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Sondenernährung mit System
Einsatz von Nährlösungen in der allgemeinärztlichen Praxis – Bolus, Beutel oder Pumpe?
DIETMAR STIPPLER UND MARKUS BRÜNGEL
Die enterale Ernährung über
Magen- oder Dünndarm-
sonden ist mittlerweile ein
etabliertes Verfahren, um bei
definierten Indikationen die
Ernährung und damit das
Überleben sicherzustellen.
Wichtig ist eine patienten-
gerechte Auswahl von
Applikationstechnik und
Substraten.
Eine enterale Ernährung mit speziellen Nährlösungen – auch Sondenkost genannt – ist dann indiziert, wenn Patienten nicht mehr selbst essen und trinken können beziehungsweise dürfen oder nicht in der Lage sind, ihren Bedarf durch eigenständige Nahrungszufuhr zu decken (Tabelle 1). Enterale Sondenernährung wurde in den Achtzigerjahren entwickelt und kann sowohl ergänzend als auch ausschliesslich zur bedarfsgerechten Ernährung genutzt werden. Dabei gibt es verschiedene Zugänge, Applikationswege und Kostformen, die sich nach den individuellen Bedürfnissen des Kranken richten. Bei der Sondenernährung wird dem Pa-
tienten das Nahrungssubstrat aus Flaschen oder Nahrungsbeuteln mittels eines Überleitgeräts zugeführt. Man unterscheidet zwischen kurzfristiger naso-enteraler und langfristiger perkutan-enteraler Ernährung. Letztere wird empfohlen, wenn länger als zwei bis vier Wochen über Sonde ernährt werden muss. Transnasale Sonden werden über die Nase in den Magen beziehungsweise Dünndarm geschoben. Eine perkutane Sondenanlage erfolgt direkt durch die Bauchdecke in Magen oder Dünndarm. Bolusernährung versucht die «normale» Ernährung nachzubilden und eignet sich für Patienten, deren Magen-Darm-Funktion noch weit gehend intakt ist. Auch bei einer kontinuierlichen Ernährung soll auf regelmässige Nahrungspausen (z.B. nachts) geachtet werden, um die Säureschutzfunktion des Magens zu erhalten.
Schwerkraft versus Pumpe
Prinzipiell gibt es zwei Applikationssysteme: via Schwerkraft oder via elektronische Ernährungspumpe. Beim Schwerkraftsystem ermöglicht die Erdanziehungskraft den Transport der Nahrung aus der Flasche über das Überleitsystem zum Patienten. Dazu müssen Flasche oder Nahrungsbeutel kopfüber aufgehängt werden. Entscheidend für die Fliessgeschwindigkeit der Sondennahrung sind die Höhendifferenz zwischen Flüssigkeitspegel im Nahrungsbehältnis und Ausflussstelle am Patienten sowie die Strömungsverhältnisse im Überleitgerät. Eine gewisse zusätzliche Feinregulierung ist über die am Überleitsystem befindliche Rollenklemme möglich. In der Praxis gestaltet sich diese Applikationsform oft schwierig. Die Tropfgeschwindigkeit des Subtrats kann insbe-
Merk-
sätze
q Sondennahrung kann entweder intermittierend in festgelegten Portionsgrössen (z.B. 300 ml alle 2 Stunden, Bolusgabe), oder kontinuierlich (z.B. 150 ml/h, Dauertropf) verabreicht werden.
q Bei beiden Systemen – Schwerkraft und elektronische Ernährungspumpe – muss der Nahrungsbehälter so aufgehängt werden, dass das Überleitgerät nicht knickt und die Nahrungszufuhr nicht unterbrochen oder reduziert wird.
q Nur bei gastraler Sondenlage ist eine intermittierende Ernährung mit Ernährungspausen und mehreren Mahlzeiten möglich.
