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Kontrolliertes Trinken als neue Behandlungsoption
Riskanter und schädlicher Alkoholkonsum
JOACHIM KÖRKEL
Die Option des kontrollierten
Trinkens verspricht, Patien-
ten, die bezüglich ihres Alko-
holkonsums änderungs-, aber
nicht abstinenzbereit sind,
besser zu erreichen.
Ein Gesundheitssystem, das daran interessiert ist, breite Teile von Menschen mit riskantem oder schädigendem Alkoholkonsum anzusprechen, muss unterschiedliche Behandlungsziele und differente Wege zur Zielerreichung – und das heisst auch Reduktionsangebote – vorhalten (18, 23). Eine glaubwürdige und kompetente Unterstützung von Patienten beim Anstreben des kontrollierten Trinkens kann einen Teil von ihnen befähigen, dieses Ziel zu erreichen, und einem anderen Teil verdeutlichen, dass für ihn die völlige Alkoholabstinenz das realisierbarere Ziel darstellt. In diesem Sinne kann kontrolliertes Trinken entweder ein realistisches Ziel oder ein lehrreiches Zwischenstadium auf dem Weg zur Abstinenz darstellen.
Prävalenz riskanten und schädigenden Alkoholkonsums
3,9 Millionen der 18- bis 59-jährigen Deutschen erfüllen die DSM-IV-Kriterien für «Alkoholmissbrauch» oder «Alkoholabhängigkeit» (29). Störungen durch Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit sind bei Männern die im Laufe ihres Lebens am
häufigsten auftretenden psychischen Störungen (nach Tabakabhängigkeit; Lebenszeitprävalenz 14% [32]). Alkoholbezogene Störungen gehen sehr häufig mit unterschiedlichen anderen psychiatrischen und somatischen Störungen einher (Komorbidität), wie zum Beispiel mit affektiven, Angst- und Persönlichkeitsstörungen, diversen neurologischen Erkrankungen im Bereich von ZNS, PNS und Muskulatur sowie mit gastrointestinalen Erkrankungen (8, 32, 43). Menschen mit alkoholbezogenen Störungen tauchen zuvorderst im medizinischen Hilfesystem und nicht in der traditionellen Suchtkrankenhilfe auf: 80 Prozent finden mindestens einmal jährlich den Weg zum niedergelassenen Arzt und 34,5 Prozent in ein Allgemeinkrankenhaus, aber nur 1,7 Prozent in eine Suchtfachklinik und nur 3,7 Prozent in die Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses (46). Über Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit hinaus erscheint eine Blickerweiterung auf deren Vorläufer, nämlich den riskanten Alkoholkonsum, vonnöten. Dieser wird – extrem konservativ geschätzt – von 5,8 Millionen der 18- bis 59-jährigen Deutschen tagtäglich praktiziert. Von riskantem Konsum spricht die WHO beim Überschreiten einer Ethanol-Tagesmenge von 20 g (bei Frauen) beziehungsweise 30 bis 40 g (bei Männern), ohne dass körperliche Schädigungen oder diagnostizierbarer Missbrauch/Abhängigkeit bereits eingetreten wären. 20 g Ethanol sind in 0,5 l Bier (5% Vol.) beziehungsweise 0,2 l Wein/Sekt (12,5%) beziehungsweise etwa drei einfachen Schnäpsen (41%) enthalten. Ab der genannten Konsummenge nimmt das Risiko gesundheitlicher Folgen deutlich zu (40, 41). Beispielsweise zieht ein Tageskonsum von mehr als 60 g Ethanol ein 3,3fach erhöhtes Ulcus-duodeni-
Merk-
sätze
q Das medizinische Behandlungssystem kommt mit der Mehrzahl der Personen mit überhöhtem Alkoholkonsum in Kontakt und hat dementsprechend die Chance, alkoholbezogene Probleme zu thematisieren und zu minimieren. Dabei sind jedoch nicht nur bereits eingetretene Störungen (Alkoholmissbrauch/Abhängigkeit), sondern auch deren Vorformen (riskanter Konsum, 20- bzw. 30bis 40-g-Grenze) ins Blickfeld zu rücken.
q Entscheidend ist es, das richtige Mass an Trinkregeln herauszufinden: nicht zu wenige, aber auch nicht zu viele.
q Ethisch betrachtet ist es notwendig, die Frage von Abstinenz oder kontrolliertem Trinken explizit und sanktionsfrei ins Gespräch zu bringen, das Für und Wider dieser Ziele zu erörtern und letztlich das Ziel aufzugreifen, das der Patient für sich anstreben möchte (20).
