Transkript
STUDIE q ÉTUDE
Es lohnt sich, die isolierte systolische Hypertonie im Alter zu behandeln
ARCHIVES OF INTERNAL MEDICINE
Eine prospektive Nachunter-
suchung an Patienten aus der
SHEP-Studie zeigt, dass die
Behandlung einer isolierten
systolischen Hypertonie im
Alter die kardiovaskulären
Ereignisse über 14 Jahre
reduzieren kann.
Die Häufigkeit der isolierten systolischen Hypertonie (ISH) nimmt in der zweiten Lebenshälfte progressiv zu, von 5 Prozent bei über Sechzigjährigen auf fast 30 Prozent bei über Achtzigjährigen. 1991 wurden die Ergebnisse des «Systolic Hypertension in the Elderly Program» (SHEP) publiziert. Sie zeigten im Vergleich mit Plazebo bei antihypertensiv Behandelten eine Reduktion der Hirnschlaginzidenz um 36 Prozent. Weitere Studien haben später die Senkung von kardiovaskulären Ereignissen durch die Behandlung der ISH mehrfach bestätigt.
Methodik In SHEP waren die Teilnehmenden (Alter ≥ 60 Jahre, syst. BD 160–219 mmHg) entweder zu Plazebo oder zu einer stufenweise aktiven Therapie, basierend auf Chlortalidon (Hygroton®), bei Bedarf zusätzlich einem Betablocker oder Reserpin, randomisiert worden. Bei Studienende erhielten die Patienten der aktiven Gruppe
noch für vier Monate Medikamente zusammen mit dem Rat, ihren Hausarzt für die weitere Therapie aufzusuchen. Die Teilnehmenden in der Plazebogruppe wurden aufgefordert, sich mit einem Arzt zur Einleitung einer aktiven Therapie in Verbindung zu setzen. Die vorliegende, prospektiv geplante Folgestudie beschäftigt sich mit einer Untergruppe, 268 SHEPTeilnehmern aus Pittsburgh. Ihnen wurde eine Kontrollgruppe (Alter ≥ 60 Jahre, syst. BD < 160 mmHg) zur Seite gestellt, die inzwischen über 11 Jahre verfolgt wurde. Sowohl SHEP- wie Kontrollpatienten hatten einen diastolischen Blutdruck unter 90 mmHg. In der Kontrollgruppe betrug die kumulative Inzidenz einer Hypertonie 31 Prozent und die durchschnittliche jährliche Inzidenz 4,5 Prozent. SHEP-Teilnehmer und Kontrollen wurden mit jährlichen Telefonanrufen nach kardiovaskulären Ereignissen befragt. Kardiovaskuläre Erkrankungen und Todesfälle wurden anhand von Krankenhaus- und Sterbedaten überprüft. Zum Zeitpunkt der Rekrutierung der Kontrollgruppe wurden alle Studienteilnehmer auf eine subklinische Atherosklerose gescreent. Diese wurde hier definiert als Knöchel-Arm-Index < 0,90 oder Karotisstenose ≥ 40% in der gepulsten Doppleruntersuchung, aber ohne positive Anamnese für kardiovaskuläre Ereignisse. Resultate Für die 268 SHEP-Teilnehmer (135 mit aktiver Therapie, 133 mit Plazebo) und die 187 Kontrollen lag das mittlere Alter bei 73,5 Jahren. Die SHEP-Teilnehmer hatten ausgeglichene Ausgangswerte, hingegen wiesen die Kontrollen neben dem tieferen systolischen Blutdruck auch seltener weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren auf. Merk- punkte q Die Behandlung einer isolierten systolischen Hypertonie bei älteren Menschen führt zu langfristig (14 Jahre!) verminderten Raten kardiovaskulärer Ereignisse. q Eine früh einsetzende antihypertensive Therapie (bevor sich eine fortgeschrittene Atherosklerose entwickelt) führt zum besten Langzeitverlauf. Unter den aktiv behandelten SHEP-Studienteilnehmern stellte sich im Vergleich zu den Plazebobehandelten etwa ein Jahr nach Beginn eine geringere Ereignisrate ein, und dieser Unterschied hielt während des ganzen Follow-ups an. Nach 14 Jahren betrugen die Ereignisraten nach der Kaplan-Meier-Schätzung in der aktiv behandelten Gruppe 58 Prozent, in der Plazebogruppe 79 Prozent (p = 0,001). Beim Vergleich mit der Kontrollgruppe nach 11 Jahren betrugen die Ereignisraten 35 Prozent für Kontrollen, 47 Prozent für die aktiv und 65 Prozent für die mit Plazebo behandelten SHEP-Teilnehmer (p < 0,001). Eine subklinische Atherosklerose lag bei 33 Prozent der SHEP-Teilnehmer, aber nur bei 10 Prozent der Kontrollen vor. SHEPTeilnehmer, die initial keinen Hinweis auf eine subklinische Atherosklerose hatten und aktiv behandelt wurden, wiesen ähnliche Ereignisraten auf wie die Kontrollen (29% resp. 27%) und wesentlich tiefere als die zu Plazebo randomisierten SHEP- A R S M E D I C I 7 q 2 0 0 4 309 STUDIE q ÉTUDE Es lohnt sich, die isolierte systolische Hypertonie im Alter zu behandeln Teilnehmer (69%). In der Gruppe derjenigen, die initial eine subklinische oder klinische (St. n. Myokardinfarkt etc.) Atherosklerose aufwiesen, verzögerte die aktive Blutdrucksenkung den Beginn kardiovaskulärer Ereignisse, wobei das Maximum dieses Effekts nach vier Jahren zu beobachten war (aktive Therapie: 26%, Plazebo: 46%, Kontrollen: 21%). Nach zehn Jahren glichen sich die Ereignisraten bei den aktiv und den mit Plazebo behandelten SHEP-Teilnehmern wieder an. Diskussion Diese Langzeitnachuntersuchung bei einem Teil der Teilnehmenden der ursprünglichen SHEP-Studie zeigt, dass die initiale Zuweisung zu Plazebo zu einem um 90 Prozent höheren Risiko für Todesfall oder kardiovaskuläres Ereignis über einen Zeitraum von 14 Jahren führte. Dieser langfristig anhaltende Unterschied ist einerseits der Randomisierung zur aktiven blutdrucksenkenden Therapie während der Studie, andererseits aber auch einer höheren Wahrscheinlichkeit für eine fortdauernde Behandlung danach zuzuschreiben. Die hier vorgestellten Daten unterstreichen nicht nur die Langzeitnutzen der Behandlung, sondern deuten auch darauf hin, dass die mit einer ISH assoziierten Risiken durch einen Behandlungsbeginn vor Entwicklung einer fortgeschrittenen Atherosklerose dem Niveau einer nichthypertensiven Kontrollgruppe angeglichen werden können. Ausserdem verzögerte die aktive Behandlung die Progression einer subklinischen Atherosklerose. Der Nutzen einer Therapie der ISH geht über die Prävention von Schlaganfällen und kardiovaskulären Ereignissen hinaus. Die SHEP-Studie konnte auch nachweisen, dass Messwerte für die Alltagsaktivitäten besser ausfielen. In der «Systolic Hypertension in Europe» (SystEur)-Untersuchung reduzierte die aktive Therapie auch die Demenzinzidenz signifikant. Die Behandlung einer ISH bietet auch einen Schutzeffekt vor Herzinsuffizienz. Seit Durchführung der SHEP-Studie tragen inzwischen auch die Hypertonierichtlinien neben dem diastolischen auch ausdrücklich dem systolischen Blutdruck vermehrt Rechnung. Rennt die hier referierte Studie somit nicht offene Türen ein? Leider nein, meint ein begleitendes Editorial. Noch immer bestehe in der Ärzteschaft eine Tendenz, älteren Menschen mit isolierter systolischer Hypertonie eine rechtzeitige Therapie zu «ersparen» und isoliert erhöhte Blutdruckwerte zu bagatellisieren («ein bisschen hoch», «noch kein Problem»). Dies sei angesichts des nachgewiesenen Behandlungsnutzens – aufgrund dieser Studie beispielsweise müsste bei 5 Patienten der systolische Blutdruck kontrolliert werden, um 1 schweres kardiovaskuläres Ereignis zu verhindern – eine inakzeptable ärztliche Trägheit. Gründe für diese Trägheit ortet der Editorialist viele, legitim findet er nur wenige: Man denkt nicht an Hypertonie, wenn der Konsultationsgrund ein ganz anderer ist. Es bleibt nicht genug Zeit, um neben den vom Patienten vorgebrachten Anliegen auch noch den Blutdruck zur Sprache zu bringen. Oft wird die Therapie des erhöhten systolischen Blutdrucks noch verscho- ben, wenn der diastolische normal oder fast normal ist. Wenn wir eine Intensivierung der Blutdrucktherapie empfehlen, wehren sich auch die Patienten aus mancherlei Gründen, etwa Angst vor Nebenwirkungen, Kosten oder zusätzlich notwendige Arztbesuche und Blutentnahmen. Diese Hindernisse werden jedoch sicher noch erhöht, wenn ein zu hoher Blutdruck zunächst als harmlos hingestellt wurde. Jeder Besuch in der Arztpraxis ist eine wertvolle Gelegenheit, um therapeutisch etwas in Bewegung zu setzen, und jeder Patient, der die Praxis mit einer unkontrollierten Hypertonie verlässt, ohne dass ein Versuch gemacht wurde, dies zu ändern, bedeutet eine verpasste Chance zur Verhinderung vermeidbaren Leidens. Die Botschaft ist einfach: Bei einem systolischen Blutdruck von 140 mmHg oder mehr muss etwas geschehen. Kim Sutton-Tyrell et al. (Department of Epidemiology, University of Pittsburgh, Pittsburgh/USA): Extent of cardiovascular risk reduction associated with treatment of isolated systolic hypertension. Arch. Int. Med. 2003; 163: 2728–2731. Patrick J. O’Connor: (Editorial) Overcome clinical inertia to control systolic blood pressure. Arch. Int. Med. 2003; 163: 2677–2678. q Halid Bas Interessenkonflikte: Die Autoren deklarieren keine relevanten finanziellen Interessen. Die Studie wurde finanziert von den National Institutes of Health, Bethesda. 310 A R S M E D I C I 7 q 2 0 0 4