Transkript
Schmerzbehandlung bei Kindern
Auszug aus den Leitlinien des Ostschweizer Kinderspitals, St. Gallen
FORTBILDUNG
Dass Kinder, unabhängig vom Alter, Schmerzen empfinden, ist heute allgemein anerkannt. Dennoch werden Schmerzzustände bei den kleinen Patienten oft weniger effektiv behandelt als bei Erwachsenen, da sich die Intensität kindlicher Schmerzen nicht immer so leicht ermitteln lässt. Die Beurteilung erfolgt anhand von Verhaltens-Scores beziehungsweise visueller Analogskalen, die bei Kindern über 4 Jahren zum Einsatz kommen.
CLAUDIA REINKE
■ Schmerzintensität ■ zeitlicher Ablauf ■ lindernde oder verstärkende Faktoren ■ Begleitsymptome ■ Begleitumstände.
Messung der Schmerzintensität Fremdbeurteilung Bei Kindern bis zum Alter von 4 Jahren muss die Schmerzintensität durch die Pflegenden beurteilt werden, da sie in der Regel noch nicht in der Lage sind, selbst darüber Auskunft zu geben. Im Ostschweizer Kinderspital geschieht dies – gemäss den Leitlinien – generell durch den Einsatz des COMFORT-Verhaltens-Scores (Tabelle 1), der sich bereits auf der IPS bei beatmeten Patienten bewährt hat. Bei einer Punktzahl von ≥ 17 ist eine schmerztherapeutische Intervention angezeigt.
In der Einführung zu den Leitlinien zur Schmerzbehandlung für Pflegende und Ärzte des Ostschweizer Kinderspitals St. Gallen, die neben der kindgerechten Ermittlung der Schmerzintensität sowie den Stufenplänen zur Analgesie auch Dosierungsempfehlungen der verschiedenen Analgetika enthalten, betonen die Verfasser, Dr. med. Markus Oberhauser, Leitender Arzt der Kinderanästhesie, und Dr. med. Jeannette Greiner, Leitende Ärztin der Onkologie/Hämatologie, dass Schmerzen bei Kindern möglichst frühzeitig und konsequent behandelt werden sollten, denn oberstes Ziel sei es, die Patienten von ihren Schmerzen zu befreien, und zwar unabhängig davon, ob diese körperliche oder seelische Ursachen haben. Um dies möglichst optimal zu erreichen, ist ein gutes Teamwork zwischen Patienten, Eltern beziehungsweise Bezugspersonen und dem Behandlungsteam im Kinderspital erforderlich.
Schmerzanamnese Vor der Behandlung wird eine Schmerzanamnese durchgeführt, die folgende Punkte klären soll: ■ gegenwärtige Schmerzen ■ zu erwartende Schmerzen ■ Schmerzerfahrungen ■ Umgang mit Schmerzen ■ Dimensionen des Schmerzes ■ Lokalisation ■ Schmerzqualität
Selbstbeurteilung Kinder, die über 4 Jahre alt sind, können die Schmerzintensität anhand einer Smiley-(SMS-) oder visuellen Analogskala selbst abschätzen (Abbildung). Mit dieser Skala lassen sich Schmerzen quantifizieren, wobei das Schmerzniveau bei jedem Kontrollgang protokolliert werden sollte. Ab einem Wert > 4 ist eine schmerztherapeutische Intervention erforderlich. Der ermittelte Schmerzscore ist jeweils routinemässig im Pflegebericht zu protokollieren.