Risiko nach sich (43), bei Frauen steigt das Leberzirrhoserisiko bei einer Tagesdosis von 70 g Ethanol um das 100fache (9).
Erkennen problematischen Alkoholkonsums
Sofern alkoholbezogene Konsummuster im zuvor umschriebenen Sinn als Gegen-
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stand ärztlicher Interventionen angesehen werden, stellt sich als Erstes die Aufgabe, diesen problematischen Konsum zu erkennen. Anhaltspunkte dafür ergeben sich aus evidenten klinischen Symptomen («Alkoholfahne», Tremor, vermehrte Gefässzeichnung im Gesicht, erhöhte Leberenzyme im Serum oder gastrointestinale und neurologische Störungen). Weitere Hinweise resultieren aus alkoholkorrelierten psychiatrischen Auffälligkeiten (Angst, Depressionen etc.). Auch persistierende Probleme am Arbeitsplatz, häufige Unfälle oder entsprechende Informationen durch Angehörige können diagnostisch relevant sein. Riskanter Alkoholkonsum ist eher selten an den vorgenannten Merkmalen zu erkennen. Deshalb ist man in Modellkliniken und -praxen (z.B. in den USA und Australien) mit Erfolg dazu übergegangen, dem Patienten durch Arzthelferin oder Arzt routinemässig (ggf. nur bei Verdacht) einen kurzen Fragebogen («Screeningtest»), der riskanten Konsum erkennen lässt, zur schriftlichen Beantwortung auszuhändigen (40). Der gegenwärtig tauglichste Screeningfragebogen ist der von der WHO entwickelte AUDIT (Alcohol Use Disorders Identification Test, 10 Items [4]; abgedruckt in [30], S. 54). Er erfasst Trinkmenge, Trinkverhalten («Binge Drinking») und negative Trinkfolgen. Jede Antwort zu den 10 Items erhält einen Punktwert von 0 bis 4. Ein Summenwert von 8 oder mehr Punkten ist ein Indiz für problematischen Alkoholkonsum.
Differenzierte Diagnostik alkoholbezogener Probleme
Bei positivem Screeningbefund beziehungsweise entsprechender klinischer Symptomatik können Ausmass und Folgen der alkoholbezogenen Probleme durch eine differenzierte Alkoholanamnese, eingehende körperliche und gegebenenfalls psychiatrische Untersuchung sowie Erhebung von Laborwerten abgeklärt werden. In diesem Kontext ist auch eine Missbrauchs- beziehungsweise Abhängigkeitsdiagnostik im Sinne von ICD-10 oder DSM-IV vorzunehmen. Eine ausführliche diagnostische Abklärung
kann 1,5 bis 2 Stunden dauern (vgl. [44]) und gegebenenfalls durch einen auf Suchterkrankungen spezialisierten Arzt vorgenommen werden.
Definition und Wirksamkeit von kontrolliertem Trinken
Nach diagnostischer Abklärung eines problematischen Alkoholkonsums stellt sich die Zielfrage. Im Wesentlichen kommen zwei Ziele zur Bewältigung eines Alkoholproblems in Frage: Abstinenz oder kontrolliertes Trinken. «Kontrolliertes Trinken», das auch in das «Curriculum suchtmedizinische Grundversorgung» der Bundesärztekammer (6) aufgenommen worden ist, ist hier als Terminus technicus (Kasten «Definition») zu verstehen. Zwei Dinge gilt es dabei unter Kontrolle zu bringen: (a) Die Alkoholmenge/das Trinkmuster und (b) die Umstände des Konsums. Alkoholmenge/Trinkmuster: Im Hinblick auf das Konsummuster haben sich wochenweise Festlegungen mit drei Zielgrössen als sinnvoll erwiesen: die maximale tägliche und die maximale wöchentliche Menge des Alkoholkonsums sowie die Anzahl abstinenter Tage pro Woche. Bei der Mengenfestlegung ist die Orientierung am bisherigen Konsumniveau und somit an persönlich realistischen, motivierenden Zielen sinnvoll. So kann zum Beispiel die Reduktion von täglich 7 auf 5 Flaschen Bier erfolgversprechender sein als die von 7 auf 2, obwohl auch 5 Flaschen Bier deutlich oberhalb des somatisch wenig riskanten Limits liegen. Die internationalen medizinischen Richtwerte für risikoarmen, moderaten Alkoholkonsum (siehe oben) können eine sinnvolle Limitierungsorientierung abgegeben, wenn sie zur weiteren Konsumreduktion ermutigen und nicht entmutigen. Umstände des Konsums: Neben der Alkoholmenge kann man die Rahmenbedingungen des Konsums individuell angepassten Einschränkungen unterziehen. Dazu können gehören: Festlegungen der Trinkzeit (z.B. erst nach der Arbeit ab 18 Uhr), des Trinkortes (z.B. nicht in dem Raum, in dem man bisher bevorzugt getrunken hat), des sozialen Umfelds (z.B.
