Transkript
15-16_2024
15. August 114. Jahrgang
Max Ernst Oiseau
Farblithografie 26 × 18 cm
Auktion siehe Seite 343
Rufpreis (Mindestpreis): CHF 880.–
Heute im ARS MEDICI Auktionsfenster
Qualitätssicherung in der Praxisapotheke
Erkenntnisse und Best Practices Bei Polypharmazie genau hinsehen
Nicht allein die Anzahl der Medikamente ist ausschlaggebend Neuerungen bei Antidiabetika- und Insulintherapie
mediX-Leitlinie Diabetes überarbeitet Offizielles Publikationsorgan
EDITORIAL
spaziergängern, Online-Meetings mit Zoom oder Teams, Maskenmangel, Freunden auf Abstand, blockierten Strassen, vollen Intensivstationen, verzweifelten Angehörigen, IPS-Patienten, pleitegehenden Gastrobetrieben, Coiffeusen mit Masken, gelüfteten Schulzimmern, leeren Sterilium-Ständern, kontaktlosen Essenlieferungen, Kühlwagen mit Leichen in New York, Coronapartys, TVDiskussionen mit Drosten und Streeck …
Corona – Erinnerung und Aufarbeitung
Erinnern Sie sich? An Corona, COVID-19, SARS-CoV-2, Zwei-HaushalteRegel, Viruslast, Respiratoren, Vektorimpfstoffe, Aerosole, FFP-1, FFP-2, FFP-3, Maskenpflicht, Lockdown, Shutdown, Contact Tracing, Drosten und Streeck, Hygienemasken, Social Distancing, Wuhan, COVID-Zertifikat, R-Wert, Delta-Variante, Verschwörungstheorien, Epidemiekurve, Herdenimmunität, Impfzwang, Armbeugehusten, Inzidenz, Inzidenzrate, Neuinfektionsrate, Kontamination, Long Covid, Ausgangssperre, Messenger-RNS, BionTech, RNA-Impfstoffe, Booster, Nasopharyngealabstrich, Homeoffice, COVID-App, Quarantäne, AntigenSchnelltest, Trennscheiben, Superspreader, Taskforce, Daniel Koch (Mister Corona), Bauchlage, Testzentren, Community-Maske, Hydroxychloroquin, Übersterblichkeit, Kontaktverfolgung, Omikron, Ageusie, Anosmie, ARDS, Reproduktionszahl, Virologen, Epidemiologen, Modellierer, SwissCovid, Heinsberg-Studie, Flächendesinfektion, Inkubationszeit, Kontaktliste, Letalität, Mortalität, Moderna, Lonza, Bergamo, Webinare, PCR-Tests, Schulschliessung, Spike-Protein, 2G-plus-Regel, Hotspot, Paul-Ehrlich-Institut, Robert-Koch-Institut, Risikogruppe, Pavloxid, Prävalenz, Corona-Kredit-Paket, Comirnaty …
Haben Sie noch die Bilder vor Augen? Von Grenzzäunen zu Deutschland, chinesischen «ÜberNacht»-Spitälern, leeren Strassen, einsamen Hunde-
Wissen Sie noch? Dass der Bundesrat erst am 16. Februar 2022 beschloss, dass ab dem 17. Februar fast alle Massnahmen aufgehoben werden: Maskenpflicht in Läden und Innenbereichen von Restaurants sowie von öffentlichen Veranstaltungen, Maskenpflicht am Arbeitsplatz, Zugangsbeschränkungen mittels Zertifikat (3G-, 2G- und 2G+-Regel), Bewilligungspflicht für Grossveranstaltungen, Einschränkungen privater Treffen, jedoch bis Ende März 2022 sich positiv getestete Personen weiterhin während mindestens fünf Tagen in Isolation begeben mussten und erst per 2. Mai 2022 die letzten Einreisebeschränkungen aufgehoben wurden. Das ist wenig mehr als zwei Jahre her!
Aufarbeitung und Fazit
Auf allen Kanälen wird derzeit diskutiert, was die Verant-
wortlichen richtig und was falsch gemacht und was wir
gelernt haben für die nächste Pandemie. Medizinisch, ge-
sellschaftlich, pädagogisch, politisch, kommunikativ. Das
Fazit ist so einfach wie ernüchternd: 1. Wir machten zu
jeder Zeit, was wir aufgrund unseres Wissens und Unwis-
sens, unserer Ängste und Mängel glaubten machen zu
müssen und kamen so letztlich ganz gut durch die Krise.
2. Hätten wir damals über Corona und seine Folgen ge-
wusst, was wir heute wissen, hätten viele manches an-
ders gemacht. 3. Auf die nächste Pandemie sind wir ge-
fasst. Sie wird uns trotzdem wieder überraschen, und die
Verantwortlichen (und wir alle) werden wieder warnen,
abwiegeln, empfehlen, verordnen, verbieten, Angst ha-
ben, hochrechnen, sterben, zweifeln, lügen, daran zer-
brechen, davon profitieren, kritisieren, protestieren und
am Ende … alles aufarbeiten und wieder zu den gleichen
Schlüssen kommen wie heute.
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Richard Altorfer
ARS MEDICI 15+16 | 2024
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* Bei diagnostiziertem Eisenmangel – wenn eine orale Eisentherapie ungenügend wirksam, unwirksam oder nicht durchführbar ist. # Die Kosten für eine Behandlung von Eisenmangel mit Viyana® werden in vielen Fällen von den Zusatzversicherungen übernommen. Stand der Information: Januar 2024.
Referenzen: 1. Fachinformation Viyana®: www.swissmedicinfo.ch. 2. Favrat B, et al. Evaluation of a single dose of ferric carboxymaltose in fatigued, iron-deficient women – PREFER a randomized, placebocontrolled study. PLoS One 2014;9(4): e94217.
Fachpersonen können bei Vifor Pharma Schweiz eine vollständige Kopie der zitierten Referenzen anfordern.
Ferinject® und Viyana®. Z: Eisencarboxymaltose. I: Eisenmangel, wenn orale Eisentherapie ungenügend wirksam, unwirksam oder nicht durchführbar ist. D: Die kumulative Gesamtdosis von Ferinject®/ Viyana® muss individuell berechnet werden. Ferinject®/Viyana® kann als i. v. Infusion (verdünnt in 0.9% NaCl) oder als i. v. Injektion (unverdünnt) in wöchentlichen Dosen von maximal 1000 mg verabreicht werden. KI: Überempfindlichkeit gegenüber Wirkstoff oder Hilfsstoffen, Anämie ohne gesicherten Eisenmangel, Eisenüberladung, erstes Schwangerschaftstrimester. VM: Patienten vor jeder Verabreichung von Ferinject®/Viyana® nach früheren UAW von i. v. Eisenpräparaten befragen. Nur anwenden, falls medizinisches Fachpersonal, das anaphylaktische Reaktionen bewerten und behandeln kann, sofort verfügbar ist, sowie nur in einer Einrichtung, in der alle Vorrichtungen zur Reanimation vorhanden sind. Patienten während mind. 30 Min. nach Verabreichung auf Anzeichen und Symptome einer Überempfindlichkeitsreaktion beobachten. Paravenöse Verabreichung kann eine braune Verfärbung verursachen und ist deshalb zu vermeiden. Bei akuter oder chronischer Infektion, Asthma oder atopischen Allergien nur mit Vorsicht anwenden. Natriumgehalt von bis zu 5.5 mg/ml berücksichtigen. Parenterales Eisen kann zu Hypophosphatämie führen, in den meisten Fällen vorübergehend und ohne klinische Symptome. In Einzelfällen wurde bei Patienten hauptsächlich mit bekannten Risikofaktoren und nach dauerhafter höherer Dosierung über behandlungsbedürftige Hypophosphatämie berichtet. Bei Hochdosis-/Langzeitbehandlung und Risikofaktoren Überwachung bez. hypophosphatämischer Osteomalazie. Bei Arthralgie und Knochenschmerzen ärztlichen Rat einholen. S/S: KI im 1. Trimester, im 2. und 3. Trimester nur bei zwingender Indikation anwenden. Fetale Bradykardie kann infolge einer Überempfindlichkeitsreaktion der Mutter auftreten; Fetus sollte während der Verabreichung überwacht werden. UAW: Häufig: Hypophosphatämie, Kopfschmerzen, Gesichtsrötung (Flush), Schwindel, Hypertonie, Übelkeit, Reaktionen an der Injektions-/Infusionsstelle. Gelegentlich: Überempfindlichkeitsreaktionen vom Soforttyp, Parästhesien, Tachykardie, Hypotonie, Erröten, Dyspnoe, gastrointestinale Beschwerden, Dysgeusie, Hautausschlag, Pruritus, Urtikaria, Hautrötung, Myalgie, Arthralgie, Muskelkrämpfe, Fieber, Müdigkeit, peripheres Ödem, Schüttelfrost, Schmerz, Anstieg der AST, ALT, Gamma-GT, LDH und ALP. IA: Bei gleichzeitiger Verabreichung von oralen Eisenpräparaten ist deren Absorption reduziert. P: 5 Stechampullen zu 100 mg (2 ml) oder 500 mg (10 ml), 1 Stechampulle zu 500 mg (10 ml) oder zu 1000 mg (20 ml). Liste B. Detaillierte Informationen: www.swissmedicinfo.ch. Zulassungsinhaberin: Vifor (International) Inc., CH-9001 St. Gallen. Vertrieb: Vifor Pharma Switzerland Inc., CH-1752 Villars-sur-Glâne. Stand: April 2022.
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IN DIESEM HEFT
BERUF, PRAXIS, POLITIK, GESELLSCHAFT
TITELBILD
Max Ernst
Oiseau, Farblithografie, Auflage: 99 (Blatt 92) 26 × 18 cm (43 × 35 cm inkl. Rahmen), signiert, mit Rahmen
EDITORIAL 339 Corona – Erinnerung und Aufarbeitung
Von Richard Altorfer
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN 344 Gynäkologie Neues Hydrogel-Implantat: Zukünftig Schutz vor Schwangerschaft und Endometriose?
344 Kardiologie «Basel Wearable Clinic»: schweizweit erstes digitales Zentrum zur Diagnostik von Herzrhythmusstörungen
345 Reiseimpfungen Was bei Rheumapatienten beachtet werden sollte
346 Rosenbergstrasse
POLITFORUM 347 Versorgungsengpässe bei Medikamenten: Es besteht dringender Handlungsbedarf
348 Erleichterte Zulassung für patentabgelaufene Medikamente
APA 349 Qualitätssicherung in der Praxisapotheke Erkenntnisse und Best Practices
IMPRESSUM 367 Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats
Titelbildauktion für unsere Leserinnen und Leser
Sie können unsere Titelbilder käuflich erwerben, und zwar im Rahmen einer Auktion. Näheres dazu erfahren Sie in den Auktionsbedingungen (siehe Seite 343). Sollten auch Sie ein Werk haben, das Sie auf dieser Plattform anbieten möchten, freuen wir uns über Ihre Kontaktaufnahme unter: auktion@rosenfluh.ch
Cochrane Library aktuell
https://swiss.cochrane.org/de/ars-medici
ARS MEDICI 15+16 | 2024
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IN DIESEM HEFT
MEDIZIN
FORTBILDUNG
351 Aktualisiert: Schweizer Therapieempfehlungen für primäre Kopfschmerzen
355 Neuerungen bei Antidiabetika- und Insulintherapie
mediX-Leitlinie Diabetes überarbeitet
358 Praktische Hinweise zum Impfplan
Update zum mediX-Factsheet Impfungen
362 Bei Polypharmazie genau hinsehen
Nicht allein die Anzahl der Medikamente ist ausschlaggebend
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ARS MEDICI 15+16 | 2024
ARS MEDICI AUKTION 15-16/2024
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Auktionsnummer: 0824126
Oiseau
Max Ernst
Farblithografie, Auflage: 99 (Blatt 92) 26 × 18 cm (43 × 35 cm inkl. Rahmen) signiert, mit Rahmen
Rufpreis (Mindestpreis): CHF 880.–
Versandkosten zulasten des Käufers, Auktionsgebühr (20 Prozent des Verkaufspreises) zulasten des Verkäufers
Auktionsdaten Auktionsbeginn: Donnerstag, 15. August 2024 Auktionsende: Montag, 2. September 2024 (12.00 Uhr) Steigerungsbedingungen Die detaillierten Steigerungsbedingungen sowie der Stand der Auktion sind auf der Homepage des Verlags einsehbar: www.rosenfluh.ch/arsmedici/auktion
Zum Künstler und zum Werk
Entstehungsjahr 1965
Der 1891 geborene Max Ernst studierte Psychologie, Philosophie und Kunstgeschichte. In dieser Zeit befreundete er sich mit August Macke und begann selber zu malen. Er wurde bekannt als Collagekünstler, stellte 1921 erstmals in Paris aus und erfand 1925 die sogenannte Frottagetechnik in der Graphik.
1933 wurde Max Ernst als entartet eingestuft. 1941 flüchtete er nach Madrid und Lissabon, später setzte er sich in die USA ab, wo er die Mäzenatin Peggy Guggenheim heiratete. 1953 siedelte er wieder nach Paris über, dort erhielt er die französische Staatsbürgerschaft. 1966 trug seine Geburtsstadt Brühl ihm die Ehrenbürgerschaft an, die er ablehnte. Ernst zog in die Provence nach Seillans. Er starb 1976 in der Nacht zu seinem 85. Geburtstag in Paris.
Ernst verstand es, Naturformen und alltägliche Dinge in irrealer Weise miteinander zu verbinden. Seine Bilder erinnern an eine Welt des Traumes und des Unterbewussten. Die Verfremdung des Alltäglichen sowie die irritierende Inszenierung des Unerklärlichen und des Traumhaften wurden dabei immer wieder durch Ironie und Humor gebrochen.
Bieten für einen guten Zweck
Die Bilder auf den Titelseiten von ARS MEDICI sowie zusätzlich auf der Auktionsseite angebotene Werke können Sie ersteigern. Zur Steigerung sind alle zugelassen. Bieter müssen beim ersten Interesse zwingend folgende Angaben hinterlassen:
• Name, Vorname • Adresse, E-Mail
Bieter erkennen mit dem ersten Gebot automatisch die Steigerungsbedingungen (s. u.) an. Mindestpreis ist der Rufpreis. Höhergebote sind möglich in Schritten zu • CHF 5.– bis zu Geboten von CHF 100.– • CHF 10.– ab CHF 101.– bis 200.– • CHF 20.– ab CHF 201.– bis 500.– • CHF 50.– ab CHF 501.– bis 1000.– • CHF 100.– ab CHF 1001.– bis 2000.– • CHF 200.– ab CHF 2001.– bis 5000.–
Sie können auf folgenden Wegen bieten – immer unter Angabe der Auktionsnummer und wenn möglich des Werktitels:
• per E-Mail an auktion@rosenfluh.ch • per Fax an 052 675 50 61 Als Bieter erhalten Sie – ausschliesslich zu Bürozeiten – per E-Mail oder Fax eine kurze Bestätigung über Ihr Gebot. Der aktuelle Stand der Auktion ist einsehbar auf unserer Homepage (www.rosenfluh.ch) unter der Rubrik «ARS MEDICI Auktion».
Gebote ausserhalb der Bürozeiten (nach 17.00 Uhr und übers Wochenende) werden erst am Folgetag beziehungsweise am ersten Arbeitstag der Woche verarbeitet und eingestellt. Als Bieter erhalten Sie bei einem Höhergebot eine Nachricht – ausschliesslich per E-Mail oder Fax und nur zu Bürozeiten! Bei einem Bieterwettbewerb vor Auktionsschluss kann die Verlagsleitung die Auktion um bis zu eine Stunde verlängern. Sie können ein Maximalgebot angeben, das geheim bleibt. Bestehende Gebote werden damit nur um den jeweils nächsten minimalen Schritt erhöht. Maximalgebote haben grundsätzlich Vorrang gegenüber Einzelgeboten. Nach Abschluss der Auktion erhält der Käufer vom Verlag eine Rechnung in Höhe des gewinnenden Gebots plus MwSt. plus allenfalls Versandkosten. Der Versand (Post, auf Wunsch Kurier oder Selbstabholung) des Werks erfolgt nach Eingang der Zahlung. Die Versandkosten werden vom Käufer getragen. Der Verkäufer eines Werks übernimmt die Auktionsgebühr in der Höhe von 20 % des gewinnenden Gebots. Diese wird durch den Verlag vierteljährlich einer gemeinnützigen Organisation gespendet. Die Auszahlung (80 %) erfolgt innert drei Tagen nach Eingang der Zahlung durch den Käufer.
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Gynäkologie
Neues Hydrogel-Implantat: Zukünftig Schutz vor Schwangerschaft und Endometriose?
Einem Team der ETH Zürich und der Empa ging es zunächst darum, mithilfe eines Hydrogels, das die Eileiter blockiert, ein neues Verhütungsmittel für Frauen zu entwickeln. Später haben die Forscher herausgefunden, dass diese Blockade möglicherweise auch eine Endometriose verhindern könnte. Die Entstehung dieser Krankheit ist bis heute nicht vollständig geklärt. Man vermutet, dass während der Menstruation Blut durch die Eileiter zurück in die Bauchhöhle fliesst. Dieses Blut enthält Zellen der Gebärmutterschleimhaut, die sich in der Bauchhöhle ansiedeln und dort Entzündungen, Schmerzen und die Bildung von Narbengewebe verursachen können.
