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Titel
Überhaltung
Untertitel
-
Lead
Mein Kollege Joe ist ein Besserwisser, der es tatsächlich besser weiss. Er ist nicht nur siebeng’scheit, nicht nur neunmalklug, sondern mindestens centum-clever. Ich unterhalte mich deshalb gerne mit ihm. «Unterhaltung» mit ihm ist im Sinne von «Entertainment» zu verstehen, nicht jedoch als interaktiver verbaler Austausch. Joe textet einen nämlich voll. Mit Mühe und Not kann ich Interjektionen wie: «Ah ja?» oder: «Ja was!» in den nimmer abreissenden Tobel seines Redeschwalls einbringen. Will man einen längeren Satz sagen, muss man entweder darauf warten, dass er niest oder hustet. Was er fast nie tut. Oder laut brüllen: «Jetzt halt mal den Mund!»
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-
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Rubriken — ARSENICUM
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-
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11681
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ENICUM

Überhaltung

Mein Kollege Joe ist ein Besserwisser, der es tatsächlich besser weiss. Er ist nicht nur siebeng’scheit, nicht nur neunmalklug, sondern mindestens centum-clever. Ich unterhalte mich deshalb gerne mit ihm. «Unterhaltung» mit ihm ist im Sinne von «Entertainment» zu verstehen, nicht jedoch als interaktiver verbaler Austausch. Joe textet einen nämlich voll. Mit Mühe und Not kann ich Interjektionen wie: «Ah ja?» oder: «Ja was!» in den nimmer abreissenden Tobel seines Redeschwalls einbringen. Will man einen längeren Satz sagen, muss man entweder darauf warten, dass er niest oder hustet. Was er fast nie tut. Oder laut brüllen: «Jetzt halt mal den Mund!» Doch man muss Joe lassen, dass ein fünfzehnminütiges Gespräch mit ihm wertschöpfend ist. Es ersetzt ein halbes Jahr multidisziplinäre Kurse an der Volkshochschule, Meinungsumfragen bei Opinion Leadern aus den wichtigsten Branchen sowie den Rat eines erstklassigen Psychotherapeuten. Das Niveau seiner Konversation ist derart hoch, dass es keine Unter-, sondern eher eine Überhaltung ist. Während Joe mir das unterschiedliche Aussehen der Bauhin’schen Klappe je nach Alter, Ethnie und Grunderkrankungen farbig schildert (er ist Gastroenterologe), lässt er eine kurze medizinökonomische Evaluation der endoskopischen Techniken im Allgemeinen und Speziellen einfliessen (er hat den MBA), und zwar von der Spiegelung des Sinus ethmoidalis bis zur Kolposkopie (seine Weiterbildung umfasst zwölf Disziplinen der Medizin). Das Thema Optik bringt ihn auf die historische Entwicklung der geschliffenen Gläser von Hamurabbi bis Zeiss (er interessiert sich für Geschichte und Vitrologie), die er kurz inklusive Geschichtszahlen zusammenfasst. Ein Exkurs gilt Goethes Farbenlehre (Joe ist Literatur-

kenner), dann erläutert er via Biografie des Kopernikus (Astronomie hat ihn schon als Kind fasziniert) noch schnell die neuesten Theorien zur Entstehung des Alls (er liest Nature, Science, New Scientist und Scientific American). Bevor er das ptolemäische Weltbild mit dem philosophischen Konzept des Konfuzius vergleicht (er kann Altgriechisch und Chinesisch) und Zsa Zsa Gabors sowie Kofi Annans Meinung dazu zitiert (er liest auch Blick, Glückspost und Frau im Spiegel, kann Ungarisch und vermutlich auch ghanesische Sprachen von Akan über Ewe bis zu Wasa), flüchte ich. Längst prüfe ich nicht mehr mit dem Konversationslexikon nach, ob Joe Recht hat, denn es stimmt tatsächlich immer, was er behauptet. Wenn er etwas nicht weiss, fragt er oder recherchiert. Völlig unkompliziert lernt er gerne Neues und liebt Widerspruch. Es wird nie langweilig mit ihm. Man konsumiert genüsslich das grosszügig angebotene Wissen, muss nicht selber denken oder gar reden, sondern kann sich auf sein Bier und Chäschüechli konzentrieren. Währenddessen entwirft er einem Business-Pläne für die Praxis, gibt Tipps zur Erziehung Pubertierender und Entlöhnung Angestellter, spult Kochrezepte herunter, listet Literaturlisten auf und rettet verbal das Abendland. Und das Ganze in perfektem Hochdeutsch, mit grosszügigem Gebrauch des Genitivs und des Konjunktivs. Leute, die ihn noch nicht lange kennen, haben den Eindruck, dass Joe nicht zuhört. Aber das täuscht. Er redet zwar nonstop weiter, aber er lässt eine ausführliche Antwort auf das, was man gesagt hat, nach spätestens drei Minuten in seine Suada einfliessen. Vermutlich wäre es gewinnbringend, wenn man ihn geknebelt mit finanzkräftigen, zahlwilligen Leuten zusammenbrächte, die Probleme haben

und diese auch äussern können. Erst nach dem Treffen mit ihnen nähme man Joe den Knebel aus dem Mund. Den Ideenund Redestau, der sich dann in einem Redestrom Bahn bricht, würden zwei Stenotypisten in ihre Compis hämmern. Dann müsste man die vielen guten Ideen und Ratschläge zum Berufs- und Privatleben nur noch layouten, ausdrucken und heften. Anschliessend könnte man sie teuer verkaufen. Ganz anders mein Berner Kollege Dänu. Die Gesprächspausen machen den Grossteil seiner Konversation aus. Zäh tropfen die Minuten zu Boden, wenn Dänu nach zwei Worten pro Viertelstunde ein Weilchen um das dritte ringt. Es hilft nichts, wenn man ihm ins Wort fällt und das Satzende extrapoliert. Er will den Satz selber fertig sprechen und er spricht ihn auch fertig. Egal, wie lange es dauert und wie banal der Inhalt seiner Mitteilung ist. Auch bei ihm fokussiere ich meine Aktivität auf mein Bier und Chäschüechli. Aber ich höre ihm nicht fasziniert zu, sondern lasse entspannt meine Gedanken schweifen, von Kofi zu Kopernikus, von koptischen Knoten zu knotigen Kröpfen. «Gäouw?», bellt Dänu alle Stunde, oder: «Mouw?». Dann schrecke ich hoch und wiege meinen Kopf bedeutsam hin und her. Das reicht als Gesprächsbeitrag absolut aus. Dänu ist ein ausgezeichneter Zuhörer. Stoisch lässt er meine Monologe auf sich niederprasseln, nickt ab und zu, schnitzt an seiner Zigarre herum und sagt nach längerem Schweigen, nachdem ich ihm eine Batterie von Fragen gestellt habe: «Jujeaberau!» oder: «Hänusodää!». «Wir haben uns gut unterhalten!», meinen sowohl Joe wie auch Dänu immer, wenn ich eine Zeitlang mit einem von ihnen verbracht habe. Und – haben sie nicht Recht?

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