Definition: «Kontrolliertes Trinken»
q Von «(selbst)kontrolliertem Trinken» ist zu sprechen, wenn jemand eigenständig sein Trinkverhalten an einem zuvor festgelegten Trinkplan bzw. an Trinkregeln ausrichtet (vgl. im Detail [30]).
nicht alleine), der Getränkereihenfolge (z.B. vor jedem alkoholischen Getränk ein grosses nichtalkoholisches konsumieren) und der Trinkgeschwindigkeit (z.B. nicht mehr als 8 bis 10 g Alkohol pro Stunde, sodass sich Alkoholaufnahme und -abbau die Waage halten). Programme, welche die zuvor genannten Kontrollkompetenzen vermitteln, erreichen nach Millers Übersicht (33) Erfolgsquoten von durchschnittlich 65 Prozent (ausführliche Darstellung in [30]). Die Trinkmengenreduktion beträgt im Mittel etwa 50 Prozent (1, 16, 27). Langzeitstudien demonstrieren, dass kontrolliertes Trinken auch über viele Jahre erfolgreich aufrechterhalten werden kann (15, 34). Einigen Programmteilnehmern gelingt eine längerfristige Reduktion nicht, andere wiederum gehen zum gänzlichen Alkoholverzicht über. Mehrmonatiges bis mehrjähriges kontrolliertes Trinken erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls nicht (38). Positiv zu werten ist auch, dass manche Teilnehmer während eines Kontrollprogramms freiwillig und aus eigener Erkenntnis zum Ziel der Abstinenz wechseln und andere, die mit kontrolliertem Trinken nicht erfolgreich sind und die Abstinenz nicht einhalten können, in weitergehende abstinenzorientierte Angebote vermittelt werden können (17, 27). Kontrolliertes Trinken kann sich demnach als sinnvolles Zwischenstadium für weitergehende Veränderungsprozesse erweisen («Stepped Care»). In anderen Ländern nehmen Kontrollprogramme einen selbstverständlichen Stellenwert ein. Beispielsweise halten nach der Repräsentativstudie von Dawe und Richmond (7) zwei Drittel aller australischen Einrichtungen, die Hilfen für Menschen mit Alkoholproblemen anbie-
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ten, auch strukturierte Angebote zum kontrollierten Trinken vor, in Grossbritannien sind es 76 Prozent (39).
Zielabklärung: Abstinenz oder kontrollierter Konsum?