Ein Vorteil von Hydrogelen besteht darin, dass sie bei Kontakt mit Flüssigkeit aufquellen. So ist das neu entwickelte Implantat zunächst nur etwa zwei Millimeter lang, kann mit einem Hysteroskop eingesetzt werden und schwillt im Eileiter auf mehr als die doppelte Grösse an (Abbildung). Dann wirkt das Hydrogel wie eine Barriere, die weder Spermien noch Blut durchlässt. «Unser Hydrogel-Implantat lässt sich mit UV-Licht oder einer speziellen Flüssigkeit leicht abbauen, sodass es nicht operativ entfernt werden muss, sollte eine Patientin den Eingriff rückgängig machen wollen», führt Inge Herrmann von der ETH Zürich aus.
Eine der grössten Herausforderungen sei es gewesen, die richtige Balance zwischen Stabilität und Abbaubarkeit zu finden, sagt Alexandre Anthis, Erstautor der Studie. «Wir wollten sicherstellen, dass das Implantat kompatibel, aber stabil ist.» Dazu führten die Forscher Ex-vivo-Experimente an menschlichen Eileitern durch, die beispielsweise wegen eines Eierstockkrebses entfernt worden waren. In einem zweiten Schritt wurde das Implantat einem Schwein eingesetzt. Nach drei Wochen war das Hydrogel-Implantat immer noch an Ort und Stelle, und es hatte keine Fremdkörperreaktion gegeben. Zusammen mit der ETH Zürich und der Empa haben die Forscher mittlerweile ein Patent angemeldet. Bis zur Marktreife müssen allerdings noch viele Abklärungen vorgenommen und Studien mit Frauen durchgeführt werden. ETH Zürich/PS s
Medienmitteilung der ETH Zürich vom 17.07.2024
Kardiologie
«Basel Wearable Clinic»: schweizweit erstes digitales Zentrum zur Diagnostik von Herzrhythmusstörungen
Das Potenzial von Smartwatches für die medizinische Vorsorge wird bis anhin noch nicht ausreichend genutzt. So können beispielsweise mit vielen dieser Geräte Herzrhythmusdaten und Elektrokardiogramme (EKG) erfasst werden. Bis vor Kurzem gab es allerdings keine Option für eine niederschwellige Prüfung dieser Informationen. Das Universitätsspital Basel bietet jetzt schweizweit als erstes Institut eine einfache Datenkontrolle im Zusammenhang mit Herzrhythmusstörungen an. In der «Basel Wearable Clinic» können EKGs von Smartwatches und anderen Wearables hochgeladen werden. Anhand dieser Daten können dann Extraherzschläge aus der oberen oder unte-
ren Herzkammer diagnostiziert werden, falls der Patient über «Aussetzer» klagt. Oft werden Smartwatches auch zur Diagnostik bei Vorhofflimmern eingesetzt. Dazu werden die hochgeladenen Daten am Universitätsspital Basel analysiert und fachärztlich interpretiert. Die Patienten erhalten innerhalb weniger Stunden einen schriftlichen Befund mit einer Empfehlung für das weitere Vorgehen. Die eingereichten Daten werden nach den höchsten Sicherheitsstandards bearbeitet. Auf diese Weise können tragbare Geräte regelmässige und verlässliche Daten zur fachärztlichen Diagnose liefern, ohne den üblichen Aufwand in der klinischen Praxis zu verursachen. Für Pa-
tienten bedeutet das, keine Arzttermine
vereinbaren, nicht vor Ort persönlich
erscheinen oder Wartezeiten in Kauf
nehmen zu müssen.
Insgesamt könnten solche digitalen Rou-
tinekontrollen auch Kosten im Gesund-
heitswesen reduzieren, während man
gleichzeitig kardiovaskulären Erkran-
kungen vorbeugen und die erforderli-
chen Massnahmen frühzeitig ergreifen
kann. Ausserdem können die gesammel-
ten Daten die Forschung im Bereich Kar-
diologie unterstützen, was langfristig
einer besseren Gesundheitsversorgung
dient.
Universitätsspital Basel/PS s
Medienmitteilung des Universitätsspitals Basel vom 08.07.2024
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Bild: Pixabay
Reiseimpfungen
Was bei Rheumapatienten beachtet werden sollte
Dank neuer Therapien können auch immer mehr Menschen mit entzündlich-rheumatischen Erkrankungen Fernreisen unternehmen. Worauf im Hinblick auf die erforderlichen Impfungen geachtet werden sollte, erläutern Experten der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie und Klinische Immunologie (DGRh).
Zunächst weisen sie darauf hin, dass manche Rheumamedikamente eine effektive und dauerhafte Reaktion des Immunsystems auf eine Impfung verhindern. «Diese begrenzte Wirksamkeit, auch bei Erstimpfungen, sollte mit den Patienten besprochen werden», sagt Dr. med. Ioana Andreica, Rheumatologin am Rheumazentrum Ruhrgebiet in Herne (D). Wann und mit welchem Erfolg geimpft werden kann, hängt von der Art und Dosierung der Medikation sowie von der Aktivität der Erkrankung ab. Generell sollte nicht in einen Krankheitsschub «hineingeimpft» werden, raten die Experten. Totimpfstoffe seien grundsätzlich sicher, allerdings kann der Impfschutz schwächer ausfallen. Bei Personen unter Immunsuppression sollten Lebendimpfstoffe möglichst vermieden werden. Als nicht immunsuppressive Medikamente gelten zum Beispiel Hydroxychloroquin, Sulfasalazin und Apremilast. Immunsuppressiv wirken hingegen bestimmte Biologika wie TNF-Blocker, Abatacept oder Rituximab. Auch hoch dosierte Glukokortikoide, Azathioprin oder hoch dosiertes Methotrexat dämpfen die Immunantwort. Impfungen sollten möglichst vor einem Therapiestart mit immunsuppressiven Medikamenten vorgenommen werden.
Reise- und Standardimpfungen
Für Personen mit eingeschränkter Immunfunktion gelten prinzipiell dieselben Impfempfehlungen wie für andere Reisende. Je nach Reiseziel sollte ein Impfschutz gegen Cholera, Dengue (in der Schweiz noch nicht zugelassen), Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), Gelbfieber, Japanische Enzephalitis, Meningokokkeninfektionen, Tollwut und Typhus angestrebt werden. Einige Impfungen, beispielsweise gegen Gelbfieber, Meningokokken, Poliomyelitis oder Masern, werden im internationalen Reiseverkehr vorgeschrieben. Des Weiteren empfehlen die Experten, im Rahmen einer reisemedizinischen Impfberatung auch die Überprüfung der Standard- und Indikationsimpfungen. Dazu gehören Tetanus, Diphtherie, HPV, Herpes zoster, Pertussis, Masern, Meningokokkeninfektionen (ACWY), Pneumokokken, Influenza, Hepatitis A und B, Poliomyelitis, COVID-19 und – seit Kurzem – Meningokokken-B. «Für die meisten dieser Impfungen gibt es Totimpfstoffe, die auch bei Immungeschwächten sicher sind. Die Impfungen sollten spätestens zwei Wochen vor Reisebeginn abgeschlossen sein, um eine ausreichend schützende Immunität und das Abklingen oder eine Behandlung etwaiger unerwünschter Arzneimittelwirkungen vor Reiseantritt zu gewährleisten», sagt Andreica. Unter Umständen werde aber nur ein eingeschränkter Impfschutz aufgebaut. Im Falle der Hepatitis-A-Impfung wird deshalb eine zusätzliche Impfdosis empfohlen.
Lebendimpfstoffe gegen Gelbfieber und Dengue
Der wichtigste Lebendimpfstoff unter den Reiseimpfungen ist die Gelbfieberimpfung, die etliche tropische Länder verpflichtend vorschreiben. «Bei Personen mit geschwächtem Immunsystem besteht die Gefahr, dass der Lebendimpfstoff die Gelbfiebererkrankung auslöst, gegen die er schützen soll. Denn das geschwächte Immunsystem kann die abgeschwächten Viren im Lebendimpfstoff nicht wirksam abwehren», sagt Andreica. Um solche Impfkompli-
kationen zu vermeiden, wäre theoretisch eine Immunsuppressionspause von etwa drei Monaten oder länger, je nach Immunsuppression, vor und vier Wochen nach der Lebendimpfung erforderlich. Dies ist wegen der Gefahr eines Schubes der rheumatischen Erkrankung meist nicht möglich. Neue Daten zeigen jedoch, dass unter Umständen die Gelbfieberimpfung unter einer leichten Immunsuppression möglich ist. Laut Fachinformation für Stamaril® kann eine Impfung unter niedrig dosierter Kortisoneinnahme vorgenommen werden. Auch bei der in Europa, jedoch nicht in der Schweiz zugelassenen Dengueimpfung handelt es sich um einen Lebendimpfstoff, der bei immunsupprimierten Personen nicht verabreicht werden darf. Weil hier noch Erfahrungswerte fehlen, ist dies auch unter geringer Immunsuppression kontraindiziert. «Neben den Impfungen sollten im Rahmen der Beratung aber auch weitere Themen zur Sprache kommen, die für Rheumapatienten wichtig sind, wie beispielsweise Wechselwirkungen zwischen Immunsuppressiva und einer notwendigen Malariaprophylaxe», sagt DGRh-Präsident Prof. Dr. med. Christof Specker.DGRh/PS s
Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie und Klinische Immunologie (DGRh) vom 12.07.2024
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
Nichts Neues gibt es nicht auf dieser Welt. Die Skeptiker, Angsthasen und Miesepeter, denen alles Neue ungeheuer ist, denen Technik, Tempo und Lärm ein Graus sind, bestimmen nicht erst seit heute über die etwas Mutigeren und Kreativeren. So geschehen im Kanton Graubünden nach der Jahrhundertwende (die Geschichte sei speziell grünen Verhinderern, Zauderern und Skeptikern empfohlen): Von 1900 bis 1925 waren im Bündnerland nämlich Autos verboten. Weil sie zu schnell fuhren, Lärm und Gestank verbreiteten und überhaupt gefährlich waren. Wer mit dem Auto den Kanton GR durchqueren wollte, zum Beispiel von Österreich kam und durchs Engadin nach Italien wollte, musste vor seinen Motorwagen echte PS (Pferdestärken) spannen und sich durch den verängstigten Kanton ziehen lassen. Das Umdenken der Bevölkerung kam spät in den engen Bündner Bergen und Tälern: nach dem Ersten Weltkrieg und mit dem Aufkommen des Postautos. Aber immerhin, es kam. Übrigens gehörte auch das Ehepaar Röntgen zu denjenigen, die befürchteten, die Pferde könnten vor den rauchenden motorisierten Ungetümen scheuen. Sie verbrachten ihre Ferien regelmässig in Pontresina und reisten meist mit der Kutsche an – weil sie sich’s leisten konnten.
sss
Sie erinnern sich natürlich nicht. Aber egal, das ist auch nicht wichtig, es bleibt auch so aufschlussreich. Das Jugendwort des Jahres 2020 war «fly sein». Das hatte eine 20-köpfige Jury entschieden. Kaum einer kannte oder kennt heute noch den Begriff oder benutzt ihn. Vermutlich wollte die Jury damit demonstrieren, wie nahe ihre Mitglieder ihre Ohren am Mund der Jugend haben und wie aktuell sie sind. So aktuell offenbar, dass noch nicht mal die vermuteten Nutzer des Wortes darüber informiert
waren, dass sie es demnächst nutzen würden.
sss
Aus Mohrenköpfen «Schaumküsse» zu machen ist der ebenso typische wie vergebliche Versuch, ein Problem zu lösen, das nie eines war, bis redlich bemühte Menschen endlich eine, wie sie meinten, geniale Lösung fanden, für die sie nur noch ein passendes Problem finden mussten. Und sie fanden eines. (Uns Medizinern ist das Phänomen – nicht nur als Witz – ja bestens bekannt: Die Therapie gibt es längst, allein, es fehlt die passende Krankheit.)
sss
Es scheint, als finden die jungen Männer der Generation Z, die Gleichstellung zwischen Mann und Frau sei heute fast vollständig erreicht, es gebe kaum mehr Unterschiede. Das ergab jedenfalls eine repräsentative Umfrage. Dass die Konferenz der zahlreichen Gleichstellungsbeauftragten der Schweiz zu einem anderen Schluss kommt, ist wenig verwunderlich. Wer trägt schon gern dazu bei, den eigenen Arbeitsplatz überflüssig zu machen? Mit andern Worten: Man könnte auf die Idee kommen, nicht weil es an Gleichstellung mangelt, gebe es Gleichstellungsbeauftragte, sondern weil es so viele Gleichstellungsbeauftragte gibt, bleibe Gleichstellung ein Problem.
sss
«Manchmal ist die Wahrheit so wertlos, dass eine kluge Lüge mehr wert ist.» (Lichtenberg)
sss
KI (Künstliche Intelligenz) ist «politisch korrekt». Glauben Sie nicht? Irgendjemand hat den Test gemacht (se
non è vero …). Für Europa und die USA stimmt’s jedenfalls. Wenn Sie die KI auffordern, eine Gruppe Nazi-Soldaten zu zeichnen, bietet sie Ihnen eine Gruppe weisser, schwarzer, arabischer und queerer Männer in Naziuniform an, weil … kulturelle Vielfalt muss sein – zwingend, jenseits aller Fakten! Übrigens: Ganz ähnlich wie in China, so ist anzunehmen, auch wenn niemand den Test gemacht hat: Wetten, die chinesische KI zeichnet nur glückliche Uiguren?
sss
Die Petflaschendeckeldiskussionen (Sie wissen schon: die Frage, ob das wirklich sein muss und ob es keine intelligentere Lösung gegeben hätte für das Problem der weltweit migrierenden Deckel) nehmen kein Ende. Umweltbewegte sind überzeugt, die angeschweissten Deckel leisteten ein Beitrag zur Rettung der Welt. Die gemeinen Petflaschen-User hingegen ärgern sich weiter über die nasestauchenden und lippenschürfenden Deckel oder das beim Versuch, den Deckel wegzureissen, verschüttete klebrige Citro im Laptop oder auf dem Teppich. Ihnen wird schnippisch geraten, es mit ohnehin gesünderem Hahnenwasser zu versuchen oder die Flasche einfach um 90 Grad zu drehen. Die EU-Kritischen schimpfen derweil über eine weitere von Brüsseler Bürokraten erfundene schikanöse, nutz- und wirkungslose Symbolverordnung. Nur unser AltPhilosophen-Onkel Hugo bleibt besonnen und mahnt (wenn auch mit rollenden Augen): «Greifst du zur Flasche, vergiss die Schere nicht!»
sss
Solche Sätze muss man einfach lieben: «Stets findet Überraschung statt, da wo man’s nicht erwartet hat.» (Busch)
Richard Altorfer
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ARS MEDICI 15+16 | 2024
POLITFORUM
Xundheit in Bärn
Die der Geschäftsdatenbank des Parlaments Curia Vista entnommenen Texte von Vorstössen und Antworten werden teilweise leicht gekürzt und grundsätzlich in unveränderter Schreibweise wiedergegeben. Unterschiede zur üblichen Schreibweise des Verlags können vorkommen.
Postulat vom 15.3.2024
Versorgungsengpässe bei Medikamenten: Es besteht dringender Handlungsbedarf
Philipp Matthias Bregy
Nationalrat, Die Mitte-Fraktion, Kanton Wallis
Der Bundesrat wird beauftragt, darzulegen, wie er zeitnah dem seit Jahren bestehenden und sich verschlechternden Versorgungsproblem bei den Medikamenten zu begegnen gedenkt; dies unter besonderer Berücksichtigung der Aspekte Kompetenzaufteilung Bund/Kantone, internationale Zusammenarbeit, Anreize für Erhalt und Förderung von Forschung, Entwicklung und Produktion in der Schweiz und Public Private Partnerships (PPP) mit Industrie, Vertrieb (Grossisten) und Abgabestellen (Apotheken, Arztpraxen, Tierarztpraxen und Drogerien), Überwachung und Management von Lagerbeständen sowie Reduktion administrativer Hürden.
BEGRÜNDUNG
Die Zahlen sind alarmierend und sprechen eine klare Sprache: Gemäss der glaubwürdigen Plattform www.drugshortage.ch fehlen in der Schweiz seit Jahren hunderte von Medikamenten, aktuell rund 950 Packungen mit über 700 Dosierungen; betroffen sind rund 350 Wirkstoffe. Diese Zahlen sind hoch. Auch die Dauer der Lieferengpässe ist gravierend: über 25 Prozent der Medikamente fehlen mehr als 6 Monate. Das Reporting von BWL und BAG zu Versorgungsstörungen zeigt seit 2021 sogar massive Zunahmen: Von 2021 bis 2022 betrug der Anstieg 47 Prozent (137 auf 201) und von 2022 auf 2023 40 Prozent (201 auf 280). Diese Zahlen sind alarmierend, zumal immer mehr lebensnotwendige Medikamente betroffen sind. Es besteht dringender Handlungsbedarf, die Versorgungssicherheit unserer Bevölkerung ist gefährdet. Dies auch angesichts der Tatsache, dass Nachbarländer bereits Massnahmen zur Verbesserung ihrer Versorgungssituation ergreifen.
Dennoch handelt der Bundesrat zögerlich bis gar nicht: Massnahmen wie die Einsetzung einer Task Force zeigen kaum Wirkung. Seit Einreichung der Motion «Erhöhung der Versorgungssicherheit bei Medikamenten und Impfstoffen» am 29.4.2020 sind 4 Jahre vergangen, seit Vorlegung des Berichtes «Versorgungsengpässe mit Humanarzneimitteln in der Schweiz: Situationsanalyse und zu prüfende Verbesserungsmassnahmen» des BAG vom 1.2.2022 über 2 Jahre. Ein seither unter Beizug einer interdisziplinären Arbeitsgruppe erarbeiteter Umsetzungsbericht wird im politischen Prozess Jahre benötigen. Und bereits jetzt ist klar abzusehen, dass damit die zwingend notwendigen Lösungen höchstens teilweise erreicht werden. Eine Analyse der Handlungsoptionen zeigt, dass einige Massnahmen bereits heute ohne grössere Revisionen gestützt auf die aktuelle Gesetzeslage umgesetzt werden könnten.
