildungen: Bircher-Benner-Archiv/MHIZ
Heini Hofmann Zootierarzt
und freier Wissenschaftspublizist Hohlweg 11 8645 Jona
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