Eine sinnvolle Zielentscheidung für Abstinenz oder kontrollierten Alkoholkonsum setzt Antworten auf zwei Fragen voraus: q Welche Erfolgsaussichten ergeben sich
für den Patienten beim Anstreben von kontrolliertem Trinken beziehungsweise Abstinenz? (Erreichbarkeit des Ziels) q Welches Ziel präferiert der Patient? (Erwünschtheit des Ziels) Hinsichtlich der Erreichbarkeit gibt es kein einzelnes Merkmal, das Gelingen oder Misslingen von Versuchen kontrollierten Trinkens determiniert (3, 38). Es deutet sich aber an, dass schwere Entzugserscheinungen, ein geringes Zutrauen in das eigene Vermögen des kontrollierten Trinkens, eine schlechte soziale Einbindung und fehlende Unterstützung im sozialen Umfeld die Erfolgswahrscheinlichkeit von Bemühungen der Trinkkontrolle reduzieren. Allerdings ist zu bedenken, dass es eine Reihe widersprüchlicher Studienergebnisse gibt (14, 43), sodass es problematisch ist, nach der vereinfachten Formel «riskanter Alkoholkonsum beziehungsweise Alkoholmissbrauch = kontrolliertes Trinken möglich» und «Alkoholabhängigkeit = kontrolliertes Trinken unmöglich» zu verfahren. Um so bedeutsamer wird es deshalb, das vom Patienten favorisierte Ziel in Erfahrung zu bringen. In dieser Wertfrage der Wünschbarkeit eines Ziels ist dem Arzt oder Suchttherapeuten keine Expertenstellung gegeben, da es weder Aufgabe noch Möglichkeit von Medizin ist festzulegen, was jemand wollen sollte (45). Selbstkontrolliertes Trinken ist nach diesen Vorüberlegungen für alle Personen in Betracht zu ziehen, auf die folgende vier Bedingungen zutreffen: q Der Patient praktiziert einen risikoreichen oder bereits schädlichen Alkoholkonsum. q Der Patient wünscht sich als Ziel einen weniger starken Alkoholkonsum.
q Das Trinkverhalten des Patienten ist zu «eingefahren», als dass er eine einfache Empfehlung zur Reduktion seines überhöhten Alkoholkonsums umsetzen könnte.
q Der Patient ist zur völligen Alkoholabstinenz nicht motivierbar beziehungsweise nicht in der Lage.
Kontraindiziert ist kontrolliertes Trinken in jedem Fall bei Menschen, die bereits abstinent leben beziehungsweise die von vornherein eine stabile Abstinenzmotivation aufbringen. Auch im Fall eines anhaltenden, schweren Alkoholproblems stellt dauerhafte Abstinenz das solideste Ziel dar. Abstinenz ist darüber hinaus dann zu präferieren, wenn jeglicher Alkoholkonsum die Wahrscheinlichkeit negativer Konsumfolgen erhöhen würde (z.B. bei Schwangerschaft/Stillzeit, alkoholsensibler Medikation oder körperlichen Vorschädigungen). Sollte allerdings die Unmöglichkeit, Abstinenz anzustreben oder einzuhalten, zu wahrscheinlich mehr negativen Folgen führen als kontrolliertes Trinken, oder sollte der Konsument keine Abstinenz wünschen, ist eine Reduktion der Trinkmenge (und nicht Abstinenz) als sinnvoll anzusehen.
Behandlung mit dem Ziel der Abstinenz
Die Palette der Interventionsmöglichkeiten zum Erreichen von Abstinenz reicht von der schlichten (selten fruchtbaren) Empfehlung an den Patienten, seinen Alkoholkonsum ganz einzustellen, über längerfristige ambulante ärztliche Behandlung mit stützenden Gesprächen, Psychotherapie und medikamentöser Begleitbehandlung bis zur Überweisung in eine stationäre Entgiftungs- oder Entwöhnungsbehandlung. Bei körperlicher Alkoholabhängigkeit und Entzugssymptomatik ist eine ambulante oder stationäre Entgiftungsbehandlung unter ärztlicher Aufsicht angezeigt. Bei schwierigen oder erfolglosen Fällen ist eine Weitervermittlung an spezialisierte Suchtfachdienste angeraten (2). Ganz allgemein ist für das Erreichen und Stabilisieren von Alkoholabstinenz ein enges Zusammenwirken
zwischen medizinischer Grundversorgung und spezialisierter Suchtkrankenhilfe (abstinenzorientierte Selbsthilfegruppen, Suchtberatungsstellen, Entgiftungs-, Entwöhnungs- und gegebenenfalls Nachsorgeeinrichtungen) optimal (30).