DIE ANTWORT DES BUNDESRATES VOM 8.5.2024
Die Ursachen der Versorgungsstörungen sind komplex und insbesondere globalen Ursprungs. Sie haben sich über Dekaden entwickelt und betreffen hauptsächlich patentabgelaufene Arzneimittel oder Generika. Den Versorgungsstörungen liegen meist Verwerfungen der globalen Lieferketten zu Grunde. Der Schweizer Markt ist klein, im internationalenVergleich und für global tätige Unternehmen daher oft wenig interessant. Dies akzentuiert die Folgen der globalen Ursachen. Gleichzeitig will die Schweiz das Niveau an Produkt- und Patientensicherheit gewährleisten und für ein bezahlbares Gesundheitssystem sorgen. Der Bundesrat handelt deshalb auf drei Ebenen: Erstens ist die Wirtschaft gemäss geltendem Landesversorgungsgesetz für dieVersorgung der Schweiz verantwortlich. Die Unternehmen kennen ihre Lieferketten und können die Abhängigkeiten beurteilen. Sie stehen in der Verantwortung, die Risiken zu identifizieren und zeitnah
darauf zu reagieren. Im Rahmen des subsidiären Auftrags unterstützt der Bund dieWirtschaft bei der Behebung der Versorgungsstörungen und steht mit ihr im Dialog. Es zeigt sich, dass sich die Unternehmen ihrer Rolle bewusst sind. Als Sofortreaktion wurden bereits Massnahmen zur Stärkung der Resilienz ihrer Lieferketten implementiert. Die Freigabe von Pflichtlagern unterstützt die Wirtschaft dabei, ihren Versorgungsauftrag wahrnehmen zu können. Zweitens wurden als Reaktion auf die vermehrten Versorgungsstörungen im Rahmen der Taskforce Medikamentenengpässe kurzfristige Massnahmen getroffen. Hierzu gehört die Empfehlung der Abgabe von Teilmengen aus Verpackungen von Arzneimittel, die von Versorgungsstörungen betroffen sind. Diese Massnahme wird weiterhin als wirksam eingestuft. Drittens kann die Schweiz durch mittel- und langfristige Massnahmen die Symptome der globalen Ursachen von Störungen punktuell lin-
dern. Eine wirksame und nachhaltige Ursachenbekämpfung der Versorgungsstörungen hat im internationalen Kontext zu erfolgen, weshalb sich die Schweiz weiterhin international auf institutioneller Ebene mit den relevanten Akteuren austauscht und zusammenarbeitet. Diese Massnahmen werden aktuell mit der Umsetzung des BAG-Berichts Arzneimittelengpässe 2022 untersucht. Im April 2023 hat der BR in diesem Zusammenhang erste Massnahmen zur Verbesserung des Monitorings und der Analyse wiederkehrender Versorgungsstörungen entschieden. Im Sommer 2024 wird dem Bundesrat im Rahmen einer Aussprache ein Schlussbericht vorgelegt, welcher die Ergebnisse der vertieften Prüfung der Massnahmen aus dem BAG-Bericht Arzneimittelengpässe 2022 zusammenfasst und weitereVerbesserungen vorschlägt. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass mit diesen verschiedenen Massnahmen die Anliegen des Postulats bereits aufgenommen sind.
Antrag: Ablehnung
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POLITFORUM
Xundheit in Bärn
Die der Geschäftsdatenbank des Parlaments Curia Vista entnommenen Texte von Vorstössen und Antworten werden teilweise leicht gekürzt und grundsätzlich in unveränderter Schreibweise wiedergegeben. Unterschiede zur üblichen Schreibweise des Verlags können vorkommen.
Motion vom 22.12.2023
Erleichterte Zulassung für patentabgelaufene Medikamente
Hannes Germann
Ständerat, SVP, Kanton Schaffhausen
Der Bundesrat wird beauftragt, die Gesetzgebung so anzupassen, dass patentabgelaufene Medikamente aus Ländern mit vergleichbar strengen Zulassungsbehörden und -verfahren (z.B. Australien, EU, Kanada, UK und USA) wie Swissmedic in die Schweiz mit einer einfachen Registrierung bei Swissmedic ohne Zulassungsprüfung importiert werden dürfen.
BEGRÜNDUNG (gekürzt)
In der Schweiz sind trotz einer starken und innovativen pharmazeutischen Industrie immer öfter und immer patentabgelaufene Medikamente nicht oder nicht mehr lieferbar. Ein Hauptgrund ist der global optimierte Markt mit wenigen Wirkstoffproduzenten in Indien und China. Da es nicht realistisch ist, diese Wirkstoffe in der Schweiz herzustellen, ist eine Zusammenarbeit mit anderen europäischen Ländern unumgänglich. Ein zweiter Lösungsansatz besteht in grösseren Pflichtlagern. Ein dritter Lösungsansatz ist der Abbau der Zulassungshürden bei Swissmedic.
Auf der einen Seite sind Importe an Swissmedic vorbei ein Sicherheitsrisiko. Auf der anderen Seite werden selbst erleichterte Zulassungsverfahren angesichts unnötiger bürokratischer Hürden sowohl die Preise ohne Mehrwert für Patientinnen und Patienten in die Höhe treiben als auch die Versorgungssicherheit gefährden. Importe aus Ländern mit vergleichbar strengen Zulassungsverfahren wie bei Swissmedic, mit einer Registrierung bei Swissmedic, aber ohne Zulassungsverfahren durch Swissmedic werden zu tieferen Preisen und zu einer höheren Versorgungssicherheit führen.
STELLUNGNAHME DES BUNDESRATES VOM 21.2.2024 (GEKÜRZT)
Der Bundesrat anerkennt, dass es in der Vergangenheit vermehrt zu Lieferengpässen bei Arzneimitteln gekommen ist. Wie die Erfahrung zeigt, sind von solchen Lieferengpässen typischerweise Länder mit vergleichbarer Arzneimittelkontrolle gleichermassen betroffen wie die Schweiz. Die fehlenden Arzneimittel liessen sich entsprechend nicht auf einfache Weise aus dem Ausland einführen. Der Motionär schlägt mit der «Registrierung» für patentabgelaufene Arzneimittel im Kern ein stark vereinfachtes Zulassungsverfahren ohne inhaltliche Prüfung der wissenschaftlichen Dokumentation vor. In der Schweiz gibt es für Arzneimittel, welche in Ländern mit vergleichbarer Arzneimittelkontrolle zugelassen sind, bereits stark vereinfachte Zulassungsverfahren. Dabei verzichtet Swissmedic unter bestimmten Vor-
aussetzungen komplett auf eine inhaltliche Prüfung der wissenschaftlichen Dokumentation. Zu diesen vereinfachtenVerfahren zählen beispielsweise eine Zulassung, bei welchem Swissmedic ihren Entscheid auf den Begutachtungsentscheid einer ausländischen Behörde abstützt, sowie das Parallelimport-Verfahren. Damit Swissmedic im Rahmen der Marktüberwachung die Sicherheit der Patientinnen und Patienten trotzdem gewährleisten kann, müssen im Ereignisfall rasch die richtigen Massnahmen eingeleitet werden können. Dafür ist es wertvoll, dass die Arzneimitteldokumentation vorliegt und Swissmedic die sicherheitsrelevanten Aspekte des Arzneimittels selbst überprüfen kann. Dies insbesondere, weil die Schweiz als Drittstaat kein Anrecht auf einen Zugriff auf die Sicherheits-Datenbank der EU (EudraVigilance) hat.
Ob auf einem Arzneimittel noch Patente aktiv sind oder nicht, ist nicht Gegenstand der Swissmedic Prüfverfahren und für eine allfällige vereinfachte Zulassung kein relevantes Kriterium. Mit der Annahme der Motion würden ordentlich zugelassene Generika, welche die Schweizer Anforderungen erfüllen, mit bei Swissmedic bloss registrierten Generika konkurrieren. Dies könnte beispielsweise die Voraussetzung der Mehrsprachigkeit der Packungsbeilage und Verpackung betreffen. Um sicherzustellen, dass die Arzneimittelinformationen für die Patientinnen und Patienten verständlich sind, sollten alle in der Schweiz vertriebenen Arzneimittel die gleichen Anforderungen bezüglich Kennzeichnung erfüllen.
Antrag: Ablehnung der Motion
Stand der Beratungen: Zugewiesen an die behandelnde Kommission
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Qualitätssicherung in der Praxisapotheke
Erkenntnisse und Best Practices
Selbstdispensierende Ärzte leisten einen massgeblichen Beitrag zur Schweizer Gesundheitsversorgung. Doch mit dem Privileg zur Arzneimittelabgabe gehen auch anspruchsvolle Pflichten einher, insbesondere im Bereich der Qualitätssicherung. Jüngste Erkenntnisse der Heilmittelkontrolle Zürich bieten wertvolle Einblicke, worauf beim Führen einer Praxisapotheke besonders zu achten ist. Der Verein «Ärzte mit Patientenapotheke» (APA), der seine Mitglieder in Fragen rund um die Arzneimittelabgabe und die Qualitätssicherung unterstützt, erläutert im Folgenden aktuelle Schwerpunkte.
Die ärztliche Arzneimittelabgabe, im Fachjargon auch «Selbstdispensation» (SD) genannt, hat sich in der Schweiz als bedeutender Abgabekanal etabliert. Langjähriges politisches Engagement seitens der Ärzteschaft hat dazu beigetragen, dass die SD mittlerweile auf Bundesebene gesetzlich fest verankert und in 17 von 19 Deutschschweizer Kantonen zugelassen ist. Heute macht die ärztliche Arzneimittelabgabe umsatzmässig etwa ein Viertel des Marktes aus, direkt hinter den Apotheken, die mit knapp 49 Prozent den grössten Abgabekanal für Arzneimittel darstellen. Damit leistet die SD einen massgeblichen Beitrag zur Sicherstellung der Grundversorgung im Schweizer Gesundheitswesen. Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete, wo Arztpraxen mit Patientenapotheke* eine rasche und flächendeckende Versorgung der Bevölkerung überhaupt erst möglich machen.
Rechte und Pflichten
Das Schweizer Heilmittelgesetz (HMG) definiert die ärztliche Arzneimittelabgabe als die «kantonal bewilligte Abgabe von Arzneimitteln innerhalb einer Arztpraxis beziehungsweise einer ambulanten Institution des Gesundheitswesens, deren Apotheke unter fachlicher Verantwortung einer Ärztin oder eines Arztes mit Berufsausübungsbewilligung steht» (Art. 4 Abs. 1k HMG). Mit dem Recht zur Abgabe sind Pflichten verbunden, insbesondere die Einhaltung von Richtlinien zur Qualitätssicherung.
Beim Führen einer Patientenapotheke gilt der Qualitäts sicherung besonderes Augenmerk.
Die Sorgfaltspflicht nach Artikel 3 HMG verlangt, dass Personen, die mit Heilmitteln umgehen, alle nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik notwendigen Massnahmen treffen, um die Gesundheit der Patientinnen und Patienten zu schützen.
Die kantonale Behörde erteilt eine Bewilligung zur Abgabe von Heilmitteln nur, wenn die Praxis über ein den betrieblichen Verhältnissen angepasstes Qualitätssicherungssystem verfügt (Art. 30 HMG). Entsprechend bringt das Führen einer
* Die Begriffe «Praxisapotheke» und «Patientenapotheke» werden als Synonyme verwendet.
Praxisapotheke einen organisatorischen und administrativen Mehraufwand für die Ärzte mit sich. Die direkte Abgabe von Arzneimitteln erfordert nicht nur einen zusätzlichen Arbeitsschritt nach der Anamnese und Diagnose, sondern umfasst auch die Bestellung, Eingangskontrolle, Beschriftung, Lagerung und Verrechnung der Arzneimittel.
Mängel bei der Arzneimittelabgabe
SD-Ärzte sehen sich im Praxisalltag mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert. Dr. sc. nat. Stefan Burkard, Leiter der kantonalen Heilmittelkontrolle in Zürich, kennt die praktischen Schwierigkeiten aus erster Hand. Bei Inspektionen
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von Qualitätssicherungssystemen in Arztpraxen stossen er und sein Team regelmässig auf ähnliche Mängel. Durch eine Auswertung solcher Kontrollen konnten aktuelle Brennpunkte in der Qualitätssicherung identifiziert werden. Entsprechend relevant sind die in den folgenden Abschnitten angeführten Aspekte für das Führen einer Patientenapotheke.
Regelmässige Selbstinspektionen
Ein wesentlicher Grundsatz ist, das Qualitätsmanagementsystem stets auf dem neuesten Stand zu halten. Nur so kann sichergestellt werden, dass es den aktuellen Anforderungen entspricht und nahtlos in die betrieblichen Abläufe integriert ist. Schulungen spielen hierbei eine entscheidende Rolle, um zu gewährleisten, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das QS-System nicht nur verstehen, sondern auch effektiv anwenden können. Dies allein reicht jedoch nicht aus. Regelmässige Selbstinspektionen sind empfehlenswert, um potenzielle Schwachstellen aufzudecken und proaktiv Korrekturmassnahmen einleiten zu können.
Notwendige Temperaturkontrollen
Auch die Gestaltung der Infrastruktur bietet oftmals Raum für Verbesserungen. So ist es beispielsweise wichtig, den Zugang zu Arzneimitteln auf befugte Personen zu beschränken und geeignete Kühlschränke zu verwenden, um die sichere und korrekte Lagerung der Medikamente zu gewährleisten. Dies insbesondere auch mit Blick auf den Umgang mit kon trollierten Substanzen. Eine effektive Temperaturkontrolle ist dabei unerlässlich, um die Qualität der Medikamente zu erhalten und rasch auf mögliche Alarmmeldungen reagieren zu können. Arzneimittel sollten stets getrennt von anderen Waren gelagert werden, damit Kontaminationen vermieden werden. Ebenso wichtig ist es, Heilmittel bei Anbruch oder Zu-
APA – Wer sind wir?
▲ Als Verein der Ärztinnen und Ärzte mit Patientenapotheke (APA) mit über 1000 Mitgliedern setzen wir uns seit Jahren für die Erhaltung der ärztlichen Arzneimittelabgabe ein und beraten selbstdispensierende Ärztinnen und Ärzte in Fragen rund ums Thema Qualitätssicherung.
▲ Als Mitglied profitieren Sie von aktuellen, fachspezifischen Unterlagen zur Führung einer Praxisapotheke. Ihnen wird ein digitales Handbuch mit konkreten Vorlagen zur Umsetzung eines wirksamen Qualitätssicherungssystems zur Verfügung gestellt.
▲ Sie werden regelmässig über praxisrelevante rechtliche und politische Änderungen im Bereich der Arzneimittelabgabe informiert.
Für weitere Informationen und bei Fragen kontaktieren Sie uns gerne unter: Ärzte mit Patientenapotheke (APA) Kolumbanstrasse 2, 9008 St. Gallen Telefon: 071 246 51 40 E-Mail: info@patientenapotheke.ch www.patientenapotheke.ch
bereitung mit einem Datum zu kennzeichnen, um ihre Wirksamkeit garantieren zu können. Eine regelmässige Überprüfung der Verfalldaten sowie sorgfältiges Aktualisieren der Bestandsliste schafft Transparenz und rundet die Qualitätssicherung in diesem Bereich ab.
Das Wichtigste zur Abgabe auf einen Blick
Beim Abgabeprozess selbst ist ein besonderes Augenmerk darauf zu legen, dass die Abgabe von Heilmitteln stets unter ärztlicher Aufsicht erfolgt und vollständige Dosierungsetiketten zur Verfügung stehen, um über die Anwendung zu informieren. Die abzugebenden Arzneimittel müssen stets im Besitz des entsprechenden Bewilligungsinhabers sein. Im Allgemeinen empfiehlt sich die Orientierung an den Qualitätsguidelines für die ärztliche Arzneimittelabgabe, welche die APA in Zusammenarbeit mit dem Berufsverband der Hausund Kinderärzte Schweiz (mfe) entwickelt hat.
Abgabe-Check nach der Differenzialdiagnose: RAKI
s Risikofaktoren?
s Arzneimittelanamnese?
s Kontraindikationen?
s Interaktionskontrolle?
5er-Regel für die richtige Arzneimittelabgabe: PADAZ
s richtige/r Patientin/Patient?
s richtiges Arzneimittel?
s richtige Dosierung?
s richtige Applikationsart?
s richtiger Zeitpunkt?
Persönliche Abgabeinformationen an die Patienten: TAMA
s Therapiedauer
s Abbruch der Therapie
s Mögliche Nebenwirkungen und/oder Interaktionen
s Aufbewahrungsvorschriften.
APA – Experten der Qualitätssicherung
Ein effektives Qualitätssicherungssystem in der Praxisapo-
theke ist gesetzlich vorgeschrieben und bildet das Rückgrat
für die sichere Abgabe von Arzneimitteln an Patienten. In
diesem Artikel wurden einige zentrale Aspekte der Qualitäts-
sicherung angesprochen. Eine vertiefte Auseinandersetzung
mit der Thematik ist für SD-Ärzte jedoch unerlässlich. Der
Verein «Ärzte mit Patientenapotheke» (APA) unterstützt
seine Mitglieder dabei, ein wirksames Qualitätssystem in die
Praxis zu implementieren, damit bei der Abgabe von Arznei-
mitteln höchste Qualitätsstandards eingehalten werden kön-
nen.
s
Carla George, APA-Projektleiterin, M.A. Alina Güttinger, APA-Projektleiterin, B.A. HSG
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FORTBILDUNG
Aktualisiert: Schweizer Therapieempfehlungen für primäre Kopfschmerzen
Die Schweizerische Kopfwehgesellschaft (SKG) hat ihre Therapieempfehlungen für primäre Kopfschmerzen in einer vollständig überarbeiteten Version neu herausgegeben. Der folgende Beitrag beinhaltet die allgemeinen Empfehlungen zur Behandlung der wichtigsten Kopfschmerzarten bei Erwachsenen.