sondere bei Sondennahrung höherer Viskosität mittels Rollenklemme nicht exakt genug eingestellt werden. Ausserdem besteht die Gefahr, dass verwirrte beziehungsweise bewusstseinsgestörte Patienten die Rollenklemme verstellen. Gastrointestinale Beschwerden, Entgleisungen des Flüssigkeitshaushalts oder des Blutzuckers können die Folge sein. Bei Einsatz einer elektronischen Ernährungspumpe wird dagegen sowohl eine zeitgerechte, konstante als auch eine sichere Nahrungszufuhr gewährleistet. Ausserdem stehen hierbei auch mobile Systeme zur Verfügung. Gastrointestinale Unverträglichkeiten und metabolische Störungen lassen sich dadurch reduzieren. Ernährungspumpen sind mit umfassen-
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Sondenernährung mit System
Tabelle 1: M e d i z i n i s c h e I n d i k a t i o n e n , die eine enterale Ernährung begründen können
Indikationen (Oberbegriffe) Spezifische Erkrankung
Ernährungsweg
Neurologische Erkrankungen/ fortgeschrittene demenzielle Syndrome
q Apoplex q Amyotrophe Lateralsklerose
(ALS) q Morbus Parkinson q Multiple Sklerose q Apallisches Syndrom q Myastenia gravis q Enzephalopathie q Rett-Syndrom q Schädel-Hirn-Trauma q Morbus Alzheimer q Hirntumore
q PEG* q PEG
q PEG q PEG q PEG q PEG q PEG q PEG q PEG q PEG q PEG
Erkrankungen des Verdauungstrakts/ Chirurgische Eingriffe
q CED (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa)
q Kurzdarmsyndrom q Magen-Resektion q Ösophagus-Resektion q Pankreas-Resektion q Gesichts-/Kiefer-Trauma q Tracheoösophagale Fisteln
q Trinknahrung bzw. nasogastrale Sonde
q PEG q PEG/PEJ** q PEG/PEJ q PEG/PEJ q PEG q PEG
Konsumierende Erkrankungen q Kachexie (Tumor-, pulmonale, kardiale)
q Aids
q Primär Trinknahrung, nasogastrale Sonde und/oder PEG
Behandlungsbedingte Nebenwirkungen
q Strahlenmukositis durch Bestrahlung des (oberen) Gastrointestinaltraktes
q PEG
Erbkrankheiten
q Zystische Fibrose (Mukoviszidose)
q PEG
* PEG: Perkutane endoskopisch kontrollierte Gastrostomie ** PEJ: Perkutane endoskopisch kontrollierte Jejunostomie
Aspirationsrisiko bei Sondenpatienten
Patienten mit fehlendem Hustenreflex sind durch die Zufuhr von Sondenkost von einer so genannten «stillen Aspiration» bedroht, insbesondere bei Immobilität und gestörter Bewusstseinslage. «Still» heisst: Die Aspiration wird erst dann erkannt, wenn weitere Symptome wie Dyspnoe oder eine manifeste Pneumonie auftreten. Die Aspiration von Mageninhalt ist eine schwer wiegende Komplikation. Schon kleine Mengen Nahrung, die in die Luftwege eindringen, können Fieber und eine Lungenentzündung auslösen. Eine Aspirationspneumonie ist ein behandlungsaufwändiges Problem mit hohen Therapiekosten und hoher Letalität. Deshalb hat die Prophylaxe zur Vermeidung einer solchen Aspiration oberste Priorität. Ein Hilfsmittel ist dabei eine elektronisch gesteuerte Ernährungspumpe. Um zu entscheiden, ob Ihr Patient von diesem Hilfsmittel profitieren wird, sollten Sie sich die folgenden Fragen stellen: 1. Wo liegt die Sondenspitze –
im Magen oder im Dünndarm? 2. Ist die Magenmotilität gestört? 3. Ist das Bewusstsein des Patienten
gestört? 4. Ist der Patient weit gehend immobil? Bei einer intestinalen Sondenlage ist, wie bereits oben angeführt, eine pumpenassistierte Applikation obligatorisch. Wird eine der Fragen 2 bis 4 mit «Ja» beantwortet, ist der Einsatz einer Ernährungspumpe nach derzeitigen Erkenntnissen ebenfalls zu empfehlen.
den Sicherheits- und Alarmfunktionen ausgestattet. Unkontrolliertes Einlaufen grösserer Substratmengen ist nahezu unmöglich, da die Pumpe die Zufuhr unterbricht, wenn ein Fehler auftritt.
System individuell auswählen
Die Systemwahl muss auf die individuelle Situation des Patienten abgestimmt sein. Bei intestinaler Sondenlage ist eine Ernährungspumpe unumgänglich, um Entgleisungen zu vermeiden. Zu empfehlen ist
eine Pumpe zudem grundsätzlich bei Patienten mit Magenentleerungsstörungen und bei diabetischen Patienten. Neuere Untersuchungen zeigen, dass Patienten in Pflegeeinrichtungen signifikant von Ernährungspumpen profitieren. Im Regelfall wird dazu ein Infusionsständer genutzt. Weitere für eine sachgerechte Versorgung benötigte Hilfsmittel sind die täglich zu wechselnden Überleitgeräte und gegebenenfalls Behälter für die Flüssigkeitszufuhr.