Behandlung mit dem Ziel des kontrollierten Trinkens
Zur Förderung des kontrollierten Trinkens sind im ärztlichen Kontext unterschiedlich zeit- und personalintensive Interventionen möglich (21). Sensibilisierung durch schriftliches Material: Patienten können ohne personellen Aufwand durch Plakate, ausliegende Faltblätter oder Broschüren für ihren Alkoholkonsum sensibilisiert werden. Die Informationen können Hinweise auf international als weit gehend unschädlich betrachtete Konsummengen, Empfehlungen zu moderaten Konsumgepflogenheiten, TrinkTagebücher zur Selbstüberprüfung des eigenen Konsums und anderes mehr enthalten. Wie aus der Forschung zu Autoremissionsprozessen bekannt ist, werden bei bereits änderungsbereiten Patienten durch derartige schriftliche Anstösse Trinkmengenreduktionen begünstigt. Für andere Patienten können schriftliche Informationen die Änderungsbereitschaft fördern und insbesondere in Kombination mit den im Folgenden ausgeführten mündlichen Interventionen Verhaltensänderungen begünstigen. Qualifizierte ärztliche Empfehlung («Ratschlag»): Im Falle einer kurzen, qualifizierten Empfehlung wird dem Patienten ange-
Internet-
Tipp
q Weitergehende Informationen zu Definition, Indikationsbereich, Interventionsansätzen, Forschungsergebnissen und 10-Schritte-Programm zur autodidaktischen Aneignung des kontrollierten Trinkens unter:
www.kontrolliertes-trinken.de
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raten, entsprechend den Richtlinien der WHO täglich nicht über 20 g (Frauen) beziehungsweise 30 bis 40 g (Männer) Alkohol zu konsumieren und gemäss den Empfehlungen der British Medical Association (5) ein bis zwei abstinente Tage pro Woche einzulegen. Es erfolgen dabei keine dezidierten Anleitungen, wie moderates Trinken zu praktizieren ist. Derartige allgemeine Empfehlungen können effektiv sein, wenn sie in einen motivierenden Gesprächsstil eingebettet und die Patienten in der Lage sind, anhand der minimalen ärztlichen Anregungen ihr Trinkverhalten weit gehend selbstständig umzustellen. Im Rahmen der WHO Collaborative Studies konnte belegt werden, dass Patienten nach einer strukturierten, motivierenden Fünfminuten-Intervention ihren Alkoholkonsum um 27,5 Prozent reduzierten (40). Die Intervention beinhaltete Feedback über den Alkoholkonsum und Vergleich mit Norm- beziehungsweise Richtwerten, die Erklärung der Masseinheit «Standardgetränk» (für Deutschland: 20 g [22]), die Ermutigung, den Alkoholkonsum an den internationalen Grenzwerten auszurichten sowie die Aushändigung einer Broschüre mit der Beschreibung der gesundheitlichen Auswirkungen des Alkoholkonsums. Ärztlicher Ratschlag plus schriftliches Selbstkontrollprogramm: Erscheint eine schlichte Reduktionsempfehlung unzureichend, der Patient aber gleichzeitig diszipliniert und in der Lage, seinen Alkoholkonsum mittels ausführlicher schriftlicher Anleitungen kontrollieren zu können, kann ihm ein autodidaktisch zu bearbeitendes Selbstkontrollmanual wie das «10-Schritte-Programm zur selbstständigen Reduktion des Alkoholkonsums» (Tabelle 1) empfohlen werden (Internet: www.kontrolliertes-trinken.de [25]). Dieses Programm enthält alle Bestandteile, die auch in international verbreiteten Selbstkontrolltrainings («Behavioral Self-Control-Trainings») enthalten sind. Es umfasst zirka 100 Seiten sowie einen Anhang mit Arbeits- und Informationsblättern. Zur Durcharbeitung und praktischen Umsetzung der zehn Schritte sind zirka drei Monate einzuplanen.