SKG
Die Therapieempfehlungen der SKG richten sich vor allem an Hausärzte und fassen den aktuellen Stand der evidenzbasierten Kopfschmerztherapie zusammen. Um die Anwendbarkeit in der klinischen Praxis zu gewährleisten, konzentriert sich die Guideline auf die zentralen Aspekte der Therapie bei Kopfschmerzen. Als Ergänzung zur vertieften Information empfehlen die SKG-Experten die deutschsprachigen Leitlinien zur Behandlung von Kopfschmerzen, die gemeinsam von den deutschen, österreichischen und schweizerischen Fachgesellschaften erarbeitet wurden (siehe Linktipps). Bei primären Kopfschmerzen sind definitionsgemäss keine anderen zugrunde liegenden Leiden bekannt und keine organischen Läsionen nachweisbar. Als wichtigste primäre Kopfschmerzformen gelten Migräne, Cluster- und Spannungskopfschmerzen, die jeweils episodisch oder chronisch auftreten können. Die Diagnose erfolgt nach den aktuellen Kriterien der International Headache Society (International Classification of Headache Disorders, 3rd edition; ICHD-3) sowie der International Classification of Orofacial Pain, 1st edition (ICOP; siehe Linktipps). In einem Algorithmus haben die Experten die Vorgehensweise zur Diagnose der verschiedenen Erscheinungsformen im Überblick dargestellt (Abbildung).
Management
Das oberste Ziel der Behandlung von Patienten mit primären Kopfschmerzen besteht in einer Verbesserung der Lebensqualität. Dazu wird ein personalisierter und den Symptomen angepasster Therapieplan erstellt. Im Rahmen des Managements soll die Eigenverantwortung des Patienten gestützt und
MERKSÄTZE
� Bei primären Kopfschmerzen sind keine anderen zugrunde liegenden Ursachen nachweisbar.
� Als wichtigste primäre Kopfschmerzarten gelten Migräne, Cluster- und Spannungskopfschmerzen.
� Bei einer Daueranwendung von Akutmedikamenten kann es zu Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (MÜKS) kommen.
Steckbrief
Wer hat die Guideline erstellt? Schweizerische Kopfwehgesellschaft (SKG)
Wann wurde sie erstellt? 2023
Für welche Patienten? Erwachsene, Jugendliche und Kinder mit primären Kopfschmerzen.
Was ist neu? ▲ Alle Empfehlungen wurden umfassend überarbeitet.
von einer unkontrollierten Selbstmedikation − insbesondere mit Analgetika − abgeraten werden. Die Behandlung erfolgt in erster Linie durch den Hausarzt. Eine Überweisung zum Spezialisten ist nur bei diagnostischer Unsicherheit oder Therapieresistenz erforderlich.
Migräne
Akute Migräneattacken: Das Ziel der Attackentherapie besteht in einer möglichst schnellen und deutlichen Linderung der Kopfschmerzen und der damit verbundenen Symptome. Bei leichten Kopfschmerzen reichen oft nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) wie Acetylsalicylsäure (ASS; Aspirin® und Generika), Diclofenac (Voltaren® und Generika), Ibuprofen (Brufen® und Generika), Mefenaminsäure (Ponstan® und Generika), Naproxen (Apranax® und Generika) oder andere Analgetika wie Metamizol (Novalgin® und Generika) oder Paracetamol (Panadol® und Generika) aus. Letzteres gilt als Medikament der zweiten Wahl, wenn eine Kontraindikation gegen NSAR vorliegt. Bei mittelgradigen und starken Kopfschmerzen sind die migränespezifischen Triptane Almotriptan (Almogran® ), Eletriptan (Relpax® und Generika), Frovatriptan (Menamig® ), Naratriptan (Naramig® ), Rizatriptan (Maltax® und Generika), Sumatriptan (Imigran® und Generika) oder Zolmitriptan (Zomig® und Generika) eine geeignete Option. Zur Sicherstellung der Resorption der Akutmedikamente kann bei einer relevanten Einschränkung der Gastrokinetik die Applikation der Antiemetika Domperidon (Motilium®
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FORTBILDUNG
Kopfschmerzen ohne akute oder chronische Warnsignale für Läsionen
Kopfschmerzcharakter
andauernd, wellenförmig, dumpf, meist bilateral
anfallsartig, heftig, meist einseitig
Kopfschmerzdauer
ab 15 Tage pro Monat
30 Minuten bis 7 Tage bis 15 Tage pro Monat
pro Attacke < 3 Minuten; wdh. Attacken, elektrisierender Schmerz 15 Minuten bis 3 Stunden 4 Stunden bis 3 Tage (auch bilateral) Kopfschmerztyp chronische Spannungskopfschmerzen episodische Spannungskopfschmerzen Neuralgie Clusterkopf- schmerzen Migräne Warnsignale: 1. neurologische Ausfälle 2. systemische Zeichen (Fieber, Meningismus) 3. allgemeine internistische Zeichen 4. Bewusstseinsstörungen 5. Alter > 50 Jahre 6. ungewohnte Intensität und Dauer der Schmerzen 7. progrediente Schmerzen 8. Therapieresistenz
Im Nottfall oder bei Warnsignalen: Überweisung an Spital oder Spezialisten.
Abbildung: Algorithmus zur Diagnose primärer Kopfschmerzen (adaptiert nach SGK).
und Generika) oder Metoclopramid (Primpéran® , Paspertin®) erwogen werden. Bei Kontraindikationen oder Wirkungslosigkeit oraler Analgetika können ASS, Diclofenac oder Metamizol intravenös appliziert werden. Zur nasalen Anwendung stehen Sumatriptan (auch subkutan) oder Zolmitriptan zur Verfügung.
Langzeitprophylaxe Eine Langzeitprophylaxe ist bei mehr als 3 Attacken im Monat oder einer Dauer von mehr als 5 Tagen sowie bei sehr schweren oder lang andauernden Attacken, ungenügender Wirksamkeit von Akutmedikamenten und Medikamentenübergebrauch sinnvoll. Zur Langzeitprophylaxe können nicht medikamentöse Massnahmen wie aerobes Ausdauertraining, eine psychotherapeutische Begleitung (z. B. Verhaltenstherapie), Entspannungstechniken (z. B. progressive Muskelrelaxation, autogenes Training, Biofeedback) oder Akupunktur von Nutzen sein. Als evidenzbasierte nicht invasive neuromodulative Verfahren stehen die transdermale Elektrostimulation des Trigeminus- beziehungsweise des Vagusnervs (TNS/VNS), zum Beispiel mit Cefaly® (TNS) oder gammaCore® (VNS), die REN (remote electrical neuromodulation), die transkranielle Gleichstromstimulation (transcranial direct current stimulation, tDCS) und die transkranielle Magnetstimulation (TMS) zur Verfügung. Zur medikamentösen Langzeitprophylaxe eignen sich die Antidepressiva Amitryptilin (Saroten® ), Duloxetin (Cymbalta® und Generika), Trimipramin (Surmontil® und Generika) und Venlafaxin (Efexor® und Generika), die Antikonvulsiva Lamotrigin (Lamictal® und Generika), Topiramat (Topamax® und Generika) und Valproat (Depakine® und Generika). Da sich Topriamat und Valproat in Studien als teratogen erwiesen haben, ist vor und während der Behandlung eine sichere Antikonzeption erforderlich. Zur Blutdruck-
senkung empfehlen die Experten Bisoprolol (Concor® und Generika), Metoprolol (Beloc ZOK® und Generika), Propranolol (Inderal® und Generika), Candesartan (Atacand® und Genrika) oder Lisinopril. Als natürliche Substanzen sind Coenzym Q10, Magnesium, Melatonin, Pestwurz oder Riboflavin (Vitamin B2) bei manchen Patienten zur Prophylaxe von Nutzen. Die CGRP(calcitonin gene-related peptide)-Antikörper Eptinezumab (Vyepti® ), Erenumab (Aimovig® ), Fremanezumab (Ajovy® ) oder Galcazenumab (Emgality® ) sind nur vom Neurologen verschreibbar. Medikamente zur Behandlung akuter Migräneattacken sollen aufgrund des Risikos für die Entwicklung von Medikamentenübergebrauchskopfschmerzen (MÜKS) nicht über einen längeren Zeitraum angewendet werden.
Chronische Migräne Zur Therapie der chronischen Migräne empfehlen die SKG-Experten Botulinumtoxin Typ A, die oben genannten CGRP-Rezeptor-Antikörper oder Topiramat sowie die CGRP-Antagonisten Rimegepant (Vydura® ) oder Atogepant (Aquipta® ).
Clusterkopfschmerzen
Patienten mit Clusterkopfschmerzen sollen vom Hausarzt und einem Neurologen gemeinsam betreut werden. Zur Akutbehandlung eignen sich eine Inhalation von 100-prozentigem Sauerstoff (O2) über eine Maske sowie Sumatriptan (s.c. oder Nasenspray) oder ein Zolmitriptannasenspray. Zur kurzfristigen Linderung kann auch ein wiederholter Prednisonstoss (p.o.) oder eine Infiltration des Nervus occipitalis major (beim Spezialisten) vorgenommen werden. Für die Langzeitprophylaxe von Clusterkopfschmerzen empfehlen die Experten Verapamil (Isoptin® und Genrika), Lithium (z. B. Quilonorm® ), Melatonin (Circadin® und Generika), Topiramat oder Valproat. In therapierefraktären Fällen
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LINKTIPPS
FORTBILDUNG
Leitlinien zur Behandlung von Kopfschmerzen
Verfügung. Multidisziplinäre Behandlungsprogramme sind bei Patienten mit Spannungskopfschmerzen erfolgreicher als medikamentöse oder nicht medikamentöse Verfahren allein.
https://www.rosenfluh.ch/qr/dgn-leitlinien-zur-behandlung-von-kopfschmerzen
International Classification of Headache Disorders, 3rd edition (ICHD-3)
https://www.rosenfluh.ch/qr/ichd-3-am
International Classification of Orofacial Pain, 1st edition (ICOP)
Medikamentenübergebrauchskopfschmerzen
Bei häufiger Einnahme von Akutmedikamenten (Analgetika und Triptane) besteht die Gefahr einer Chronifizierung zu MÜKS. Alle Patienten − und vor allem diejenigen mit chronischer Migräne oder chronischem Spannungskopfschmerz − und/oder Personen, die Akutmedikamente an mehr als 10 Tagen/Monat einnehmen, sollten über dieses Risiko aufgeklärt werden. Bei MÜKS ist eine Medikamentenpause (Entzug) über 2 bis 4 Wochen eine wirksame Behandlungsoption. In leichteren Fällen kann der Entzug ambulant erfolgen. Währenddessen sind eine engmaschige ärztliche Betreuung und die Einleitung einer medikamentösen Prophylaxe erforderlich. Falls der Entzug misslingt oder ein Scheitern voraussehbar ist, erfolgt das Absetzen der Medikamente in einer spezialisierten Klinik. Hier beträgt die Aufenthaltsdauer für den alleinigen Entzug 7 bis 14 Tage. In schwierigen Fällen kann eine spezifische rehabilitative Weiterbehandlung über 2 bis 4 Wochen erforderlich sein.
https://www.rosenfluh.ch/qr/icop-1
kann eine bilaterale Stimulation des N. occipitalis erwogen werden.
Spannungskopfschmerzen
Zur Akutbehandlung von Kopfschmerzen vom Spannungstyp sind Analgetika/NSAR an maximal 10 Tagen pro Monat in adäquater Dosierung eine geeignete Option. In manchen Fällen sind auch nicht medikamentöse Optionen wie das lokale Einmassieren von Pfefferminzöl, Entspannungsübungen oder körperliche Aktivität von Nutzen. Zur Langzeitprophylaxe chronischer Spannungskopf schmerzen eignen sich tägliche Entspannungsübungen, Ausdauertraining (3-mal wöchentlich 30–45 min), Biofeedback, manuelle Therapien in Kombination mit Sport und/oder Elektrostimulation. Für eine medikamentöse Behandlung stehen die Antidepressiva Amitriptylin, Duloxetin, Mirtazapin oder Venlafaxin zur
Trigeminusneuralgie und andere kraniale Neuralgien
Bei Neuralgien empfehlen die Experten Carbamazepin (Tegretol® und Generika) als Medikament der 1. Wahl. Während der Behandlung ist eine Kontrolle der Leberparameter und Elektrolytwerte (Hyponatriämie) erforderlich. Auch ist zu beachten, dass es zu allergischen Reaktionen oder kognitiven Nebenwirkungen kommen kann. Medikamente der 2. Wahl sind Oxcarbazepin (Trileptal®; cave: Hyponatriämie, allergische Hautreaktionen), Gabapentin (Neurontin® und Generika), Pregabalin (Lyrica® und Generika), Lamotrigin und Valproat. Als Medikamente der 3. Wahl können Clonazepam (Rivotril®) und trizyklische Antidepressiva wie Clomipramin (Anafranil®) und Amitryptilin erwogen werden.
Weitere Empfehlungen
Ergänzend zu diesen allgemeinen Empfehlungen beinhaltet
die überarbeitete Leitlinienfassung spezielle Empfehlungen
zur Behandlung von Kopfschmerzen bei Frauen, Kindern und
Jugendlichen sowie zu chirurgischen Eingriffen und interven-
tionellen Therapien.
s
Petra Stölting
Therapieempfehlungen für primären Kopfschmerz der Kopfwehgesellschaft
https://www.rosenfluh.ch/qr/therapie_prim_kopfschmerz
Quelle: Schweizerische Kopfwehgesellschaft (SKG): Therapieempfehlungen für primäre Kopfschmerzen – inklusive Kopfschmerzalgorithmus für die Hausärztin und den Hausarzt. Stand: 2023.
In den Empfehlungen werden lediglich generische Namen genannt, die Beispielangaben in Klammern wurden zur leichteren Orientierung durch die Redaktion ergänzt.
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MedEd
SYMPOSIUM
SIWF/ ISFM
Schweizerisches Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung Institut suisse pour la formation médicale postgraduée et continue
11. MedEd SYMPOSIUM
2024
Mit Simultanübersetzung Avec traduction
simultanée
Perspektiven der ärztlichen Bildung Perspectives de la formation médicale
18. September 2024 – Paul Klee Zentrum, Bern
KEYNOTES
Interprofessional collaboration Changes in healthcare and beyond Outpatient – postgraduate education
VERTIEFUNGSSEMINARE
Zwei Seminarreihen mit je vier Seminaren
MEET THE EXPERTS
JUBILÄUMSSESSION WHM
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www.congress-info.ch/meded2024
Nominieren Sie engagierte Weiterbildende für den SIWF-Award
Entsprechende Informationen finden Sie unter
https://www.siwf.ch/siwf-projekte/siwf-award.cfm
Veranstalter:
Organisation:
Neuerungen bei Antidiabetika- und Insulintherapie
mediX-Leitlinie Diabetes überarbeitet
FORTBILDUNG
Die mediX-Leitlinie zu Diabetes wurde im März 2024 bezüglich der Therapie mit Antidiabetikakombinationen, oralen Antidiabetika und Insulin überarbeitet. In diesem Beitrag werden die Neuerungen vorgestellt und die wesentlichen Punkte der Guideline zusammengefasst.
mediX Schweiz
Beim Diabetes mellitus werden die folgenden Formen unterschieden: s Dem Typ-1-Diabetes liegt eine immunologisch vermittelte
Zerstörung der Betazellen zugrunde, die zu einem absoluten Insulinmangel führt; der sog. LADA (latent autoimmune diabetes of the adults) entspricht dem Late-Onset-Typ-1-Diabetes. s Der Typ-2-Diabetes betrifft etwa 90 Prozent aller erwachsenen Diabetespatienten. Hier besteht eine Insulinresistenz mit relativem Insulinmangel; im Verlauf kommt es aufgrund Basalzellerschöpfung zu Insulinbedürftigkeit (5%/ Jahr der Typ-2-Diabetiker benötigen Insulintherapie). s Beim MODY (maturity onset diabetes of the young) liegen genetisch bedingte Störungen der Insulinsekretion vor. In Betracht zu ziehen ist diese Form jungen Patienten (< 30 J.), positiver Familienanamnese für Diabetes und fehlendem Übergewicht. s Ein Gestationsdiabetes tritt erstmals während einer Schwangerschaft auf; etwa 30 bis 60 Prozent der betroffnenen Frauen entwickeln im weiteren Verlauf des Lebens einen Typ-2-Diabetes. Auf diese spezielle Diabetesform
Steckbrief
Wer hat die Guideline erstellt? Verein mediX Schweiz, Autoren: Sibylle Kohler, Uwe Beise, Felix Huber
Wann wurde sie erstellt? Zuletzt revidiert: 02/2021, letzte Änderung: 03/2024
Für welche Patienten? Patienten mit Diabetes mellitus (Typ 1, Typ 2, MODY, Gestationsdiabetes)
Was ist neu? ▲ Aktualisierung 09/2023: Vorgehen bei Lieferengpässen von Ozempic®
oder Trulicity® auf Rybelsus® oral ▲ Aktualisierung 03/2024: neue Empfehlungen zur Antidiabetika-
kombinationstherapie (Therapieeskalation), Abschnitte «Orale Antidiabetika» und «Insulintherapie» komplett überarbeitet
wird in diesem Beitrag nicht näher eingegangen; für nähere Informationen sei auf die Langfassung der mediX-Leitlinie verwiesen (1).