Grundlagen der Schmerztherapie Schmerzen sollen gemäss den Leitlinien so früh wie möglich und ihrer Intensität angemessen behandelt werden, sodass der Patient ein rasches und spürbares Nachlassen des Schmerzes empfindet. Dazu sollte das Therapeutikum der Wahl möglichst in angenehmer Applikationsform und einfacher Dosierung gegeben werden, um grösstmögliche Sicherheit und Verträglichkeit zu gewährleisten. Bei der Verabreichung ist auf Interaktionen mit bereits verabreichten Schmerz- oder Beruhigungsmitteln sowie auf Kontraindikationen zu achten. Anhand der Painscores sollte die Wirkung der Medikation überprüft werden. Durch eine präemptive Analgesie soll versucht werden, eine zu erwartende Schmerzempfindung – beispielsweise vor einem operativen Eingriff – quasi vorbeugend zu reduzieren, also bevor der Schmerzreiz (z.B. durch den chirurgischen Stimulus) ausgelöst wird. Nach erfolgtem Eingriff wird die
ARS MEDICI 1 ■ 2010 31
FORTBILDUNG
Tabelle 1: COMFORT-Verhaltens-Score
Aufmerksamkeit
Ruhe und Unruhe
Atmung (beatmet)
tiefer Schlaf (geschlossene Augen, keine Reaktion auf Änderungen der Umgebung)
ruhig (Kind erscheint gelassen und
friedlich)
keine Spontanatmung
leichter Schlaf (Augen meist geschlossen, vereinzelte Reaktionen)
leicht unruhig (ängstlich)
Spontanatmung und mechanische
Beatmung
schläfrig (Kind schliesst häufig die
Augen, geringe Reaktion auf die
Umgebung)
unruhig (Kind erscheint erregt, ängstlich, aber beruhigbar)
Unruhe oder Widerstand am
Respirator
Atmung/Schreien (Spontanatmung)
ruhige Atmung, kein Schreien
Bewegung
keine Bewegung
Muskeltonus
«kein» Muskeltonus
Gesichtsspannung
keine Gesichtsmuskulaturspannung
gelegentliches Schluchzen oder
Stöhnen
gelegentliche (3 oder weniger leichte Bewegungen)
reduzierter Muskeltonus, geringerer Widerstand als normal
normale Gesichtsspannung
Jammern (monoton)
häufigere (> 3) leichte Bewegungen
normaler Muskeltonus
Spannung in wenigen Gesichts-
muskeln (nicht dauerhaft)
wach und aufmerksam (Reaktion auf die Umgebung)
wach und überaufmerksam
(übertriebene Reaktionen auf die
Umgebung)
sehr unruhig (Kind erscheint sehr erregt, schwer zu beruhigen)
aktive Atmung gegen Respirator oder regelmässiges
Husten
Schreien
kräftige Bewegungen der Extremitäten
erhöhter Muskeltonus und
Flexion von Fingern und Zehen
Spannung der gesamten Gesichtsmuskeln (dauerhaft)
Panik (schwere Erregung ohne Beruhigbarkeit)
Kampf gegen Respirator
Kreischen/Heulen oder schrilles Schreien
kräftige Bewegungen einschliesslich Rumpf und Kopf
ausgeprägte Muskelverspannung
und Flexion von Fingern und Zehen
Gesichtsmuskulatur verzerrt und Grimassen
Schmerztherapie ohne Unterbrechung je nach zu erwartender Schmerzintensität fortgeführt.
Schmerzbehandlung Um eine optimale, nebenwirkungsarme Schmerztherapie zu erreichen, wird eine Kombination verschiedener Techniken und Medikamente mit unterschiedlichen Wirkmechanismen und/oder Synergien eingesetzt. Eine Monotherapie ist erfahrungsgemäss schwächer wirksam oder nebenwirkungsreicher. Die kindliche Schmerztherapie beruht im Wesentlichen auf drei Säulen: ■ Nichtopioide Analgetika: Paracetamol und NSAR (Diclofe-
nac, Mefenaminsäure, Metamizol) ■ Opioide (Nalbuphin, Tramadol) ■ Lokalanästhetika. Je nach zu erwartender Schmerzintensität wird – wie nachfolgend aufgezeigt – ein stufenweiser Einsatz der Schmerzmittel durchgeführt:
Leichte bis mittelstarke Schmerzen (Basisanalgetika) 1. Diclofenac (Voltaren®), bevorzugt bei Knochenschmerzen 2. Paracetamol (Panadol®, Ben-u-ron®) 3. Paracetamol plus Codein (Co-Becetamol®), bevorzugt bei
ORL- und Weichteileingriffen 4. Mefenaminsäure (Mefenacid®, Ponstan®)
Starke Schmerzen 1. Basisanalgetika (wie oben) 2. Lokalanästhesie (Infiltration oder kaudal) 3. Nalbuphin (Nubain®), wenn kein zusätzlicher Morphinbe-
darf zu erwarten ist oder 3. Metamizol (Novalgin®), wenn eventuell zusätzlich Morphin erforderlich werden könnte (Novalgin und Morphin sind gut kombinierbar) oder 3. Tramal (Tramadol-Mepha®)
Abbildung: Smiley-(SMS-) oder visuelle Analogskala.