Gastraler oder jejunaler Zugang
Prinzipiell ist die perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG, gastrale Sondenlage) als Zugangsweg zu bevorzugen, weil sie den physiologischen Verhältnissen besser entspricht. Sie ist bei Patienten mit normaler Magenentleerung und intakten Schutzreflexen (Husten/Würgereflex) indiziert. Der Vorteil der PEG: Die Säureschutzfunktion des Magens bleibt weit gehend er-
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Medikamentengabe bei Sondenpatienten
Als goldene Regel gilt: Prinzipiell keine Medikamente der Sondenkost zugeben. Denn es können hierbei Wechselwirkungen zwischen Nahrung und Medikament auftreten, welche die Wirkung des Medikaments unkontrollierbar beeinflussen. Die Wirkung kann abgeschwächt bis aufgehoben, aber auch verstärkt werden. Umgekehrt gibt es auch Beispiele, die beweisen, dass Nahrungsinhaltsstoffe durch das Medikament geschädigt und damit unbrauchbar werden. Die Medikamente sind daher in den Ernährungspausen zu geben beziehungsweise bei Ernährungspumpen beim Beutelwechsel. Dafür sind bei den meisten Systemen Y-Leitungen vorhanden. Um Kontakt mit der Sondenkost zu vermeiden, sollte man die Sonde vorher und nachher mit Wasser (mind. 30 ml) spülen. Sehr gute und detaillierte Informationen zum Thema «Medikamentengabe bei Sondenpatienten» finden Sie auf der Internetseite: www.pharmatrix.de/cgi-bin/sonde/form_sonde.pl
halten. Im ernährungsfreien Intervall sinkt der Magen-pH-Wert ab. Der saure Magensaft wirkt bakterizid, sodass pathogene Keime abgetötet werden können und die Gefahr nosokomialer Infektionen und intestinaler Fehlbesiedlung sinkt. Zudem fördert die intermittierende Ernährung die Freisetzung intestinaler Hormone durch den Dehnungsreiz des Magens. Dies spielt eine wichtige Rolle bei der Verdauungsregelung. Moderne Ernährungspumpen besitzen meist eine Bolus-Funktion. Deren Einstellung ermöglicht eine Ernährung mit Pausen. Darüber hinaus stellt die Ernährungspumpe sicher, dass nur die program-
mierten, physiologisch sinnvollen Nahrungsmengen verabreicht werden. Bei Patienten mit erhöhtem Aspirationsrisiko (z.B. bei Magenentleerungsstörungen wegen diabetischer Neuropathie, Zwerchfellhernie oder chronischem gastroösophagealem Reflux) ist eine intestinale Sondenlage (z.B perkutane endoskopische Jejunostomie = PEJ) indiziert. Liegt die Sondenspitze im Dünndarm, entfällt die Pylorus-gesteuerte physiologische Abgabe kleiner Portionen sauren Speisebreis. Diese Funktion muss dann obligat, um Nebenwirkungen zu vermeiden, durch die Ernährungspumpe zur kontinuierlichen Applikation ersetzt werden.
Substrate für die enterale Ernährung
Enterale Substrate werden als «bilanzierte Diäten für besondere medizinische Zwecke» bezeichnet und unterliegen der Diätverordnung (DiätVO). Diese regelt die Mindest- und Höchstmengen an Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen, die in diesen Produkten enthalten sein dürfen. Die DiätVO unterscheidet zwei wichtige Gruppen bilanzierter Diäten: 1. Vollständige bilanzierte Diäten eignen
sich als alleinige Nahrungsquelle. Sie liefern ausreichend Energie und alle notwendigen Nährstoffe. Die meisten Sondennahrungen und einige Trinknahrungen (Elementardiäten) zählen zu dieser Gruppe. 2. Ergänzende bilanzierte Diäten sind nicht als alleinige Nährstoffquelle geeignet. Nur zusätzlich mit anderen Lebensmitteln können sie eine ausreichende Nährstoffversorgung sicherstellen. Beispiele hierfür sind einige Trinknahrungen (Elementardiäten). In der Praxis haben sich andere Einteilungen durchgesetzt. Ausgehend von den Anwendungsgebieten und der Zusammensetzung werden die Produkte zum Beispiel als Standardnahrung oder krankheitsadaptierte Nahrung bezeichnet. Standardnahrungen weisen eine Nährstoffrelation
Tabelle 2: Anwendungsgebiete häufig genutzter Produktgruppen enteraler Substrate
Produktgruppe
Eignung für
Anwendungshinweis
Hochkalorische Nahrung (> 1,1 kcal/ml)
q Erhöhter Energiebedarf (z.B. bei Krampfanfällen)