Diagnostik
Neben der (Familien-)Anamnese und der körperlichen Untersuchung stützt sich die Diagnostik insbesondere auch auf die Ermittlung von Laborwerten, allen voran von (Nüchtern-) Plasmaglukose und Hämoglobin A1c (HbA1c). Bei Gelegenheitsplasmaglukosewerten ≥ 11,1 mmol/l und klassischen Symptomen (Polyurie, Polydipsie, Gewichtsverlust) sowie Nüchternplasmaglukosewerten ≥ 7,0 mmol/l sollen das HbA1c gemessen beziehungsweise die Messungen alle 3 Monate wiederholt werden; beträgt der HbA1c-Wert ≥ 6,5 Prozent, gilt die Diabetesdiagnose als bestätigt. Ein Screening auf Diabetes wird für asymptomatische Personen routinemässig ab dem 40. Lebensjahr (bei Übergewicht und Adipositas gemäss US Preventive Services Task Force [USPSTF] bereits ab dem 35. bis zum 70. Lebensjahr) alle 3 Jahre, bei erhöhtem Risiko (positive Familienanamnese, Status nach Gestationsdiabetes oder Geburtsgewicht eines Kindes > 4100 g, IFG [impaired fasting glucose] oder HbA1c 6,0–6,4% in der Anamnese, arterielle Hypertonie, Dyslipid ämie, bekanntes polyzystisches Ovarsyndrom [PCOS]) auch früher und in kürzeren Intervallen (alle 1 bis 3 Jahre) mittels Bestimmung von Nüchternplasmaglukose oder HbA1c empfohlen. Ein oraler Glukosetoleranztest (OGTT) wird nur in der Schwangerschaft durchgeführt. Die Diagnose soll durch eine zweite Messung an einem anderen Tag bestätigt werden.
Therapie
Gemeinsam mit dem Patienten sollten individualisierte Therapieziele hinsichtlich Lebensstil, Glukosestoffwechsel, Lipidstatus (Primärprävention: < 1,8 mmol/l, Hochrisikopatienten [Typ-2-Diabetes mit Endorganschäden oder ≥ 3 weiteren kardiovaskulären Risikofaktoren; Typ-1-Diabetes mit Endorganschäden]: < 1,4 mmol/l), Körpergewicht (Gewichtsabnahme bei Body-Mass-Index [BMI] 27–35 kg/m2 5 kg, bei BMI > 35 kg/m2 ca. 10 kg) und Blutdruck (< 140/90 mmHg, bei < 65-Jährigen < 130/80 mmHg) unter Berücksichtigung von
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FORTBILDUNG
Lebensalter, Begleiterkrankungen, sozialer Situation, Lebensqualität und anderem erarbeitet werden. Für die medikamentöse Blutdrucksenkung gelten ACE(angiotensin-converting enzyme)-Hemmer oder Angiotensinrezeptorblocker als Antihypertensiva der 1. Wahl. Hinzugegeben werden können niedrig dosierte Diuretika (Thiazide, Chlor thalidon), danach Kalziumantagonisten, Schleifendiuretika und Alphablocker; Betablocker sollen nur bei kardialer Indikation eingesetzt werden. Die lipidsenkende Therapie erfolgt mit Statinen, entweder in fixer Dosierung (Fit-and-forget-Strategie) oder mit Treat-to-target-Strategie bis zum Erreichen der oben genannten Zielwerte. Die Gabe von Acetylsalicylsäure (ASS) zur kardiovaskulären Primärprävention wird nicht mehr empfohlen; lediglich zur Sekundär prävention bei etablierter kardiovaskulärer Erkrankung kann ASS erwogen werden. Die anzustrebenden HbA1c-Zielwerte liegen bei jungen Patienten (bis 60 J.) bei 6,5–7,0 Prozent, bei älteren (> 80 J.), multimorbiden Patienten oder bei solchen mit geringer Lebenserwartung kann ein HbA1c von 8,0–9% angemessen sein. Dabei ist allerdings insbesondere bei Patienten mit Atherosklerose und bei älteren Patienten darauf zu achten, dass es weder zu Hypo- noch zu Hyperglykämien (> 10 mmol/l) kommt. Eine regelmässige tägliche Blutzuckerselbstmessung ist bei Typ-2-Diabetes-Patienten ohne Insulintherapie nicht empfohlen, stattdessen sollte sich am HbA1c orientiert werden. Unter bestimmten Bedingungen, etwa bei labiler Stoffwechsellage mit häufigen Hypoglykämien, stark veränderter Ernährung oder vor dem Autofahren beziehungsweise vor anderen risikoreichen Tätigkeiten, ist es allerdings auch bei Typ-2-Diabetes notwendig, dass die Patienten ihren Blutzucker selbst messen. Patienten mit Typ-1-Diabetes sollten regelmässig vor dem Essen, vor sportlicher Betätigung, vor Autofahrten oder anderen gefährlichen Tätigkeiten, nach Behandlung einer Hypoglykämie und vor dem Schlafengehen eine Blutzuckerselbstmessung durchführen; bei ihnen, aber auch bei Typ-1Diabetikern kann ein Continuous Glucose Monitoring System (CGMS, z. B. Freestyle libre oder Dexcom), welches nur vom Diabetologen verschrieben wird, eine Erleichterung darstellen. Nicht pharmakologische Therapiemassnahmen umfassen Diabetes- und Ernährungsberatung sowie Lebensstilinterventionen (Ernährung, körperliche Aktivität, Gewichtsabnahme). Sie sollten bei HbA1c-Werten nahe dem Zielbereich stets zunächst einer Pharmakotherapie vorgezogen werden. Ansonsten können zur Unterstützung von Lebensstilveränd erungen auch zu Beginn gleich Medikamente eingesetzt werden. Zu den empfohlenen Wirkstoffen zählen dabei vornehmlich die oralen Antidiabetika (OAD) Metformin, SGLT2(sodium-glucose linked transporter 2)-Inhibitoren (SGLT2i) und GLP(glucagon-like peptide)-1-Rezeptor-Agonisten (GLP1RA), allein oder in verschiedenen Kombinationen.
Medikamentöse antidiabetische Initialtherapie Die Initialtherapie des Diabetes erfolgt dabei in mehreren Stufen: s Bei Patienten mit HbA1c-Werten unterhalb von 8,5 Prozent
wird mit einer Monotherapie (1. Wahl: Metformin, bei Unverträglichkeit oder Kontraindikation [KI]: SGLT2i
oder GLP1RA; bei BMI < 28 kg/m2 und KI/Unverträglichkeit von SGLT2i: DPP[Dipeptidylpeptidase]-4-Hemmer [DPP4i]) begonnen. s Werden die Blutzuckerziele mit Stufe 1 nach 3 bis 6 Monaten nicht erreicht (bei anfänglichem HbA1c ab 8,5 bis 9,0% auch sofort), wird eine Zweierkombination (Metformin plus entweder [sofern BMI > 28 kg/m2] GLP1RA oder SGLT2i oder DPP4i [wenn BMI < 28 kg/m2 oder Nebenwirkungen von SGLT2i]) gegeben. s Lassen sich die Blutzuckerziele auch mit Stufe 2 nach wiederum 3 bis 6 Monaten nicht erreichen, soll eine Dreierkombination (bevorzugt Metformin plus SGLT2i plus GLP1RA) zum Einsatz kommen. Für die Kombination von SGLT2i und GLP1RA wird von den Krankenkassen noch eine Kostengutsprache (Bedingung für Zugabe SGLT2i: chronische Nieren- oder Herzinsuffizienz; für Zugabe GLP1RA: BMI > 28 kg/m2) verlangt. Bei Nichtvorliegen dieser Bedingungen kann alternativ zu Metformin und SGLT2i ein DPP4i sowie zu Metformin und GLP1RA ein Basisinsulin gegeben werden. Grundsätzlich lassen sich sämtliche OAD (allerdings nie > 3) und Insuline miteinander kombinieren. s Die Hinzunahme oder Intensivierung von Insulin soll erfolgen, wenn die Blutzuckerziele auch mit einer Dreifachkombination nach 3 bis 6 Monaten verfehlt werden, und zwar wiederum stufenweise in Form von Basisinsulin (1 Injektion täglich; zunächst meist mit den für 24 h wirksamen Zweitgenerationsbasisinsulinen Detemir [Levemir®] und Glargin [Lantus®, Abasaglar®], alternativ auch die ultralang wirksamen Drittgenerationsbasisinsuline Degludec [Tresiba®] oder Glargin [Toujeo®), koformuliertem Insulin (Ryzodeg® [Mischinsulin aus 30% Insulin aspartat und 70% Insulin degludec], 2 Injektionen täglich) oder als Basis-Bolus-Therapie, bestehend aus einem Basisinsulin plus einem schnell beziehungsweise ultraschnell wirksamen Bolusinsulin (Insulin aspartat [Novorapid®, Fiasp®], Insulin lispro [Humalog®, Lyumjev®], Insulin glulisin [Apidra®]) zu den Hauptmahlzeiten (4 Injektionen täglich).
Orale Antidiabetika s Metformin: OAD mit der besten Evidenzlage, gewichts-
neutral, keine Hypoglykämien; verbessert die Insulinresistenz und hemmt die hepatische Glukoneogenese (Dosierung: einschleichend 500 mg vor dem Abendessen [gastrointestinale Nebenwirkungen], alle 4 bis 5 Tage um 500 mg erhöhen; übliche Erhaltungs- und Zieldosis: 2-mal 1 g). s SGLT2i: Dapagliflozin (Forxiga®), Canagliflozin (Invokana®, Vokanamet®), Empagliflozin (Jardiance®, Jardiance Met®) und Ertugliflozin (Steglatro®) hemmen die Rückresorption und erhöhen die Ausscheidung von Glukose mit dem Harn. Bei Diabetikern mit atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung reduzieren SGLT2i Herzinsuffizienz, kardiale und Gesamtsterblichkeit; bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz (auch ohne Diabetes) nephroprotektive Effekte mit höherer Lebenserwartung. Diabetespatienten ohne kardiovaskuläre oder Nierenerkrankung profitieren von Gewichtsverlust (ca. 5 kg) und geringer Blutdrucksenkung (ca. 4/2 mmHg).
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FORTBILDUNG
SGLT2i sind insbesondere bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit (KHK) und bei Herzinsuffizienz beziehungsweise Niereninsuffizienz (bei glomerulärer Filtrationsrate [GFR] < 15 ml/min nur Canagliflozin mit Indikation) geeignet (Dosierungen: Dapagliflozin 5–10 mg, Empagliflazon 10 mg). s GLP1RA: Semaglutid (Ozempic® [wöchentlich s.c.], Rybelsus® [täglich p.o.]), Dulaglutid (Trulicity®; wöchentlich s.c.), Tirzepatid (Mounjaro®; wöchentlich s.c.) sind gut geeignet bei Patienten mit Niereninsuffizienz oder Übergewicht/Adipositas sowie bei solchen, bei denen Hypoglykämien vermieden werden sollten. Wegen Kontingentierung soll aktuell (ab 04/2024) keine Neuverschreibung von s.c. GLP1RA erfolgen, sondern stattdessen Rybelsus® verordnet werden. Auch zur Behandlung von Adipositas ist Semaglutid (Wegovy® [Erwachsene; Limitatio beachten], Saxenda® [Jugendliche]) zugelassen. Wegen ihres gleichen Wirkprinzips dürfen GLP1RA und DPP4i nicht miteinander kombiniert werden. s DPP4i (Gliptine): Durch DPP wird unter anderem das Inkretin GLP-1 inaktiviert, welches nach Nahrungsaufnahme ausgeschüttet wird und abhängig vom Blutzuckerspiegel die Insulinsekretion fördert. Diese Effekte werden durch die Gliptine (Sitagliptin [Januvia®], Vildagliptin [Galvus®], Linagliptin [Trajenta®], Saxagliptin [Onglyza®]) inhibiert. Sie können sämtlich p. o. eingenommen werden, besitzen kaum Nebenwirkungen und sind insbesondere geeignet für Patienten mit Niereninsuffizienz, Übergewicht/Adipositas und solchen, bei denen Hypoglykämien vermieden werden sollten. Aufgrund der gegenüber GLP1RA geringeren HbA1c-senkenden Wirkung sind GLP1RA zu bevorzugen. s Sulfonylharnstoffe: Die Wirksamkeit der Sulfonylharnstoffe (einsetzbar ist Gliclazid [Diamicron® und Generikum], Anfangsdosis: 30–60 mg 1-mal täglich als Retardpräparat, Erhaltungsdosis: 1–3 Tabletten/Tag auf einmal; Glibenclamid [Daonil®, Euglucon® und Generika] und Glimepirid [Amaryl® und Generika] werden nicht empfohlen), welche die Betazellen stimulieren, nimmt nach einigen Jahren der Behandlung ab, weshalb sie sich nur bedingt zur Langzeitmonotherapie des Typ-2-Diabetes eignen. In den überarbeiteten SGED-Richtlinien 2023 werden sie nicht mehr empfohlen. s Glinide: Das Wirkprinzip der Glinide (Repaglinid [NovoNorm®]) gleicht dem der Sulfonylharnstoffe, bei allerdings schnellerem Wirkungseintritt und kürzerer Wirkdauer (Einnahmeprinzip: «Time to eat, time to treat», daher meist schlechte Compliance). Die kurze Halbwertszeit macht Glinide insbesondere zu einem geeigneten Präparat für Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz. Häufige Nebenwirkungen von Gliniden sind Hypoglykämien. In den überarbeiteten SGED-Richtlinien 2023 werden die Substanzen ebenfalls nicht mehr empfohlen. Regelmässige Kontrollen potenzieller Komplikationen Die in der mediX-Leitlinie empfohlenen Kontrolluntersuchungen zur Vermeidung oder Eindämmung von Diabeteskomplikationen betreffen die folgenden Krankheitsbilder: s diabetische Retinopathie s diabetische Nephropathie s diabetische Neuropathie s diabetisches Fusssyndrom. Hinsichtlich der diabetischen Retinopathie werden bei Typ-1-Diabetes 1- bis 2-jährliche Augenkontrollen (begin- nend spätestens nach 5 Jahren mit Diabeteserkrankung). Bei Typ-2-Diabetes erfolgt eine Augenkontrolle bereits bei Dia gnosestellung und danach ohne Befund alle 2 Jahre oder, falls eine Retinopathie besteht, mindenstens jährlich beziehungs- weise auf augenärztliche Empfehlung. Als erstes Zeichen einer diabetischen Nephropathie gilt die Mikroalbuminurie. Ein entsprechendes Screening soll bei Typ-1-Diabetes erstmals spätestens nach 5 Jahren mit Dia beteserkrankung und bei Typ-2-Diabetes erstmals bei Diag- nosestellung sowie im Anschluss in beiden Fällen jährlich durchgeführt werden. Dazu wird die Albumin-Kreatinin-Ra- tio im Spontanurin gemessen; liegt der Wert bei 2 von 3 Tests während 4 bis 6 Monaten bei > 30 mg/g, ist eine Mikroalbu-
minurie bestätigt.
Die diabetische Neuropathie kann in verschiedenen klini-
schen Formen auftreten, am häufigsten als distale symmetri-
sche, aber auch oft als autonome Polyneuropathie (Sym
ptome: Ruhetachykardie, Leistungsintoleranz, orthostatische
Hypotension, Verstopfung, Gastroparese, erektile Dysfunk-
tion). Es handelt sich meist um eine Ausschlussdiagnose, die
keinerlei spezieller Untersuchungen bedarf. Die neurologi-
sche Untersuchung fokussiert auf die Oberflächen- und auf
die Tiefensensibilität (Details siehe [1]). Bei Dominanz moto-
rischer gegenüber sensiblen Ausfällen, rasch auftretender
oder fortschreitender oder zunächst an den oberen Extremi-
täten einsetzender Symptomatik soll fachärztlicher neurolo-
gischer Rat eingeholt werden.
Zur Vorbeugung eines diabetischen Fusssyndroms wird emp-
fohlen, die Füsse 1-mal jährlich (bei schlecht eingestelltem
Diabetes häufiger) auf Auffälligkeiten zu kontrollieren. Zu
den entsprechenden Kriterien und zu vorbeugenden bezie-
hungsweise therapeutischen Massnahmen bezüglich Fuss-
schäden wie auch anderer diabetischer Komplikationen wird
auf die mediX-Leitlinie (1) verwiesen.
s
Ralf Behrens
Quelle: Kohler S et al.: Guideline Diabetes mellitus (Vollversion). mediX Schweiz, zuletzt revidiert 02/2021, letzte Aktualisierung 03/2024, https://www.medix.ch/wissen/guidelines/diabetes-mellitus/
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FORTBILDUNG
Praktische Hinweise zum Impfplan
Update zum mediX-Factsheet Impfungen
In die kürzlich aktualisierten Impfempfehlungen des mediX-Factsheets haben die Impfempfehlungen 2024 des BAG Eingang gefunden. In 16 krankheitsorientierten Abschnitten werden wesentliche Inhalte praxisorientiert dargestellt und bei allfälligen Anpassungen der Empfehlungen laufend aktualisiert. Im Folgenden allgemeine Empfehlungen sowie die Neuerungen im Überblick.
mediX Schweiz
Zunächst einmal werden ein paar allgemeine Aspekte angesprochen: Zum Beispiel sind die zeitlichen Abstände zwischen den Impfungen nur mit dem Blick auf die erforderlichen Mindestabstände wichtig, einen maximalen Abstand zwischen 2 Impfungen gibt es nicht. Jede dokumentierte Impfung zählt. Auch ein Tipp zum Vorgehen bei fehlenden Dokumenten zu Impfungen in der Kindheit gehört dazu (siehe Kasten). Auf den räumlichen Abstand kommt es bei Impfungen an, die zeitgleich erfolgen. Es können beliebig viele Impfstoffe (unabhängig davon, ob es sich um Tot- oder Lebendimpfstoffe handelt) gleichzeitig verabreicht werden, solange ein Abstand von 2,5 cm eingehalten wird. Bei Lebendimpfstoffen wird entweder die gleichzeitige Verabreichung oder ein Mindestabstand von 4 Wochen empfohlen. Bei Patienten, die antikoaguliert werden, sollte der Impfstoff trotzdem bevorzugt intramuskulär verabreicht werden, um eine bessere Wirkung und weniger Nebenwirkungen zu gewährleisten. Auf eine Aspiration sollte dabei verzichtet und die Impfstelle sollte für 2 min komprimiert werden.
