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N-Acetylcystein: Spektakuläres Comeback
ETIENNE M. GRANDJEAN
N-Acetylcystein, ein seit Jahr-
zehnten verwendetes und
umstrittenes einfaches
Molekül, erfährt gegenwärtig
ein Revival bei verschiedenen
klinischen Situationen, deren
Gemeinsamkeit wohl darin
besteht, dass sie alle vom an-
tioxidativen Wirkmechanismus
dieser Substanz profitieren.
Klinischer Nachweis oder Wirkmechanismus ?
Seitdem die Bedeutung der evidenzbasierten Medizin erkannt wurde, gilt es als allgemein akzeptiert, dass der eigentliche und ausschlaggebende Endpunkt einer Therapie von chronischen Erkrankungen die Mortalitätsrate innerhalb einer gegebenen Zeitspanne ist. In Ermangelung einer solchen Zeitspanne wird die Inzidenz von Ereignissen (z.B. klinische Komplikationen oder Spitalaufnahme) ausgewertet, für welche epidemiologisch erwiesen ist, dass sie mit einer erhöhten Mortalität einhergehen. Nebst Mortalitäts- und Morbiditätsrate kann sich die Wirksamkeit einer Behandlung zudem durch ihren Einfluss auf die Lebensqualität ausdrücken – ein oft schwierig zu definierender Endpunkt.
Den anderen Kriterien – sei es der Blutdruck, die verschiedenen blutchemischen Analysen oder die spirometrischen Grössen – kommt normalerweise lediglich eine Bedeutung als Richtwerte zu (Zwischenstufen oder Ersatzendpunkte, oft mit dem englischen Begriff als «surrogate endpoints» bezeichnet), sofern eine jeweilige Korrelation mit den eigentlichen Endpunkten – insbesondere der Mortalität – aufgezeigt wurde (1). Es gibt Fälle, wo man fälschlicherweise einen Ersatzendpunkt zu kennen glaubt, zum Beispiel einen mit einem mutmasslichen Wirkmechanismus in Zusammenhang stehenden Wert, für den sich nachträglich herausstellt, dass er bei der Wirksamkeit des betreffenden Arzneimittels lediglich eine nebensächliche Rolle spielt. Genau dazu kam es im Fall von N-Acetylcystein (NAC), dem man lange ausschliesslich «mukolytische» und «mukoregulatorische» Eigenschaften zuschrieb, die jedoch klinisch nur teilweise reproduziert werden konnten. Dieser Misserfolg, der mit einer vermutlich falschen Annahme bezüglich des Wirkmechanismus in Zusammenhang steht, veranlasste zahlreiche Experten dazu, sich während längerer Zeit von der Substanz zu distanzieren (2).
Paracetamol-Intoxikation: erster Wirksamkeitsnachweis
Paradoxerweise sind andere klinische Wirkungen dieser Substanz seit langem anerkannt: Dies trifft besonders für ihre lebensrettende Wirkung in Fällen einer Paracetamolvergiftung zu – eine infolge Leberversagen lebensbedrohliche Situation. Es wurde gezeigt, dass NAC in solchen Fällen eine starke antioxidative Wirkung aufweist, die zu einer deutlich
Merk-
punkte
q Heute wird N-Acetylcystein in der Verhütung der akuten Exazerbationen einer COPD sowie einer Verschlechterung der Niereninsuffizienz bei Kontrastmittel-(Re-)Exposition Wirksamkeit zuerkannt.
q Erste Daten deuten ebenfalls auf Wirksamkeit in der Prävention vaskulärer Komplikationen bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz hin, während Untersuchungen bei idiopathischer Lungenfibrose noch im Gang sind.
erhöhten Überlebensrate führt – vermutlich aufgrund einer Stimulation der Leberglutathionsynthese (3, 4).
