Transkript
STUDIEq ÉTUDE
Langzeitverlauf der Multiplen Sklerose
Eine Studie zeigt, dass die Prognose besser ist als befürchtet
NEUROLOGY
Bei der Mehrheit der
MS-Patienten schreitet die
Erkrankung über zehn Jahre
nur langsam oder gar nicht
voran. Das hat eine Kohorten-
studie ergeben, die kürzlich
in «Neurology» publiziert
wurde.
Die Diagnose multiple Sklerose versetzt einen in Angst und Schrecken. Sie beschwört fast automatisch das Bild vom an den Rollstuhl gefesselten MS-Kranken herauf. Doch ist ein solcher schicksalhafter Verlauf keineswegs unweigerlich vorgezeichnet. Im Gegenteil: Für die Mehrzahl der Betroffenen sind die Aussichten über lange Zeit günstig. Diese Erkenntnis hat eine amerikanische Langzeitstudie zutage gefördert. Forscher von der Neurologischen Abteilung der Mayo Clinic in Rochester hatten MS-Kranke über zehn Jahre verfolgt. Die an MS Erkrankten waren 1991 in eine populationsbasierte Kohortenstudie aufgenommen worden. Im Jahr 2001, also nach zehn Jahren, konnte die Entwicklung von 161 der ursprünglich 162 Patienten beurteilt werden. Eine Besonderheit der Studie liegt darin, dass sich nur 15 Prozent der Patienten einer immunmodulatorischen Therapie (mit Interferon) unterzogen haben, und dies auch
nur über eine relativ kurze Dauer. «Die Studie dokumentiert also nahezu den natürlichen Erkrankungsverlauf», schreiben die Studienautoren. Dass die Patienten in so geringer Zahl Interferon injizierten, erklären sie unter anderem mit dem relativ geringen Behinderungsgrad bei den Studienteilnehmern. Innerhalb der zehn Jahre verstarben 24 Patienten, zum grossen Teil wahrscheinlich an den Folgen der MS. Für die verbliebenen 132 Patienten waren die Krankenakten vorhanden, zudem wurden sie persönlich befragt und die meisten auch untersucht. Fasst man diese Patienten zusammen, so ergab sich innerhalb eines Jahrzehnts eine Verschlechterung im Behinderungsgrad um 1 Punkt auf der EDSS (Expanded Diability Status Scale). Jeder Fünfte verschlechterte sich um 2 Punkte auf der Skala. MS-Kranke, die zu Beginn auf der EDSS unter 3 Punkten rangierten, waren zu 83 Prozent weiterhin gehfähig und kamen ohne einen Handstock aus. Immerhin zwei Drittel dieser Patienten blieben auf einem EDSS-Level unter 3. Patienten, die zu Beginn auf der EDSSSkala zwischen 3 und 5 eingestuft wurden, hatten demgegenüber ein «moderates Risiko» für schwere Gangstörungen, die Hälfte von ihnen benötigte mindestens einen Handstock zum Gehen. Jeder zweite, der zu Beginn bereits stärker beeinträchtigt war (EDSS zwischen 5 und 7), war nach zehn Jahren an den Rollstuhl gefesselt oder ein Pflegefall. Bestehen also starke Einschränkungen, schreitet die Erkrankung anscheinend rascher fort. Ansonsten gelang es den Studienautoren nicht, Faktoren zu identifizieren, mit denen ein ungünstiger Krankheitsverlauf zuverlässig vorhergesagt werden könnte. Sie verweisen auch darauf, dass bis heute
Merk-
sätze
q Die populationsbasierte Studie zeigt, dass die Erkrankung bei zwei Drittel der MS-Patienten über einen Beobachtungszeitraum von 10 Jahren weit gehend stabil bleibt oder geringfügig voranschreitet.
q 30 Prozent waren im Lauf der Zeit auf einen Handstock angewiesen oder an den Rollstuhl gefesselt. Patienten, die bei Studienbeginn auf der EDSS-Skala zwischen 3 und 5 rangierten, hatten ein moderat erhöhtes Risiko, in den nächsten 10 Jahren erhebliche Gangstörungen zu erleiden.
unbekannt ist, ob die Interferon-Therapie
das Fortschreiten der Erkrankung auf
lange Sicht beeinflusst. Die einschlägigen
Therapiestudien, so geben sie zu beden-
ken, seien mit Patienten durchgeführt
worden, die bereits mehrere Schübe erlit-
ten hätten und deshalb medikamentöse
Hilfe suchten. «Eine solche Selektion er-
höht die Wahrscheinlichkeit, einen Thera-
pieerfolg zu dokumentieren. In der Be-
handlung unserer Patienten im Alltag sind
die Ergebnisse einer populationsbasierten
Studien aber wichtiger.»
q
S.J. Pittock et al.: Change in MS-related disability in a population-based cohort. A 10-year-follow-up-study. Neurology 2004; 62: 51–59.
Uwe Beise
Interessenkonflikte: keine
A R S M E D I C I 6 q 2 0 0 4 265