Steckbrief
Wer hat das Factsheet erstellt? Verein mediX Schweiz, Autoren: Daniela Puhan, Felix Huber
Wann wurde es aktualisiert? 06/24
Für welche Patienten? Allgemeine Bevölkerung, insbesondere für spezifische Altersgruppen und immunsupprimierte Personen
Was ist neu? ▲ Einführung der HPV-Impfung als Basisimpfung für Mädchen und
Knaben ▲ ergänzende Impfempfehlung für Meningokokken ▲ Anpassung des Impfintervalls für Poliomyelitis ▲ Inklusion der COVID-19-Impfung in die Richtlinien ▲ neue Empfehlungen zur Pneumokokken-Impfung für alle über
65 Jahre ▲ FSME-Impfung neu ab 3 Jahren ▲ Anpassung der Impfempfehlungen bei Immunsuppression
Immunsuppression/Immundefizienz
Der Abschnitt zu Impfempfehlungen bei Immunsuppression/ Immundefizienz wurde überarbeitet. Als immunsupprimiert gelten Personen mit aktiven Tumorleiden, unter Steroidbehandlung (Prednisonäquivalent ≥ 2 mg/kg/Tag oder ≥ 20 mg/ Tag während > 14 Tagen) oder immunsuppressiven Basistherapien (konventionell [Methotrexat, Leflunomid, Azathioprin, Ciclosporin, Cyclophosphamid], Biologika [TNF-Hemmer, Rituximab, Abatacept, Anti-IL-6, Anti-IL-17, Belimumab, Ustekinumab] oder JAK-Inhibitoren) sowie Patienten im ersten halben Jahr nach antineoplastischer Chemotherapie, nach Transplantation von Stammzellen oder Organen sowie mit fortgeschrittener HIV-Infektion (CD4-Zahl < 200/mm). Vor Beginn einer immunsuppressiven Behandlung sollten Auffrischimpfungen durchgeführt und gegebenenfalls eine Grundimmunisierung nach dem nationalen Impfplan nachgeholt werden. Auch bei engen Kontaktpersonen sollte der Impfstatus überprüft werden. Insbesondere sollte die Vollständigkeit der Impfungen mit Lebendimpfstoffen (MMR, Varizellen, ggf. Gelbfieber) überprüft werden (ggf. serologische Kontrollen), denn diese dürfen unter Immunsuppression nicht gegeben werden. Zwischen einer Impfung mit einem Lebendimpfstoff und dem Beginn einer immunsuppressiven Therapie sollten 4 Wochen Abstand eingehalten werden.
Indikationsimpfungen Für Personen mit Immunsuppression/Immundefizienz sind Impfungen gegen folgende Krankheitsbilder empfohlen (Indikationsimpfungen): Herpes Zoster (Shingrix®), Hepatitis B, Pneumokokken, Influenza (als Totimpfstoff) und COVID-19. Für den Herpes Zoster-Totimpfstoff wird normalerweise ein Mindestabstand von 2 Monaten zwischen 2 Dosen empfohlen. Bei bevorstehender Immunsuppression kann dieser Abstand auf 1 Monat verkürzt werden. Nach einer Zosterinfektion kann die Impfung entweder sofort oder nach dem Abklingen von postherpetischen Neuralgien durchgeführt werden, um weitere Episoden zu verhindern. Diejenigen, die noch keine Varizelleninfektion hatten, sollten zuerst gegen Varizellen immunisiert werden. Bei Pneumokokken wird eine 1-malige Gabe von PCV13 (Prevenar®) empfohlen, was allerdings nicht für alle Altersklassen von Swissmedic zugelassen ist. Booster-Impfungen für PCV13 werden nur für Patienten empfohlen, die zuvor mit
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DER MENINGOKOKKEN ACWY-IMPFSTOFF VON SANOFI
Der einzige Impfstoff in der Schweiz, mit nur einer Dosis ab 12 Monaten empfohlen und erstattet.1,2
Ohne Rekonstitution: gebrauchsfertige Injektionslösung in einer Durchstechflasche.3
Hohe Immunantworten gegenüber den Serogruppen A, C, W und Y.3
Überlegene Immunantwort gegen Serogruppe C bei Kleinkindern ( 12–23 Monate).4*
* Im Vergleich zu MenC-TT (NeisVac-C) 5
Referenzen 1. Bundesamt für Gesundheit (BAG), Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF). Ergänzende Impfempfehlungen zum Schutz vor invasiven Meningokokken-Erkrankunge. Stand der Information: November 2023. Bern: Bundesamt für Gesundheit, 2023. 2. Bundesamt für Gesundheit. Spezialitätenliste (SL) und Geburtsgebrechen-Spezialitätenliste (GGSL). Bern: Bundesamt für Gesundheit, 2024. 3. Fachinformation MenQuadfi®. Stand der Information: März 2024. Siehe unter www.swissmedicinfo.ch. 4. Knuf M, et al. Comparing the meningococcal serogroup C immune response elicited by a tetanus toxoid conjugate quadrivalent meningococcal vaccine (Men-ACYW-TT) versus a quadrivalent or monovalent C tetanus toxoid conjugate meningococcal vaccine in healthy meningococcal vaccine-naïve toddlers: A randomised, con trolled trial. Hum Vaccin Immunother. 2022 Nov 30;18(5):2052657. 5. Fachinformation NeisVac-C. Stand der Information: August 2023. Siehe unter www.swissmedicinfo.ch. Fachpersonen können die Referenzen beim Unternehmen anfragen. Gekürzte Fachinformation MenQuadfi®: W: Polysaccharide von Neisseria meningitidis der Gruppen A, C, W-135- und Y, konjugiert an Tetanus-Toxoid-Trägerprotein. I: Immunisierung von Personen ab 12 Monaten gegen eine invasive Meningokokken-Erkrankung hervorgerufen durch Neisseria meningitidis der Serogruppen A, C, W und Y. D: eine Dosis bei Personen ab 12 Monaten als Grundimmunisierung oder Auffrischimpfung. KI: Überempfindlichkeit gegen einen der Bestandteile des Impfstoffes oder eines Impfstoffs mit den gleichen Inhaltsstoffen. VM: Nicht subkutan, intravaskulär oder intradermal injizieren. Synkope (Ohnmacht) kann auftreten. IA: Bei gleichzeitiger Anwendung anderer Arzneimittel stets Injektionsstellen an unterschiedlichen Gliedmassen wählen und unterschiedliche Spritzen verwenden. NW: Personen von 12 bis 23 Monaten: Benommenheit, Erbrechen, Diarrhö, Reizbarkeit, Appetitlosigkeit, anormales Weinen, Reaktionen an der Einstichstelle (Druckschmerz/Schmerz, Erythem, Schwellung), Fieber. Personen ab 2 Jahren: Kopfschmerzen, Myalgie, Reaktionen an der Einstichstelle (Schwellung, Erythem, Schmerzen) Schmerzen an der Injektionsstelle, Unwohlsein, Fieber. P: Packung mit 1 Einzeldosis-Durchstechflasche (0.5 ml). AK: B. Zul.-Inh: sanofi-aventis (schweiz) ag, 1214 Vernier/GE. Stand der Information: März 2024. Weitere Informationen entnehmen Sie bitte der Fachinformation unter www.swissmedicinfo.ch.
Dieses Arzneimittel unterliegt einer zusätzlichen Überwachung. Für weitere Informationen siehe Fachinformation MenQuadfi® auf www.swissmedicinfo.ch.
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MAT-CH-2401060-v.1.0-06/2024
FORTBILDUNG
LINKTIPPS
Was tun bei fehlenden Impfdokumenten?
Wenn keine Impfdokumentation vorhanden ist, aber angegeben wird, dass in der Kindheit Impfungen stattgefunden haben, sollte folgendermassen vorgegangen werden: Ist 4 bis 8 Wochen nach 2 Dosen des MMR-Impfstoffs (Masern, Mumps, Röteln) und einem DTpaIPVBooster (Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio) der Titer für das Tetanustoxin (IgG) > 1000 IE/l, sind keine weiteren Impfungen erforderlich. Bei e inem Titer zwischen 500 und 1’000 IE/l sollte nach 6 Monaten eine weitere Impfung erfolgen. Bei einem Titer < 500 sollte im 2. und 6. Monat nach der letzten Dosis jeweils eine weitere Impfung durch geführt werden.
PPV23 geimpft wurden; für diese wird eine PCV13-Impfung frühestens 1 Jahr nach der letzten Impfung vorgeschlagen. Für Patienten ab 65 Jahren kann alternativ der Impfstoff Vaxneuvance® verwendet werden. Weitere Details hierzu finden sich bei Infovac (siehe Linktipp). Patienten mit entzündlich-rheumatischen Autoimmunerkrankungen sind auch ohne immunsuppressive Behandlung be-
Viavac – Verfügbarkeit von Impfstoffen in Echtzeit
www.rosenfluh.ch/qr/viavac
Infovac/BAG-Bulletin mit den Empfehlungen zur Pneumokokkenimpfung
www.rosenfluh.ch/qr/pneumokokken-impfung
sonders anfällig für Infektionen. Ein erhöhtes Risiko besteht beispielsweise für Infektionen mit Influenza, Pneumokokken, Varizella Zoster (Gürtelrose), Hepatitis B und humanen Papillomaviren (HPV). Auch bei anderen Arten von Autoimmunerkrankungen kann eine gesteigerte Anfälligkeit vorliegen, einen Überblick zu den in diesem Fällen empfohlenen Impfungen gibt Infovac (zur Übersichtstabelle, siehe Linktipp).
COVID-19
Auffrischimpfungen gegen COVID-19 (1 einzelne Impfdosis) sind speziell für besonders gefährdete Personen ab 16 Jahren während des Herbstes und Winters vorgesehen, einschliesslich schwangerer Frauen nach ärztlicher Beratung. Ein Mindestabstand von 6 Monaten zur letzten Impfung oder Infektion wird empfohlen. Bevorzugt werden Impfstoffe, die an die XBB.1.5-Variante angepasst sind, wie Comirnaty® Omicron XBB.1.5 oder Spikevax® 1.5, welche seit Juli 2024 in der Spezialitätenliste sind und innerhalb der Limitatio von der Grundversicherung übernommen werden.
FSME neu bereits ab 3 Jahren empfohlen
Neu wird bereits für Kinder ab 3 Jahren in FSME-Endemiegebieten der Schweiz ein FSME-Impfschema von 3 Dosen empfohlen, welche alle 10 Jahre aufgefrischt werden sollten. Bei Personen > 60 Jahre, die häufiger exponiert sind (z. B. Gartenarbeit, Umgang mit Hunden, Pilzsammeln), kann eine Auffrischung alle 5 Jahre notwendig sein. Die ersten beiden Impfdosen sollten idealerweise zwischen Ende Oktober und Ende Februar verabreicht werden, da 1 einzelne Dosis in der folgenden Zeckensaison nicht ausreichend schützt. Eine Impfung unmittelbar nach einem Zeckenstich verhindert keine Infektion, eine zweite Dosis kann dennoch von Nutzen sein. Für eine Schnellimmunisierung sind für Encepur® Impfdosen an den Tagen 0, 7 und 21 vorgesehen und für FSME-Immun® an den Tagen 0 und 14 und nach 5 bis 12 Monaten.
HPV: Kantonales Impfprogramm der Kantone
www.rosenfluh.ch/qr/hpv-impfprogramm
Meningokokken (Infovac)
www.rosenfluh.ch/qr/meningokokken_impfung-2024
Empfohlene Impfungen für Personen mit einem erhöhten Risiko von Komplikationen oder von invasiven Erkrankungen
www.rosenfluh.ch/qr/impfungen_risikopersonen
Poliorisikogebiete
www.rosenfluh.ch/qr/poliorisikogebiete https://polioeradication.org/this-week/
HPV-Impfung
Die HPV-Impfung wird neu als Basisimpfung sowohl für Mädchen als auch für Jungen im Alter von 11 bis 14 Jahren empfohlen, mit einer Nachimpfung für alle bislang ungeimpften Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren. Dies gilt auch für Jugendliche, die bereits sexuelle Kontakte hatten. In einzelnen Fällen kann die Impfung sogar bis zum Alter von 26 Jahren nachgeholt werden. Eine Kostenübernahme im Rahmen der kantonalen Impfprogramme erfolgt nur, sofern die erste Dosis vor dem 27. Geburtstag verabreicht wird. Die Empfehlung für Knaben soll HPV-assoziierten Krebserkrankungen bei Männern vorbeugen und die Übertragung des Virus verhindern. Die Kosten für die Impfung werden durch die kantonalen Krankenkassen übernommen, abhängig von den jeweiligen kantonalen Impfprogrammen. Erfolgt die erste Impfung vor dem 15. Geburtstag, ist sie 2-zeitig (Zeitpunkt 0 und 6 Monate), erfolgt sie später oder liegt eine Immunschwäche vor, werden 3 Dosen empfohlen (Zeitpunkte 0, 1 bis 2 und 6 Monate)
Meningokokken
Die aktuellen Empfehlungen zur Meningokokkenimpfung wurden erweitert um neue Richtlinien für Meningokokken der Serogruppen ACWY und B.
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FORTBILDUNG
Meningokokken ACWY: Kinder zwischen 12 und 18 Monaten erhalten 1 Dosis des Impfstoffs MenQuadfi® oder 2 Dosen des Impfstoffs M enveo®, wobei die Dosen im Abstand von 2 Monaten verabreicht werden. Ab einem Alter von 24 Monaten und während der Adoleszenz ist nur 1 Dosis des Impfstoffs, unabhängig von der Marke, erforderlich. Meningokokken Serogruppe B: Für Säuglinge und Kleinkinder werden 3 Dosen des 4CMenB-Impfstoffs (Bexsero®) im Alter von 3, 5 und 18 Monaten empfohlen. Jugendliche zwischen 11 und 15 Jahren sollten 2 Dosen im Abstand von mindestens 1 Monat erhalten. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für Personen ab 2 Monaten bis zum Alter von 24 Jahren (Bexsero®) respektive ab 2 Monaten (Menveo®) beziehungsweise ab 12 Monaten (MenQuadfi®).
Pneumokokken
Neu wird allen Personen ab 65 Jahren eine Impfung mit Prevenar 13® (Pfizer) oder Vaxneuvance® (MSD) empfohlen, unabhängig davon, ob sie zuvor Risikofaktoren aufweisen oder bereits mit Pneumovax® geimpft wurden; für diese Impfstoffe wird keine Boosterimpfung empfohlen. Die Impfempfehlung für Patienten mit chronischen Erkrankungen, die vor einer immunsuppressiven Therapie stehen, an Krebs erkrankt sind oder andere spezifische Gesundheitsrisiken haben, bleibt
unverändert und ist unabhängig vom Alter. Die Kosten für diese Impfung werden von der obligatorischen Kranken versicherung (KV) für alle unter 5 und über 64 Jahren übernommen.
Polio
Nach der Grundimmunisierung sind keine regelmässigen
Auffrischimpfungen notwendig, es sei denn, es steht eine
Reise in ein Poliorisikogebiet bevor. Eine Auffrischimpfung
(nicht länger als 12 Monate her) wird angeraten bei einem
Aufenthalt von mindestens 4 Wochen in Ländern, in denen
Impfpolioviren Typ 2 zirkulieren oder unabhängig von der
Aufenthaltsdauer bei Reisen in Länder mit Wildtyppolio (z. B.