Tabelle 1: I n h a l t e d e s « 1 0 - S c h r i t t e - P r o g r a m m s z u r selbstständigen Reduktion des Alkoholkonsums»
q Herstellung günstiger Rahmenbedingungen zum Erlernen des kontrollierten Trinkens q Führen des Trink-Tagebuchs q Bilanzierung der positiven und negativen Seiten des bisherigen Alkoholkonsums q Aneignung wichtiger Informationen zum Thema «Alkohol» q Festlegung von Limits für kontrolliertes Trinken q Identifizierung von Risikosituationen für Zu-viel-Trinken q Festlegung von Strategien zum Erreichen der Ziele q Freizeitgestaltung q Umgang mit Belastungen q Stabilisierung und Weiterführung der erreichten Veränderungen
Tabelle 2: C h a r a k t e r i s t i k a d e s « A m b u l a n t e n G r u p p e n programms zum kontrollierten Trinken (AkT)»
q Gruppenprogramm für 12 bis 15 Teilnehmer q zieloffen: kontrolliertes Trinken oder Abstinenz möglich q 1 bis 3 vorgeschaltete diagnostische Einzelsitzungen q ausführliches Diagnostikmanual für die Behandler mit allen Interviewfragen,
Fragebögen und Auswertungshinweisen q zeitlich limitiert: 10 wöchentliche Termine zu je 2,25 Stunden Dauer q humanistisch-psychologischer Menschenbild-Hintergrund q Ablauf jeder Sitzung verhaltenstherapeutisch strukturiert: 50% der Zeit Vermittlung
festgelegter Inhalte (z.B. Grundinformationen über Alkohol, Handhabung des TrinkTagebuchs, Möglichkeiten der Trinkzielfestlegung für jeweils eine Woche usw.), 50% Austausch von Erfahrungen und Erarbeitung individualisierter Veränderungspläne q umfangreiches Manual für die Gruppenleitung mit genauen Anleitungen zur Durchführung jeder der 10 Sitzungen q Teilnehmer-Handbuch mit Stundenübersichten sowie allen Informations- und Arbeitsblättern q Fortschritte der Teilnehmer stehen im Fokus («lösungsorientiert») q Heranführung an weitergehende abstinenzorientierte Suchthilfeangebote, falls die praktische Umsetzung des kontrollierten Trinkens nicht (bzw. nicht zufrieden stellend) gelingt
Abfolge ärztlicher Gespräche entlang eines Leitfadens: Die Aneignung von kontrolliertem Trinken kann auch durch kontinuierliche ärztliche Gespräche entlang eines kurzen schriftlichen Arbeitsheftes für den Patienten und einer Begleitbroschüre für den Arzt erfolgen. Ähnlich wie in den WHO Collaborative Studies («20-Minuten-Intervention» [40]) sowie den grossen US-amerikanischen Modellprogrammen «TREAT» (10, 11) und «HEALTH» (36, 37) umfasst das deutsche Arbeitsheft
auf zirka 15 Seiten Anleitungen zur TrinkTagebuch-Führung und Bilanzierung des bisherigen Alkoholkonsums, Informationen über risikoarmen Konsum, Checklisten zu realistischer Zielsetzung und zur Identifizierung von Risikosituationen, Empfehlungen zu Kontrollstrategien und so weiter (26). Die Arztbroschüre gestattet zusätzlich Eintragungen zu Gesprächsverlauf, «Hausaufgaben», Laborwerten et cetera. Derartige Interventionen erweisen sich meist als erfolgreich: Sowohl der Alkohol-
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Tabelle 3: E r s t e e r f o l g v e r s p r e c h e n d e E r g e b n i s s e des AkT
q Zwei Drittel der Programmteilnehmer hatten vor dem AkT trotz viele Jahre zurückreichender, zum Teil gravierender Alkoholprobleme (zwei Drittel «alkoholabhängig» gemäss ICD-10) keinen Kontakt zum Suchthilfesystem aufgenommen. Vor allem der Verzicht auf Abstinenzforderungen und diagnostische Etikettierungen («Alkoholiker») sowie die überschaubare Programmdauer erwiesen sich als wichtige Vorbedingungen dafür, dass erstmalig suchtspezifische Hilfe in Anspruch genommen wurde.
q Die relativ geringe Quote vorzeitiger Programmbeender (9%), die Inanspruchnahme weitergehender Abstinenzangebote sowie die positiven formellen und informellen Rückmeldungen der Teilnehmer sind ein Indiz für die Adäquatheit der Programminhalte und der Programmgestaltung.
q Für die AkT-Gruppen 1 und 2 liegen von 18 Teilnehmern Halbjahres-Katamnesewerte vor. Es zeigt sich, dass die an Trinktagen konsumierte Alkoholmenge im Laufe der Programmteilnahme im Mittel von 5 auf 3 Standardeinheiten sank und auch nach einem halben Jahr auf diesem Niveau weit gehend stabil blieb (3,3 Standardeinheiten). Mit anderen Worten gelang es den Teilnehmern gut, ihre Trinkmenge nicht ausufern zu lassen, wenn sie mit dem Trinken begonnen hatten. Der im Lauf des Programms erzielte Anstieg abstinenter Tage von wöchentlich zirka 1 auf 3 ist ein halbes Jahr nach Programmende auf 1,6 gesunken. Insgesamt betrachtet, haben die Teilnehmer ihren wöchentlichen Eingangskonsum (32 Standardeinheiten) bis zum Programmende um 53 Prozent gesenkt, nach einem halben Jahr beträgt die Reduktion noch 38 Prozent.
