Transkript
QUALITÄTSSICHERUNG q ASSURANCE DE QUALITÉ
Auf dem Weg zur evidenzbasierten Chirurgie
Deutsche Chirurgen fordern eine andere Forschungskultur
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Auch die Chirurgie muss sich
an den Richtlininen der
evidenzbasierten Medizin
orientieren. Das fordern
deutsche Chirurgen im
«Deutschen Ärzteblatt».
Wo immer heute eine neue medikamentöse Therapie nach Einführung drängt, hat sie die Hürde der Evidenzprüfung zu überwinden. Ohne einen strengen Wirksamkeitsnachweis nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin geht es nicht mehr. Mit anderen Worten: Randomisierte, kontrollierte Vergleichsstudien werden verlangt, um echte Fortschritte von Scheininnovationen zu unterscheiden. Eine medizinische Disziplin hat sich um diese Anforderungen bislang nur recht wenig geschert: die Chirurgie. Traditionell herrscht hier das Recht der chirurgischen Schulen, die im Können und Einfluss ihrer herausragenden Vertreter die Massstäbe setzen. Chirurgische Verfahren werden nicht nur entwickelt und erprobt, sondern auch vererbt. Erfolgsnachweise in nachprüfbaren und transparenten Verfahren unter kontrollierten Bedingungen sind immer noch die Ausnahme. Plazebokontrollierte randomisierte Studien machen beispielsweise nicht einmal 3 Prozent aller Studien im Fachgebiet der Chirurgie aus. Gewiss hängt der Erfolg einer Operation auch vom individuellen Können und der
Erfahrung des Operateurs ab und ist deshalb nicht umstandslos mit dem Wirksamkeitsnachweis eines Arzneimittels gleichzusetzen. Doch unüberprüfbar sind neue chirurgische Verfahren deshalb nicht. Diese Erkenntnis scheint sich in Chirurgenkreisen auch immer mehr durchzusetzen. Zu einem Umdenken forderte unlängst eine Arbeitsgruppe um Professor Markus Büchler, Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg. Mit unzweideutigen Worten bekannten sich die Chirurgen im Deutschen Ärzteblatt (DÄ): «Eine Krankenversorgung ohne die Beachtung der Prinzipien der evidenzbasierten Medizin ist heute nicht mehr vertretbar.» Sie halten randomisierte und kontrollierte Studien in der Chirurgie sehr wohl für möglich. Voraussetzung sei eine etablierte Therapieform, mit der das zu untersuchende Operationsverfahren verglichen werde. «Argumente, die gegen eine Einführung von doppelblinden randomisierten Studien in der Chirurgie aufgeführt wurden, sind inzwischen durch aktuelle eindrucksvolle Beispiele widerlegt worden», schreiben sie im DÄ. Durch «Verblindung» der Patienten und des Analysten könnten Beobachtungsund Behandlungsgleichheit hergestellt werden. Die Randomisierung allein sei dabei unzureichend, denn sie stelle lediglich die Strukturgleichheit der Studienteilnehmer in den verschiedenen Gruppen zu Beginn des Experiments her. Wie es gehen könnte, zeigen die Autoren beispielhaft anhand einer britischen Studie, in der laparoskopische und offene Cholezystektomie verglichen wurden. Behandlungsgleichheit erzielte man durch Verblindung der Patienten, indem alle Teilnehmer einen identischen Wundverband erhielten und postoperativ durch Krankenschwestern betreut wurden, die keine Kenntnis
vom Operationsverfahren hatten. Auch dem ärztlichen Gutachter war die gewählte Operationstechnik unbekannt. Das Ergebnis war für das inzwischen allerorten etablierte laparoskopische Verfahren wenig schmeichelhaft. Die laparoskopische Operation dauerte länger und die Patienten konnten auch nicht eher aus dem Krankenhaus entlassen werden. Damit habe «ein operatives Verfahren Einzug in die chirurgische Gundversorgung erhalten, dessen Kosten die Systeme belasten, aber dessen Nutzen nicht hinreichend belegt ist», schlussfolgern die Autoren.
Die Chirurgie steht stellvertretend für die moderne Hochleistungsmedizin. Dennoch sind viele operative Vefahren nicht nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin gesichert
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QUALITÄTSSICHERUNG q ASSURANCE DE QUALITÉ
Auf dem Weg zur evidenzbasierten Chirurgie?