Afghanistan, Pakistan) oder Impfpolioviren Typ 1 oder 3, um
deren Verbreitung zu unterbinden. Für immunkompetente
Reisende < 65 Jahren wurde das empfohlene Intervall zwi- schen 2 Auffrischdosen neu von 10 auf 20 Jahre verlängert, für Personen ab 65 Jahren und immunkompromittierte Rei- sende bleibt es bei 10 Jahren. s Christine Mücke Quelle: Puhan D, Huber F: Factsheet Impfungen. mediX Schweiz, zuletzt revidiert 06/2024, https://www.medix.ch/wissen/guidelines/impfungen/ 24Herbstkongress Congresso d’autunno Congrès de l’automne 19. – 20. 9. 2024 Congresso d’autunno Palazzo dei Congressi Lugano Rengoiswte! r In collaborazione con Eine Weiter- und Fortbildungsveranstaltung der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin Un perfezionamento professionale e aggiornamento continuo della Società Svizzera di Medicina Interna Generale Une formation postgraduée et continue de la Société Suisse de Médecine Interne Générale sgaim.ch/hk24 sgaim.ch /ca24 FORTBILDUNG Bei Polypharmazie genau hinsehen Nicht allein die Anzahl der Medikamente ist ausschlaggebend Gerne werden unerwünschte Ereignisse während einer Pharmakotherapie der Polypharmazie zugeschrieben. Dabei ist die schiere Anzahl an Wirkstoffen selten ursächlich, wohl aber maskierend für feine Ungereimtheiten. Wird die Polypharmazie entsprechend als eine Indikation für ein genaueres Hinschauen eingesetzt, kann eine umfassende Medikationsanalyse gewinnbringende Massnahmen für einzelne Wirkstoffe aufzeigen. Was kann dabei alles berücksichtigt werden? Der «efficacy-effectiveness gap» Der Umstand, dass Arzneimittel nach deren Marktzulassung kaum den medizinischen Nutzen erreichen, der ihnen in klinischen Studien zugewiesen wurde, wird als der «efficacyeffectiveness gap» bezeichnet. Aus dem Ausmass, in dem ein Arzneimittel unter zwar zunehmend diversen, aber dennoch idealen Umständen mehr Nutzen als Schaden bringt (efficacy, Wirksamkeit), wird unter den üblichen Bedingungen unserer Gesundheitsversorgung ein deutlich kleinerer Effekt (effectiveness, Effektivität) (1). Unter unseren realen Bedingungen werden die Arzneimittel bei Patienten eingesetzt, die in ihrer spezifischen Kombination von Eigenschaften schlicht nicht abgebildet waren. Da sind plötzlich andere Ausgangspunkte MERKSÄTZE � Die Definition des Begriffs «Polypharmazie» ist abhängig von der untersuchten Population sowie den untersuchten Outcomes. � Die Vielfalt an Arzneimittelinteraktionen ist gross und umfasst eine Vielzahl von Faktoren. Dazu gehören Wechselwirkungen zwischen einem einzigen Wirkstoff und einem Nahrungsmittel sowie auch schwierig zu antizipierende pharmakogenetische Besonderheiten. � Um eine Polypharmazie auf den individuellen Patienten abstimmen zu können, ist eine umfassende Medikationsanalyse kaum ersetzbar. Hilfsmittel können diese zielführend gestalten. � Gesucht werden sollte nach Arzneimitteln, die entweder keine Indikation (mehr) haben, neu kontraindiziert sind, bei denen die unerwünschten Effekte den Nutzen überwiegen, die keinen präventiven Nutzen (mehr) haben oder Teil einer Verschreibungskaskade sind. der Erkrankung selbst, die auf Komorbiditäten auch ausserhalb der grossen Gesellschaftserkrankungen treffen, bei Patienten mit Einschränkungen der eliminierenden Organe und hinderlichen Phänotypen der metabolisierenden Enzyme. Die neuen Wirkstoffe werden beeinflusst durch andere vorhandene Wirkstoffe in Körperzusammensetzungen, die in den Zulassungsstudien nicht repräsentiert waren oder schlicht untergehen in aggregierten Daten und errechneten Durchschnitten. Dann kommen unter realen Bedingungen auch noch Verschreibungs-, Abgabe- und Einnahmefehler dazu. Ein plakatives Beispiel: Adhärenzfördernde Wochendosiersysteme, wie die «Dosette», reduzieren gleichzeitig die Kenntnis über den eigenen Medikationsplan und führen bei einer falschen Befüllung zu Unter- und Überdosierungen. Aus der Wirksamkeit wird zuerst die Effektivität und bei Falschanwendung schliesslich Schaden. Polypharmazie als Erklärung zu einfach Andere Wirkstoffe können also die Wirksamkeit eines Arzneimittels schmälern. Doch je länger der Medikationsplan, desto grösser die Probleme? Allgemein bekannt als Polypharmazie sind 5 oder mehr Wirkstoffe (2). Die abgezählten 5 Wirkstoffe werden dann umgemünzt in dichotome Variablen (Polypharmazie vorhanden: ja/nein) und korrelieren in Beobachtungsstudien mit allerhand unerwünschten Arzneimittelereignissen: Stürze, Hospitalisierungen und ganz generell Mortalität. Dabei wäre schon die Definition der Polypharmazie nuancierter: So kann die Studienpopulation aus ausschliesslich älteren (76,9 Jahre), männlichen, nicht institutionalisiert lebenden Patienten bestanden haben (3). Und die 5 oder mehr Wirkstoffe sind eigentlich ein Mittelweg, der für alle untersuchten Outcomes funktioniert hat. Für kognitive Einschränkungen wären es (aufgerundet) 4, für Mortalität und Stürze (aufgerundet) 5 und für Gebrechlichkeit (Frailty) eigentlich gar (aufgerundet) 7 Wirkstoffe. In anderen Studien sind es dann für institutionalisiert lebende Ältere (87,5 Jahre), hauptsächlich Patientinnen, 9 oder mehr Wirkstoffe (4). Wobei es auch hier für Stürze 9 oder mehr, für Stürze mit Hospitalisation 362 ARS MEDICI 15+16 | 2024 FORTBILDUNG 10 oder mehr und für Hospitalisation allgemein sogar 12 oder mehr Wirkstoffe wären, die mit den Outcomes korrelieren. Ja, Polypharmazie erhöht das Risiko für unerwünschte Ereignisse (5), aber ist die abgezählte Anzahl an Wirkstoffen auch die Ursache? Wohl eher die Maske für feine Ungereimtheiten: Eine grosse Anzahl an gleichzeitig eingesetzten Wirkstoffen erhöht schliesslich die Wahrscheinlichkeit für unbeabsichtigte Verschreibungskaskaden, das Vorhandensein von sturzfördernden Arzneimitteln, Verschreibungs- und Einnahmefehlern und vielfältigen Interaktionen. (Arzneimittel-)Interaktionen Die Wahrscheinlichkeit für jegliche und schädliche Interaktionen nimmt exponenziell mit der Anzahl an Wirkstoffen zu. Professor Walter Haefeli, Leiter Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie am Universitätsklinikum Heidelberg, hat in einem 2011 erschienenen Beitrag eine eindrückliche Kombinatorik präsentiert (6): Aus lediglich 5 Wirkstoffen lassen sich 10 verschiedene Paare, 10 Triplets, 5 Quartette und 1 Quintet bilden. Das sind 26 verschiedene Kombinationen, alle mit ihrem eigenen Potenzial für Arzneimittelinteraktionen. Erweitert sich die Pharmakotherapie auf 8 Wirkstoffe, sind es bereits 247 mögliche Kombinationen. Unsere gängigen Interakt ionsdatenbanken arbeiten übrigens ausschliesslich mit P aaren. Arzneimittelinteraktionen können unterteilt werden in 3 grosse Gruppen: pharmakodynamische, pharmakokinetische und pharmazeutische Interaktionen (7). Pharmazeutische Interaktionen sind physikalisch-chemische Reaktionen von 2 oder mehr Wirkstoffen, die meist bereits ausserhalb des Patienten stattfinden. Sie zeigen sich in Ausfällungen, Trübungen oder Verfärbungen von Infusionslösungen in den Beuteln oder Katheterschläuchen. Konsequenzen sind eine fehlende Wirksamkeit oder bei Kristallbildung beispielsweise eine Phlebitis. Pharmakokinetische Interaktionen umschreiben die Einflussnahme eines Wirkstoffs auf 1 oder mehr der 5 wichtigen Kerngrössen der Plasmakonzentrationskurve eines anderen Wirkstoffs: Liberation (die Freisetzung des resorbierbaren Wirkstoffes aus dem Arzneimittel), Absorption, Distribution, Metabolismus und Elimination. Konsequenzen sind hier ein zu schnelles oder zu langsames Anfluten, suboder supratherapeutische Wirkstoffspiegel, eine Akkumu lation oder eine zu kurze Wirkdauer. Populäres, aber noch immer oft gesehenes Beispiel hierfür ist die Kombination von Atorvastatin mit Clarithromycin: Durch die Inhibierung des metabolisierenden Cytochrom-P450-Isoenzyms 3A4 (CYP3A4) durch Clarithromycin wird ungefähr eine 4,5-fache Konzentration von Atorvastatin erreicht (8), was bei hohen eingesetzten Dosen von Atorvastatin zu den bekannten Myotoxizitäten führen kann. Pharmakodynamische Interaktionen sind die gleichzeitige Einwirkung zweier Wirkstoffe an einem Rezeptor oder in einem Organ. Hier sind Wirkungsabschwächungen oder -verstärkungen die Konsequenz. Beispiele hierfür sind der Wirkungsverlust von Levodopa bei gleichzeitiger Gabe von Metoclopramid als zentralgängigen Dopaminantagonisten oder die additive, potenzielle QT-Intervall-Verlängerung von Ondansetron und Escitalopram. Für Interaktionen reicht allerdings bereits 1 einziger Wirkstoff: Metoclopramid braucht nicht Levodopa, um beispielsweise bei Patienten mit Morbus Parkinson pharmakodynamisch eine Dyskinesie auszulösen (sogenannte Drug-DiseaseInteraktionen). Und Grapefruitsaft ist ein Beispiel für ein pharmakokinetisch interagierendes Nahrungsmittel (DrugFood-Interaktionen): 1 Glas Grapefruitsaft reicht, um das metabolisierende CYP3A4 in den Enterozyten des intestinalen Epitheliums für 24 bis 48 Stunden zu inhibieren (9). Durch diese Inhibierung gelangt beispielsweise 3-mal mehr Felodipin in die Pfortader. Obschon der First-Pass-Effekt der Leber die schliesslich erreichte Plasmakonzentration gleichermassen um etwa 50 Prozent reduziert, bleibt unter dem Strich dennoch 3-mal mehr Wirkstoff zur Verfügung, mit klaren Effekten auf den systolischen und diastolischen Blutdruck sowie reaktiv auf die Herzfrequenz. Schliesslich können zusätzlich zu einer Interaktion zwischen 2 Wirkstoffen auch genetisch bedingte Veränderungen in der Aktivität von metabolisierenden Enzymen und Arzneimitteltransportern eine Rolle spielen. Kollegen aus der Hirslanden-Klinik in Zürich haben einen Fall einer starken Sedierung und kognitiver Einschränkung durch Duloxetin beschrieben (10). Duloxetin wird sowohl über CYP2D6 als auch über CYP1A2 relevant metabolisiert. Durch eine Hemmung von CYP1A2 durch das ebenfalls vorhandene Ciprofloxacin und einer zusätzlich genetisch bedingten fehlenden Aktivität von CYP2D6 kam es vermutlich zu einer Plasmaspiegelerhöhung um das 16,6-fache von Duloxetin. Die Einschränkungen waren reversibel nach Absetzen von Duloxetin. Es muss jedoch nicht pharmakologisch komplex sein, damit Ungereimtheiten unter dem Deckmantel der Polypharmazie Schaden anrichten können. Aus eigener Praxis waren es wohl die total 19 Wirkstoffe, die eine einfache und schon lange beschriebene Komplexbildung von Ciprofloxacin mit gleichzeitig verabreichter Kalziumsubstitution (11) hinter einer schier unendlich wirkenden Liste an potenziellen, weit weniger relevanten Interaktionsmeldungen versteckt haben – das Therapieversagen der Antibiose durch fehlende Absorption von Ciprofloxacin also als Resultat eines Over-Alerting zu Arzneimittelinteraktionen mit subsequenter, nachvollziehbarer Alert-Fatigue bei den verschreibenden Kolleginnen und Kollegen (12). Deprescribing als Weg aus der Polypharmazie Wie lässt sich nun aufräumen? Hier kommt der Begriff «Deprescribing» ins Spiel: der Prozess des Absetzens eines unangemessenen Arzneimittels unter Aufsicht einer medizinischen Fachkraft mit dem Ziel, die Polypharmazie zu managen und die Outcomes zu verbessern (13). Deprescribing ist – als Teil der guten Verschreibungspraxis – eine positive, patientenzentrierte Intervention für Arzneimittel, bei welchen (manifeste oder potenzielle) Risiken und Schäden den (manifesten oder potenziellen) Nutzen überwiegen (14). Sind noch alle Medikamente indiziert, oder ist deren nützliche Therapiedauer abgelaufen? Gibt es neue Indikationen, die den Einsatz bestimmter Wirkstoffklassen einschränken? Ist die erwartete Lebensdauer kürzer als der prophylaktische Nutzen der Therapie? Tatsächlich entsprechen solche Überlegungen einem Patientenbedürfnis: Gefragt, ob sie gerne die Anzahl der Arzneimittel reduzieren möchten, antwortet die Mehrzahl der Patienten mit Ja (15). Dieselben Patienten sind aber mehrheitlich der Meinung, dass alle ihre Arzneimittel notwendig sind. Das ist gut für die Adhärenz und zeigt den Bedarf an Auf- ARS MEDICI 15+16 | 2024 363 FORTBILDUNG 1. Kein Nutzen Erhebliche Toxizität ODER keine Indikation ODER offensichtliche Kontraindikation ODER Verschreibungskaskade? Nein 2. Der Schaden überwiegt den Nutzen Überwiegen die unerwünschten Wirkungen die symptomatische Wirkung oder den potenziellen künftigen Nutzen? Nein 3. Symptomatische Arzneimittel Symptome stabil oder nicht vorhanden? Nein 4. Vorbeugende Arzneimittel Potenzieller Nutzen aufgrund der begrenzten Lebenserwartung unwahrscheinlich? Nein Medikamentöse Therapie fortsetzen Ja Ja Ja Ja Absetzphänomene oder Wiederauftreten der Krankheit bei Absetzen der Arzneimitteltherapie wahrscheinlich? Nein Ja Absetzen der medikamentösen Therapie Ja Dosis reduzieren und auf unerwünschte Absetzpänomene überwachen Symptome stabil oder nicht vorhanden? Nein Wiederaufnahme der Arzneimitteltherapie Abbildung: Algorithmus zum Absetzen von Medikamenten (nach [14]) klärung, falls dann doch ein Arzneimittel aus dem Medikationsplan verschwinden soll. Ein Team aus Australien hat als Entscheidungshilfe beim Absetzen von Arzneimitteln einen Algorithmus definiert (14): Schritt für Schritt wird nach Arzneimitteln gesucht, die entweder keine Indikation (mehr) haben, neu kontraindiziert sind, bei denen die unerwünschten Effekte den Nutzen überwiegen, die keinen präventiven Nutzen (mehr) haben oder Teil einer Verschreibungskaskade sind (siehe Abbildung). Eine häufige Kaskade ist beispielsweise das Behandeln von Knöchelödemen mit Schleifendiuretika, kurz nachdem ein ursächlicher Kalziumantagonist in die Pharmakotherapie mit aufgenommen wurde (16). Ist ein Arzneimittel für den Stopp ausgewählt, muss anhand des Risikos für Absetzphänomene überlegt werden, ob dieses abrupt gestoppt werden kann oder ausgeschlichen werden muss (14, 17). Betablockern wird beispielsweise ein Rebound-Phänomen attestiert (18). Aber auch Antidepressiva können mit unterschiedlichem Risiko gerade in den letzten Dosierungsschritten Absetzphänomene Klinische Pharmarzie «Die klinische Pharmazie kümmert sich um die Entwicklung und Förderung einer geeigneten, sicheren und ökonomisch sinnvollen Anwendung von Arzneimitteln. Im Spital sind es patientenorientierte Aktivitäten, welche auf Pflegestationen in enger Zusammenarbeit mit weiteren Gesundheitsberufen wie den Ärzten und der Pflege entwickelt wurden. Die Aufgaben der klinischen Pharmazie können in 3 Bereiche unterteilt werden: patientenorientierte Aktivitäten (Patientenschulung, Seamless Care), therapieorientierte Aktivitäten (Therapieoptimierung), prozessorientierte Aktivitäten (Sicherung der Versorgung mit dem richtigen Arzneimittel zum rechten Zeitpunkt). Der klinische Apotheker hat eine angemessene Ausbildung für seine Tätigkeiten und übernimmt die Verantwortung für seine Tätigkeiten.» (gsasa.ch) auslösen, die mit dem Akronym FINISH (flu-like, insomnia, nausea, imbalance, sensory disturbance, hyperarousal) zusammengefasst werden können (19–21). Identifikation von möglicherweise unangebrachten Arzneimitteln Wie lassen sich Arzneimittel identifizieren, bei denen über ein Deprescibing nachgedacht werden sollte? Der Algorithmus aus Australien stellt bereits die übergeordnet wichtigen Fragen nach Indikationsverlust, Schaden und potenziell überwiegenden Risiken. Die Antworten darauf brauchen eine klinische Einschätzung, bei der implizite und explizite Kriterien für potenziell unangebrachte Arzneimittel weiterhelfen können (22). Explizite Kriterien sind rigide, teils regelmässig aktualisierte Listen von Wirkstoffen, die für eine bestimmte Patientenpopulation – meist ältere Patienten – mit unerwünschten Ereignissen wie Stürzen korrelieren. Listen wie die Beers Criteria der American Geriatrics Society oder die PRICUS 2.0 aus Deutschland sind das Resultat von Evidenzbewertungen und helfen bei der schnellen Identifikation von Absetzkandidaten (23, 24). Von Beobachtungsstudien zwar gerne als weitere Zählweise nebst der Polypharmazie verwendet, ist die eigene Patientensituation aber meist individueller