q Auch die Tatsache, dass sich in den Gruppen 2 bis 4 jeweils 1 bis 2 Teilnehmer schon bei der Zusage zur Aufnahme in das Programm oder im Lauf desselben für Abstinenz entschieden, das Programm vollständig durchlaufen und die Abstinenz bislang aufrechterhalten haben, ist als Erfolg zu verbuchen. Dies entspricht dem Ansinnen, jeden Teilnehmer in seiner individuellen Zielentwicklung und -annäherung zu unterstützen.
q Aus dem ersten AkT-Kurs ist eine Selbsthilfegruppe hervorgegangen, die sich einmal im Monat trifft. Sie begünstigt nach bisherigen Erfahrungen (Laufzeit etwa 24 Monate) eine Stabilisierung der erzielten Erfolge.
q Die Tatsache, dass 14 der 52 Teilnehmer nach Programmende individuelle ambulante Suchtberatung in Anspruch genommen haben, zum Teil mit dem Ziel der anschliessenden Aufnahme einer abstinenzorientierten stationären Therapie oder einer ambulanten Therapie, ist als Erfolg zu werten. Offensichtlich konnten die Selbsterkenntnis, mit kontrolliertem Trinken überfordert zu sein, und die Motivation, aktiv an der Veränderung der eigenen Alkoholproblematik weiterzuarbeiten, gefördert werden.
konsum im Allgemeinen als auch die exzessiven Trinkphasen im Speziellen reduzieren sich signifikant, die Aufnahme weitergehender Suchtbehandlung und Kosteneinsparungen werden gefördert (z.B. geringere Folgebehandlungskosten und Arbeitsausfallzeiten; Kosten-NutzenIndex in US-Dollar: 1:5,6 [10–12]). Auch niedergelassene Ärzte berichten über positive Erfahrungen mit der strukturier-
ten Vermittlung von kontrolliertem Trinken (31, 35).
Intensivere Gruppenprogramme
Für einen Teil der reduktionswilligen Patienten werden bei ihrem Bemühen um Konsumkontrolle zeitlich ausgedehntere Kontrollprogramme mit therapeutischer
Unterstützung notwendig. Eine intensi-
vere Unterstützungsform stellt das «Am-
bulante Gruppenprogramm zum kontrol-
lierten Trinken (AkT)» dar (19, 24, 27)
(Tabelle 2). Es kann durch entsprechend
geschulte Ärzte, psychologische Psycho-
therapeuten oder Suchtfachkräfte ange-
boten werden (13).
Das AkT wurde erstmals im Oktober 1999
an der Psychosozialen Beratungs- und Be-
handlungsstelle für Suchtkranke des Cari-
tasverbandes Nürnberg durchgeführt (bis
Februar 2003 insgesamt 8 Gruppen). Seit
April 2001 finden in Deutschland und der
Schweiz Trainerkurse zum AkT statt, wozu
ein umfangreiches AkT-Trainermanual mit
Durchführungshinweisen und Zeitanga-
ben für die einzelnen Abschnitte jeder Sit-
zung, Arbeits- und Informationsbögen so-
wie Beschreibungen der notwendigen
Rahmenbedingungen für die Trainings-
durchführung (z.B. Visualisierungshilfen
wie Overhead oder Flip-Chart) gehört
(28). Inzwischen wird das AkT in verschie-
denen Städten angeboten (siehe: www.
kontrolliertes-trinken.de). Die ersten Be-
funde weisen das AkT in mehrerlei Hin-
sicht als attraktives und erfolgverspre-
chendes Angebot für Menschen mit
unterschiedlichen Graden an Alkohol-
problemen aus (Tabelle 3).
q
Literatur unter: www.allgemeinarzt-online.de
Prof. Dr. phil. Joachim Körkel Ev. Fachhochschule Nürnberg
D-90429 Nürnberg
Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 17/2002. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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