q Flüssigkeitsrestriktion (z.B. kardiale Insuffizienz)
q Voraussetzung: Intakter Gastrointestinaltrakt
q Flüssigkeitsbedarf beachten
Hypokalorische Nahrung (< 0,9 kcal/ml) q Einschleichphase q Erhöhter Flüssigkeitsbedarf und geringerer Energiebedarf Wird von Patienten mit eingeschränkter intestinaler Leistung oft besser vertragen Krankheitsadaptierte Nahrung Patienten mit entsprechender (z.B. für chronisch Niereninsuffiziente) Erkrankung Speziell auf das Krankheitsbild adaptiert, nicht ubiquitär einsetzbar Trinknahrungen (Elementardiäten) q Erhöhter krankheitsbedingter Energiebedarf (kachektische Patienten) q Chronisch entzündliche Darmerkrankungen q Mukoviszidose q Auswahl richtet sich nach Bedarf und Akzeptanz q Geschmack wichtig q Intoleranzen beachten A R S M E D I C I 5 q 2 0 0 4 225 FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE Sondenernährung mit System Tabelle 3: M ö g l i c h e K o m p l i k a t i o n e n b e i e n t e r a l e r E r n ä h r u n g und Massnahmen zu deren Vermeidung Komplikation Diarrhö Obstipation Sondenverstopfung Mögliche Ursache q Nahrung zu kalt q Zu schneller Kostaufbau q Medikamente q Substrat q Allergische Reaktion q Flüssigkeit q Substrat q Medikamente q Nahrung ausgeflockt q Medikamentenreste Abhilfe q Nahrung vor Applikation auf Zimmerwärme bringen q Einschleichplan aufstellen und beachten q Medikation prüfen und gegebenenfalls anpassen q Ballaststoffhaltige Nahrung nutzen q Substrat wechseln q Genügend Flüssigkeit applizieren q Ballaststoffhaltige Nahrung nutzen q Medikation prüfen und gegebenenfalls anpassen q Nahrung und Medikamente nie gleichzeitig verabreichen. Sonde nie mit sauren Flüssigkeiten (Früchtetee oder Fruchtsaft) spülen! q Medikamente «lege artis» zerkleinern, gegebenenfalls auf flüssige Formen ausweichen q Sonde immer gut spülen (d.h. Verhältnis von Eiweiss, Fetten und Kohlenhydraten) auf, die sich an den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung orientiert. Um eine geregelte Verdauung zu gewährleisten, werden für eine langfristige Versorgung ballaststoffhaltige Produkte empfohlen. Die Nährstoffdichte von Standardnahrungen liegt zwischen 0,75 und 1,5 kcal/ml. Krankheitsadaptierte Nahrungen sind in ihrer Zusammensetzung auf ein spezielles Krankheitsbild zugeschnitten und weisen eine veränderte Nährstoffzusammensetzung auf, die für die zugrunde liegende Indikation optimiert wurde (z.B. Nahrungen für Patienten mit Organinsuffizienzen, Diabetes). Die neu erschienenen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin zur enteralen Ernährung (www.dgem.de) handeln den gesamten Themenbereich umfassend ab. Die Vielzahl der Produkte ermöglicht eine individuell angepasste Ernährungstherapie für jeden Patienten. Tabelle 2 gibt einen kurzen Überblick über häufig genutzte Produktgruppen und deren Einsatzgebiete. Komplikationen und Abhilfe Die häufigsten Komplikationen bei enter- aler Ernährung mit Sondenkost sind gastrointestinale Probleme wie Diarrhöen oder Obstipationen, Sondenverstopfun- gen oder Entzündungen am Stoma. Die Ursachen sind unterschiedlich, jedoch gibt es einfache Möglichkeiten, die diversen Fallstricke zu umgehen (Tabelle 3). So kann zum Beispiel die Geschwindigkeit der Applikation die Verträglichkeit beein- flussen. Eine zu schnelle Zufuhr kann so- wohl zu Diarrhö als auch zu Unwohlsein oder Erbrechen führen. Deshalb sollte auf eine individuell angepasste Applikation geachtet werden. q Die Literaturauswahl kann beim Verlag angefordert werden, auch auf elektronischem Weg: info@rosenfluh.ch. Pfrimmer Nutricia GmbH Scientific Key Account Manager Dr. Dietmar Stippler Am Weichselgarten 23 D-91058 Erlangen Pfrimmer Nutricia GmbH Med.-wiss. Information Dr. Markus Brüngel Am Weichselgarten 23 D-91058 Erlangen Interessenkonflikte: ergeben sich aus der Firmentätigkeit. Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 16/2003. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren. 226 A R S M E D I C I 5 q 2 0 0 4