NAC und chronische obstruktive Bronchopneumopathie: Geschichtliches
Diese Beobachtungen spielten vermutlich eine Rolle für die später in Bezug auf NAC festzustellende Haltungsänderung: Im Hinblick darauf, dass seine antioxidative Wirkung auch in anderen Bereichen des Körpers zum Tragen kommen könnte – insbesondere im bronchialen Bereich – wurden verstärkte Anstrengungen zur Untersuchung seiner klinischen Wirkungen unternommen. Um 1980 wurden mehrere plazebokontrollierte klinische Doppelblindstudien durchgeführt, allerdings mehrmals mit einer unzureichenden statistischen Aussagekraft (beschränkte Patientenzahl, ungünstige Auswahl von
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Einschluss- und Auswertungskriterien). Die Ergebnisse dieser klinischen Versuche waren widersprüchlich, wenn auch gewisse davon klar ein vermindertes Auftreten der für die chronische obstruktive Bronchopneumopathie (COPD) typischen Exazerbationen zeigten (5).
NAC und Lungenerkrankungen: State of the Art
Vor kurzem wurden die Daten dieser kontrollierten Versuche im Licht der metaanalytischen Techniken und der Methoden zur Quantifizierung der klinischen Wirkung (z.B. number needed to treat [NNT]) neu ausgewertet. Trotz gewisser Unterschiede im analytischen und statistischen Ansatz schliessen diese neuen Analysen auf eine erwiesene Wirksamkeit beziehungsweise Verhütung von Exazerbationen (6–8, 9) von denen bekannt ist, dass sie mit Krankheitsverlauf und -prognose korrelieren (10, 11). Ferner deutet eine neuere Arbeit darauf hin, dass die Verschreibung von NAC das Risiko einer erneuten Hospitalisierung bei Patienten mit COPD herabsetzt. Diese Studie basiert auf dem als «Pharmakomorbidität» bezeichneten Korrelationssystem und untersuchte die Spitalaufnahmen sowie die Gewohnheiten des ambulanten Arzneimittelverbrauchs bei 450 000 Einwohnern von acht Städten in den Niederlanden. Insgesamt wurden 1219 in der Zeit zwischen 1986 und 1998 wegen COPD hospitalisierte Patienten in die Studie eingeschlossen. Nach Korrektur aufgrund des Schweregrads der Krankheit beobachteten die Autoren, dass die Einnahme von NAC signifikant mit einem geringeren Risiko der erneuten Hospitalisierung im Zusammenhang stand (ca. -30%). Je höher die NAC-Dosis, desto weniger kam es zu erneuter stationärer Aufnahme (12). Es wurde auch gezeigt, dass die prophylaktische Anwendung von NAC wirtschaftlich kosteneffektiv ist (13). Gemäss dem heutigen Stand des Wissens werden die Nachweise zugunsten der Wirksamkeit von NAC bei COPD als Evidenzstufe B gewertet (14). Aufgrund dessen wurde NAC in einer Anzahl neuerer
gemeinsamer Richtlinien («consensus») und Übersichtsartikeln zu den wenigen therapeutischen Substanzen mit einer Wirkung bei COPD eingestuft (14, 16). Zu erwähnen ist, dass NAC-ähnliche Verbindungen sowie andere Mukolytika kein vergleichbares Nachweisniveau aufweisen (Stufe D) und bei COPD nicht empfohlen werden (14, 15). Zudem führte das neu geweckte Interesse an NAC zur Realisierung neuer prospektiver klinischer Studien sowohl bei COPD wie auch bei anderen Lungenerkrankungen, die für ein Nichtansprechen auf Arzneimitteltherapien bekannt sind. Eine grosse Studie wurde vor kurzem bei 523 Patienten mit COPD durchgeführt. Dabei wurde die orale Verabreichung von NAC (600 mg einmal pro Tag) mit einem Plazebo über 3 Jahre verglichen (17). Die Schlussergebnisse sollen in Kürze publiziert werden. Ferner läuft derzeit eine randomisierte Studie bei idiopathischer Lungenfibrose; die entsprechenden Resultate werden im Herbst 2004 erwartet.