und damit komplexer. Vielleicht ist das potenziell erhöhte Sturzrisiko akzeptabel, wenn dafür gleichzeitig die Depression behandelt werden kann. Die PRISCUS-2.0-Liste gibt hierzu jeweils Wirkstoffe an, die als sicherere Alternative in Betracht gezogen werden können. Im Gegensatz zu den expliziten Kriterien sind implizite Kriterien Fragen, die zu jedem Arzneimittel beantwortet werden – eine Art geführte Medikationsanalyse. Sie sind damit sehr patientenspezifisch, aber auch zeitintensiv und abhängig von den Fähigkeiten der Anwenderin und den ihr zur Verfügung stehenden Informationen. In der Forschung gerne auch verwendet für Studien zu Medikationsoptimierungen, stellt der Medication Appropriateness Index (MAI) 10 Fragen (25, 26): Gibt es eine Indikation? Ist das Arzneimittel effektiv? Ist die Dosierung korrekt? Sind die Anwendungshinweise kor- 364 ARS MEDICI 15+16 | 2024 FORTBILDUNG rekt? Sind die Anwendungshinweise praktikabel? Gibt es signifikante Drug-Drug-Interaktionen? Gibt es signifikante Drug-Disease-Interaktionen? Liegt eine unzweckmässige Duplikation vor? Ist die Therapiedauer akzeptabel? Existiert eine kostengünstigere Alternative? Bei 5 Wirkstoffen sind das bereits 50 zu beantwortende Fragen, was sich nur für ausgewählte Situationen eignet: eben beispielsweise für Patienten mit Polypharmazie und einem erhöhten Risiko für unerwünschte Ereignisse. Dafür liegt beim Abschluss des MAI eine Hitparade der optimierungsbedürftigsten Arzneimittel vor, und der Absetzkandidat hat die meisten (unehrenhaften) Punkte. Werden diese teils bekannten, teils unbekannten Kriterien und Hilfsmittel vorgestellt, kommt jeweils die Rückfrage nach der Umsetzbarkeit in der Praxis bei eingeschränkten zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen. Wünschenswert wäre, wenn unser Gesundheitssystem (interprofessionelle) Medikationsanalysen und -optimierungen fördern würde, wie beispielsweise das P3S-Projekt «Physicians and pharmacists together improving patient’s medication safety» (sichere-medikation.ch). Bis dahin ist eine mögliche, alternative Antwort: Oft sind es wiederkehrende Wirkstoffklassen, die nicht mehr ganz in einen Medikationsplan passen. So erscheint es bei mangelnden Ressourcen als ein vertretbarer Weg, eine explizite Liste in einer ruhigen Stunde eingehend durchzusehen oder aber gar eine ausführliche Medikationsanalyse mit dem MAI 1-malig durchzuführen, um im Alltag dann mit einem Bauchgefühl und gesetzten orangen Warnlampen zu arbeiten. Hilfsmittel für die Praxis Zur Bearbeitung von klinisch-pharmazeutischen Fragestellungen wie kompletten Medikationsanalysen oder dem besten Ausschleichprozedere wird hin und wieder auf Informationsressourcen zugegriffen. Einige dieser frei zugänglichen Ressourcen sollen hier kurz vorgestellt werden. Die kuratierten Informationen sind sicherlich nicht immer über jeden Zweifel erhaben, können aber als erster Ankerpunkt für eigene Überlegungen dienen. Lesetipps ▲ Wer noch mehr internationale Tools und Ressourcen kennenlernen möchte, insbesondere zum Thema Deprescribing, der sei auf den Übersichtsartikel von Emily Reeve aufmerksam gemacht: «Deprescribing tools: a review of the types of tools available to aid deprescribing in clinical practice» (28). ▲ Ein kürzlich erschienener systematischer Review mit Metaanalyse fasst die aktuelle Evidenz zu Medikationsanalysen und Deprescribing zusammen: «Clinical impact of medication review and deprescribing in older inpatients: a systematic review and meta-analysis» (29). ▲ Wer sich genauer mit dem Prozess von Deprescribing und der damit verbundenen Güterabwägung beschäftigen möchte, der darf sich bei der Publikation von Ian Scott inspirieren lassen: «Reducing inappropriate polypharmacy: the process of deprescribing» (14). Deprescribing-Netzwerke und -Algorithmen Die Webseite deprescribing.org des auf Altersmedizin spezialisierten Bruyère Research Institute in Montréal wird mit viel Energie von Dr. Barbara Farrell betrieben. Die Webseite listet sogleich verschiedenste Deprescribing-Netzwerke von überall auf der Welt, wiederum mit eigenen hilfreichen Ressourcen. Deprescribing.org bietet für ausgewählte WirkstoffklassenEntscheidungsalgorithmenundkonkreteAbsetzprozedere, so auch für Protonenpumpeninhibitoren, die oft über ihre nutzbringende Zeit hinaus auf Medikationslisten bleiben oder aber nach einem allzu abrupten Stopp mit Rebound doch wieder einer Indikation zugewiesen werden. Medstopper Kann das Medikament sofort gestoppt werden, oder sollte es langsamer ausgeschlichen werden? Welche Symptome könnten denn bei zu schnellem Absetzen auftreten? Die Webseite medstopper.com liefert hierzu erste Antworten. Gefüttert wird die Webseite, die sich seit Jahren in der Beta-Version befindet, von einem internationalen, interdisziplinären Team. Medstopper bietet wie auch TaperMD.com hinsichtlich Absetzprozederen angenehm konkrete Empfehlungen und weist auch auf Absetzsymptome hin. The NNT Wird von Nutzen und Risiken gesprochen, fällt bald auch der Begriff «Evidenz». Bei der heutigen Forschungsgeschwindigkeit hierzu den Überblick zu behalten, ist schwierig. Sich von raffinierten Studiendesigns nicht blenden zu lassen ebenfalls. Hier helfen Veröffentlichungen wie pharma-kritik von Dr. Etzel Gysling oder das französische Prescrire ungemein. Die englische Webseite thennt.com (von «number needed to treat») macht die kritische Durchsicht der Evidenz noch etwas plakativer und präsentiert deshalb gleich nackte Zahlen und einen Farbencode. Interaktionsdatenbanken In den meisten Praxis-, Apotheken- und Kliniksystemen sind heute automatische Interaktionsprüfungen hinterlegt. Trotz Over-Alerting und Alert-Fatigue bieten die Systeme ein schnelles Screeninginstrument. Wird die gewünschte Interaktionsstufe erhöht, kann die Sensitivität etwas reduziert werden. Die Systeme greifen auf kuratierte Datenbanken zu, weshalb sich die Informationen und Einschätzungen je nach bearbeitendem Team unterscheiden können. Deshalb kann es hilfreich sein, bei kritischeren Fragestellungen einen Vergleich zu machen. mediQ.ch ist eine weitere, kostenpflichtige Datenbank, die von den Psychiatrischen Diensten Aargau und von Kooperationskliniken gepflegt wird. Die Darstellung bleibt auch bei vielen Wirkstoffen übersichtlich, und die Interaktionstexte sind nuanciert. Ebenso übersichtlich ist die tabellarische Darstellung der Substrate der CytochromP450-Isoenzyme und des P-Glykoproteins (P-gp), entwickelt durch die Spitalapotheke der Hopitaux Universitaires Geneve (HUG). Das PDF ist im Internet frei verfügbar und eignet sich als kleines Poster. Noch etwas weiter geht DDI-predictor.org, entstanden aus einer Arbeitsgruppe aus Lyon: DDI-predictor quantifiziert das Ausmass von pharmakokinetischen und pharmakogenetischen Interaktionen sogar. Durch die Angabe der erwarteten Veränderung in der Plasmakonzentrations- ARS MEDICI 15+16 | 2024 365 FORTBILDUNG LINKTIPPS Deprescribing � deprescribing.org rosenfluh.ch/qr/deprescribing � medstopper.com rosenfluh.ch/qr/medstopper � TaperMD.com rosenfluh.ch/qr/tapermd Evidenz � pharma-kritik rosenfluh.ch/qr/pharma-kritik � thennt.com rosenfluh.ch/qr/thennt � Prescrire rosenfluh.ch/qr/prescrire Interaktionsdatenbanken � mediQ.ch rosenfluh.ch/qr/mediq � DDI-predictor.org rosenfluh.ch/qr/ddi-predictor QT-Intervall-Verlängerung � CredibleMeds.org rosenfluh.ch/qr/crediblemeds � MedSafetyScan.org rosenfluh.ch/qr/medsafetyscan STOPP- und START-Kriterien � PIMCheck.org rosenfluh.ch/qr/pmcheck � Referenz 27 (O›Mahony et al. 2015, siehe Appendix) rosenfluh.ch/qr/stoppstart-omahonyetal 366 ARS MEDICI 15+16 | 2024 kurve lassen sich so notwendige Dosisanpassungen vorhersagen. So finden sich dort auch die bereits erwähnten Beispiele zu Clarithromycin-Atorvastatin und Ciprofloxacin- CYP2D6Polymorphismus-Duloxetin. QT-Intervall-Verlängerung Oft finden sich in den Fachinformationen Hinweise zu potenziellen QT-Intervall-Verlängerungen. Die daraus resultierenden Interaktionsmeldungen sind wenig nuanciert und generieren gerade im Bereich der Psychopharmaka häufig Rückfragen und Unsicherheiten. CredibleMeds.org bietet nach kostenloser Registrierung Zugriff auf eine sorgfältig kuratierte Datenbank, die sogar beim vorsichtigen Quantifizieren des Risikos durch die einzelnen Arzneimittel helfen kann. Die Weiterentwicklung MedSafetyScan.org geht dabei einen Schritt weiter und berücksichtigt auch aktuell vorliegende Komorbiditäten und Elektrolytstörungen, bevor das Tool durch einen Abgleich mit einem Patientenkollektiv sogar Empfehlungen abgibt. Die START-Kriterien Vor lauter Hinterfragen und Absetzen sollte nicht vergessen werden, dass Arzneimittel auch Gutes bewirken. Mit ihren START(Screening Tool to Alert to Right Treatment)-Kriterien haben irische Forscher deshalb eine Checkliste für einige wichtige Therapien zusammengestellt und diese neben den gegenteiligen STOPP-Kriterien frei verfügbar publiziert; ein nützliches Tool, um nebst dem Overprescribing auch das Underprescribing bei älteren Patienten anzugehen. Die tat- sächlichen Kriterien sind im Appendix des Onlineartikels versteckt (27). Übrigens bieten die HUG via PIMCheck.org eine kleine Applikation, die je nach Indikation direkt zu Star- tendes oder zu Stoppendes vorschlägt. s Korrespondenzadresse: Dr. phil. Dominik Stämpfli Eidg. dipl. Apotheker, Fähigkeitsausweis FPH klinische Pharmazie Fachspezialist, Institut für Pharmazeutische Wissenschaften, ETH Zürich Apotheker, Spitalapotheke, Kantonsspital Baden dominik.staempfli@pharma.ethz.ch Literaturverzeichnis 1. Eichler HG et al.: Bridging the efficacy-effectiveness gap: a regulator’s perspective on addressing variability of drug response. 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Vollständiges Literaturverzeichnis in der Onlineversion des Beitrags unter www.arsmedici.ch IMPRESSUM Schweizer Zeitschrift für Hausarztmedizin Offizielles Organ der Ärzte mit Patientenapotheke (APA); Vereinigung der selbstdispensierenden Ärzte der Schweiz Offizielles Organ / Organe officiel Foederatio Medicorum Practicorum (FMP) / Foederatio Medicarum Practicarum (FMP) Verlag Rosenfluh Publikationen AG, Schweizersbildstrasse 47, 8200 Schaffhausen Tel. +41 (0)52-675 50 60, E-Mail: info@rosenfluh.ch, Internet: www.rosenfluh.ch Wissenschaftlicher Beirat Dr. med. Hanspeter Anderhub, La Punt Chamues-ch Prof. Dr. med. Johannes Bitzer, Basel Dr. med. Ueli Böhni, Schaffhausen Prof. Dr. med. Christiane Brockes, Wil Prof. Dr. med. Philip Bruggmann, Zürich Prof. Dr. med. Stanislaw Büchner, Basel Dr. med. Ulrich Castelberg, Aarberg Prof. Dr. med. Christian De Geyter, Basel Prof. Dr. med. Peter Diem, Bern Dr. med. Thomas Dorn, Luzern Dr. med. Luzi Dubs, Winterthur Prof. Dr. med. Jens Eckstein, Basel Dr. med. Jean-Luc Fehr, Zürich Dr. med. Adrian Forster, Zürich Dr. med. Isabelle Fuss, Brugg Dr. med. Walter Grete, Bachenbülach Prof. Dr. med. Ulrich Heininger, Basel PD Dr. med. Rolf Inderbitzi, Zürich Dr. med. Dirk Kappeler, Winterthur PD Dr. med. Andreas Kistler, Frauenfeld Dr. med. Hansjörg Lang, Eschenz Prof. Dr. med. Jörg D. Leuppi, Liestal Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Maercker, Zürich Dr. med. Christian Meyer, Schaffhausen Dr. med. Adrian Müller, Horgen Dr. med. Juliane Neuss, Basel Prof. Dr. med. Anita Riecher-Rössler, Basel Prof. Dr. med. Dr. phil. Gerhard Rogler, Zürich Dr. med. Rita Schaumann-von Stosch, Luzern Dr. med. Wolfgang Schleinzer, Luzern PD Dr. med. Markus Schneemann, Schaffhausen Prof. Dr. med. Frank Seibold, Bern Prof. Dr. med. Martin Spahn, Bern Prof. Dr. med. Isabella Sudano, Zürich Dr. med. Thomas von Briel, Zürich Prof. Dr. med. Henning Wormstall, Schaffhausen PD Dr. med. Lukas Zimmerli, Olten Redaktion Dr. med. Richard Altorfer (RA) E-Mail: r.altorfer@rosenfluh.ch Dr. rer. nat. Ralf Behrens (RABE) E-Mail: r.behrens@rosenfluh.ch Eidg. dipl. pharm. Valérie Herzog (VH) E-Mail: v.herzog@rosenfluh.ch Dr. med. Christine Mücke (Mü) E-Mail: c.muecke@rosenfluh.ch Freie Mitarbeiter Dr. med. Halid Bas (HB) Dr. rer. nat. Renate Bonifer (RBO) Dr. rer. nat. Klaus Duffner (KD) Dr. med. Marianne I. Knecht (MIK) Alfred Lienhard, Arzt (AL) Dr. med. Ulrike Novotny (UN) Dr. Therese Schwender (TS) Dipl. chem. Petra Stölting (PS) Regelmässige und unregelmässige Beilagen ARS MEDICI Dossier:. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. med. Christine Mücke (Mü) CongressSelection: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eidg. dipl. pharm. Valérie Herzog (VH) Dr. med. Adela Žatecky (AZA) Dermatologie & Ästhetische Medizin:. . . . . . . . . Dr. med. Adela Žatecky (AZA) Ernährungsmedizin: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. med. Barbara Elke (BE) Gynäkologie:. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bärbel Hirrle (Hir) Pädiatrie:. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dipl. chem. Petra Stölting (PS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. med. Christine Mücke (Mü) Psychiatrie + Neurologie:. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eidg. dipl. pharm. Valérie Herzog (VH) Sekretariat Sandra Sauter Tel. +41 (0)52-675 50 60 E-Mail: s.sauter@rosenfluh.ch Verkauf Markus Süess Tel. +41 (0)79-514 42 85 E-Mail: m.sueess@rosenfluh.ch Anzeigenregie Manuela Behr Tel. +41 (0)52-675 50 52 E-Mail: m.behr@rosenfluh.ch Produktion Regina Hauser E-Mail: hauser@rosenfluh.ch Druck und Versand Jordi AG, 3123 Belp Abonnemente, Adressänderungen Rosenfluh Publikationen AG Schweizersbildstrasse 47 8200 Schaffhausen Tel: +41 (0)52-675 50 60 E Mail: info@rosenfluh.ch Abonnementspreise (zuzüglich MwSt.) Erscheinungsweise: 21-mal jährlich Jahresabonnement: CHF 172.– Europa: CHF 340.– übriges Ausland: CHF 400.– Schnupperabonnement (nur CH): CHF 35.– Studentenabonnement (nur CH): CHF 155.– Einzelhefte: CHF 10.– plus Porto Die Bezugsdauer verlängert sich ohne schriftliche Kündigung bis Oktober um ein Jahr. 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Mit der Einsendung oder anderweitigen Überlassung eines Manuskripts oder einer Abbildung zur Publikat ion erklärt sich die Autorenschaft damit einverstanden, dass der entsprechende Beitrag oder die entsprechende Abbildung ganz oder teilweise in allen Publikation en und elektronischen Medien der Verlagsgruppe veröffentlicht werden darf. 114. Jahrgang; ISSN 0004-2897 ARS MEDICI online: www.arsmedici.ch ARS MEDICI 15+16 | 2024 367 EGb 761®1 Sie kann immer noch alleine ihren Garten pflegen. Die Demenz hinausschieben.1–6 NeueKoTmepbaokktatanb®lette alte Tablette neue Tablette 240 mg 240 mg • 1× 240 mg am Tag1 • Kassenzulässig, Liste B 1,7 • Eigener Ginkgo-Anbau8 Gekürzte Fachinformation Tebokan® 120 / Tebokan® 240: Z: 1 FT enthält 120 mg bzw. 240 mg Ginkgo-biloba-Extrakt (EGb 761®) (DEV 35–67:1), quantifiziert auf 26,4–32,4 mg bzw. 52,8–64,8 mg Flavongly- koside und 6,48–7,92 mg bzw. 12,96–15,84 mg Terpenlactone (Ginkgolide, Bilobalid). Auszugsmittel: Aceton 60% m/m. I: Symptomatische Behandlung von Einbussen der mentalen Leistungsfähigkeit. Adjuvans bei ausgeschöpftem Gehtraining bei Claudicatio intermittens. Bei Vertigo und Tinnitus. D: Morgens und abends 1 FT (120 mg) bzw. 1x täglich 1 FT (240 mg). KI: Überempfindlichkeit gegen Ginkgo-biloba-Extrakte. UEW: Sehr selten leichte Magen-Darm-Beschwerden, Kopfschmerzen oder allergische Hautreaktionen. I: Eine Wechselwirkung mit Arzneimitteln, die die Blutgerinnung hemmen, kann nicht ausgeschlossen wer- den. P: 90 und 120 FT (120 mg) bzw. 30, 60 und 90 FT (240 mg). VK: B, kassenzulässig. ZI: Schwabe Pharma AG, Küssnacht am Rigi. Weitere Informationen siehe www.swissmedicinfo.ch. Referenzen: 1. Fachinformation Tebokan®; https://www.swissmedicinfo.ch/; Stand: April 2022. 2. Kaschel R. et al., Ginkgo biloba: specificity of neuropsychological improvement – a selective review in search of differen- tial effects. Hum. Psychopharmacol Clin Exp 2009;24:345–370. 3. 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