«Plazebochirurgie ist notwendig »
Büchler und seine Mitarbeiter sprechen sich in ihrem Artikel darüber hinaus auch eindeutig für die Plazebochirurgie aus. Diese sei ethisch und klinisch notwendig. Chirurgischer Erfolg dürfe nicht nur anhand von Komplikations- und Mortalitätsraten gemessen werden. Das Schlagwort heisst dabei patientenorientierte Forschung. Subjektive Parameter wie Lebensqualität und Schmerz seien als klinische Endpunkte heute von entscheidender Bedeutung. «Ein Plazebo wird dann essenziell notwendig, wenn bei einem chirurgischen Verfahren entsprechende Kriterien objektiv kontrolliert werden sollen», schreiben die Autoren. Trägt man diesem Anliegen Rechnung, kann es durchaus geschehen, dass übliche Verfahren den Test nicht unbeschadet überstehen. So fiel etwa die Arthroskopie bei Patienten mit chronischen Knieschmerzen in einer amerikanischen Studie durch. An der Untersuchung nahmen 180 Patienten teil, die monatelang über entsprechende Kniebeschwerden klagten. Sie wurden in drei Behandlungsgruppen unterteilt und unterzogen sich entweder einer Lavage, einem Debridement oder einer Plazebochirurgie. Weder der Patient noch die postoperativ betreuenden Fachkräfte am Veterans Affairs Medical Center in Houston (Texas) erfuhren von der angewendeten Therapieform. Die Patienten in der Pazebogruppe wurden ebenso in eine Analgosedierung versetzt, man inzisierte die Haut an entsprechender Stelle, alle
“Argumente, die gegen eine
Einführung von doppelblinden
randomisierten Studien in der
Chirurgie aufgeführt wurden,
sind inzwischen durch aktuelle
eindrucksvolle Beispiele wider-
”legt worden.
Teilnehmeden wurden gewaschen und bewegt wie die Patienten der Verumgruppen. Auch die Beurteilenden wussten nichts von der Gruppenzugehörigkeit. Ergebnis der Auswertung nach einer Beobachtungszeit von zwei Jahren: Die Knieschmerzen waren in allen Behandlungsgruppen ähnlich ausgeprägt, ein Nutzen des aktiven Eingriffs also nicht nachweisbar. Zwar seien die Ergebnisse nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragbar, dass heisst die externe Validität der Studienergebnisse bleibt ungewiss bis zur Durchführung einer entsprechende Studie unter den örtlichen Verhältnissen. Dennoch, meinen die Autoren, «wäre es unverantwortlich, weiter Patienten zu arthroskopieren, ohne sie auf die Ergebnisse dieser Studie hinzuweisen».
Erstes Studienzentrum in Heidelberg
Bislang steckt man in Deutschland beim erforderlichen Strategiewechsel erst in den Kinderschuhen, obwohl verschiedenen Institutionen dabei sind, Forschungs-
strukturen aufzubauen, wie sie in man-
chen anderen Ländern, etwa in Skan-
dinavien oder den Niederlanden schon
etabliert sind. Fast neidvoll kann man in
die USA blicken, wo etwa die Oncology
Group des American College of Surgeons
ein eigenes Studienzentrum mit 100 Mit-
arbeitern unterhält und über einen Jahres-
etat von 14 Millionen Dollar verfügt.
In Deutschland wird derzeit in Heidelberg
patientenorientierte chirurgische Forschung
in Form eines klinischen Studienzentrums
betrieben. In einem interdisziplinären Team
werden Protokolle für chirurgische Sudien
nach den Richtlinien der Good Clinical
Practice erstellt. Bislang wurden mehr als
600 Menschen entsprechend behandelt.
«Die Errichtung eines derartigen Zent-
rums ist auch an anderen Universitäten
und Krankenhäusern der Maximalversor-
gung denkbar,» schreiben die Autoren.
Dies lässt sich als Aufforderung zu mehr
Engagement auf diesem Gebiet verste-
hen, denn für eine evidenzbasierte Chirur-
gie ist eine multizentrische Studienkultur
dringend erforderlich.
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Christoph M. Seiler et al.: Plädoyer für mehr evidenzbasierte Medizin. Dtsch Ärztebl 2004; A338–344 (Heft 6)
Uwe Beise
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