Nicht respiratorische Indikationen
Das Interesse an NAC ist jedoch nicht auf bronchopulmonale Erkrankungen beschränkt. Die Publikation von Tepel et al. (18) im Jahr 2000 über eine nutzenbringende Wirkung von NAC in der Prävention des von Kontrastmitteln ausgelösten akuten Nierenversagens bei Risikopatienten ist auf reges Interesse gestossen. Obwohl die Ergebnisse weiterer Studien etwas widersprüchlich ausfielen (19), wird heute allgemein angenommen (20), dass NAC der Verschlechterung der Nierenfunktion bei solchen Patienten vorbeugt und dass diese Wirkung den Verlauf der Niereninsuffizienz günstig beeinflusst. Im Anschluss an den kürzlich zu Stande gekommenen Konsens der europäischen Nephrologen über die Bedeutung des oxidativen Stresses bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz wurden kontrollierte Versuche mit NAC in dieser Indikation vorgeschlagen (21). Eine deutsche Gruppe hat eine erste Studie publiziert, die für NAC eine günstige Wirkung auf die vas-
kulären Komplikationen einer schweren Niereninsuffizienz zeigt (22). Exploratorische Studien deuten auch auf einen potenziellen Nutzen in anderen klinischen Situationen hin: HIV-Infektion (23) oder akute grippeähnliche («flu-like») Infektionen der oberen Atemwege (24). Diese in kontrollierten klinischen Prüfungen erhobenen Befunde bedürfen noch der Bestätigung und werden allgemein der antioxidativen Wirkung von NAC zugeschrieben. Die Wahrscheinlichkeit dieses Wirkmechanismus wird durch neuere tierexperimentelle Daten aus dem kardiovaskulären Bereich untermauert: bei Bluthochdruck wurde von zwei Forschungsgruppen aus Kanada eine begünstigende Wirkung freier Radikale sowie eine präventive Wirkung von NAC nachgewiesen (25, 26). Die klinischen Folgen dieser tierexperimentellen Befunde sind derzeit nicht bekannt. Im allgemeineren Rahmen wird NAC in vielerlei klinischen Situationen eingesetzt
Liste der zugelassenen Spezialitäten
mit N-Acetylcystein als Wirkprinzip*
(nur Monopräparate)
Originalpräparat Fluimucil®
Generika Dynamucil® ACC® eco Acemucol® Acetylcystein Helvepharm® DemoLibral® Ecomucyl® L-Cimexyl® Mucofluid 200 Muco-Mepha® Mucostop® NeoCitran® Expectorant Robitussin® Expectorant Solmucol®
* Schweiz. Arzneimittelkompendium on line, 9. März 2004
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zur Untersuchung der Hypothese der Wirksamkeit einer antioxidativen Therapie. Man zählt nicht weniger als 50 kontrollierte klinische Versuche unterschiedlichen Werts, die seit 2000 zu NAC in den verschiedensten Indikationen publiziert wurden (Search National Library of Medicine, www.ncbi, Februar 2004, Schlüsselwort Acetylcystein, limit «randomized clinical trial»). Man kann sich vorstellen, dass das spektakuläre Comeback einer alten Substanz, die auch an den Fall Acetylsalicylsäure erinnert, wohl noch eine ganze Tüte voller Überraschungen und unerwarteter Wirkungen bereit hält.
Schlussfolgerungen
N-Acetylcystein, ein seit Jahrzehnten verwendetes und umstrittenes einfaches Molekül, erfährt gegenwärtig ein Revival bei verschiedenen klinischen Situationen, deren Gemeinsamkeit wohl darin besteht, dass sie alle vom antioxidativen Wirkmechanismus dieser Substanz profitieren. Wirksamkeit wird dieser Substanz heute in der Verhütung der akuten Exazerbationen einer COPD sowie einer Verschlechterung der Niereninsuffizienz bei Kontrastmittel(Re-)Exposition zuerkannt. Erste Daten deuten ebenfalls auf ihre Wirksamkeit in der Prävention vaskulärer Komplikationen bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz hin, während Untersuchungen bei idiopathischer Lungenfibrose im Gange sind.
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Anschrift des Verfassers: Dr. med. Etienne M. Grandjean Innere Medizin FMH Klin. Pharmakologie u. Toxikologie FMH 4, ch. des Vergers 1213 Petit-Lancy E-Mail: phidalsa.etienne@bluewin.ch
Interessenlage: Der Beitrag entstand mit finanzieller Unterstützung von Inpharzam AG, 6814 Cadempino.
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