Sehr starke Schmerzen 1. Basisanalgetikum 2. Lokalanästhesie 3. Novalgin® 4. Morphin® i.v. als Bolus, PCA oder Dauertropf
32 ARS MEDICI 1 ■ 2010
SCHMERZBEHANDLUNG BEI KINDERN
Empfohlene Dosierungen der Medikamente 1. Diclofenac (Suppositorien, Tabletten)
Dosierung: 1–2 mg/kg KG Maximale Tagesdosis: 3 mg/kg KG/Tag (Tabelle 2).
Tabelle 2: Diclofenac (Voltaren®)
unter 5 kg ab 5—10 kg 11—20 kg 21—50 kg 51—100 kg
kein Voltaren, sondern Paracetamol 12,5 mg 25 mg 50 mg 100 mg
Bei Patienten unter 5 kg KG, bei ORL-Eingriffen, hämorrhagischer Diathese oder Nierenleiden wird Paracetamol (Ben-u-ron®) bzw. Paracetamol + Codein (Co-Becetamol®) gegeben.
2. Paracetamol (Suppositorien 60 mg, 125 mg, 250 mg, 500 mg, 1000 mg)
3. Paracetamol plus Codein (Suppositorien 250 mg, 500 mg, 1000 mg) Ladedosis: 35–45 mg/kg KG Weitere Dosen: 10–20 mg/kg KG Maximale Tagesdosis: 100 mg/kg KG (Tabelle 3).
Tabelle 3: Paracetamol + Codein (Co-Becetamol®)
Gewicht bis 3 kg 3—6 kg 7—12 kg 13—20 kg 21—30 kg 31—50 kg > 50 kg
1. Dosis 60 mg 125 mg 250 mg 500 mg 1000 mg 1500 mg 2000 mg
Repetition 6–8-stdl. 60 mg 125 mg 250 mg 500 mg 500 mg 1000 mg 1000 mg
Ist eine rektale Gabe von Paracetamol nicht möglich, kann der Wirkstoff auch
in anderer Form verabreicht werden: ■ Becetamol® Tropfen für Säuglinge und Kleinkinder 1 gtt ≈ 5 mg ■ Dafalgan® Brause 500 und 1000 mg ■ Dafalgan® Sirup 1 ml ≈ 30 mg Paracetamol ■ Perfalgan® Kurzinfusion.
4. Mefenaminsäure (Suppositorien à 125 mg; Kapseln à 250 mg; Tabletten à 500 mg; Suspension [5 ml enthalten 50 mg]) Dosierung: 10–20 mg/kg KG, 6-, 8-, 12-stündlich.
Tabelle 4: Mefenaminsäure (Mefenacid®, Ponstan®)
5—10 kg 11—15 kg 16—25 kg 26—40 kg ≥ 40 kg
125 mg 125 mg 125 mg 500 mg 500 mg
12-stdl. 8-stdl. 6-stdl. 8-stdl. 6-stdl.
Anwendungseinschränkung: Magenulzera, Blutgerinnungsstörungen, Hämatopoesestörungen, Leber- oder Nierenfunktionsstörungen. Zur maximalen Tagesdosis gibt es bis jetzt keine Angaben (Tabelle 4). 5. Metamizol (Tropfen, Injektionslösung, Suppositorien) Nicht unter 5 kg KG Maximale Tagesdosis: 75 mg/kg KG Anwendungseinschränkungen: eingeschränkte Knochenmarkfunktion, Agranulozytose, Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel, hepatische Porphyrie (Tabelle 5).
Tabelle 5: Metamizol (Novalgin®)
Novalgin® Tropfen (1 ml ≈ 500 mg) 1 Tropfen ≈ 25 mg
Dosierung
Novalgin® Suppositorium 1000 mg
Dosierung Injektionslösung: Einzeldosis
Dosierung Injektionslösung: Dauertherapie
1/2 Tropfen/kg KG alle 6 h
ab 50 kg KG 1 Supp. alle 6—8 h 20—40 mg/kg KG langsam i.v.
20 mg/kg langsam i.v. alle 8 h
6. Nalbuphin Maximale Tagesdosis: 1,8 mg/kg KG Begrenzte Wirkintensität: bei schweren Schmerzen «ceiling effect» Cave: nicht mit Morphin® kombinierbar Cave: nicht präoperativ verabreichen wegen Antagonisierung von Opiaten Dosierung: 0,1–0,3 mg/kg KG i.v. oder i.m. in der Regel alle 4 Stunden.
7. Tramadol-HCl Maximale Tagesdosis: 8 mg/kg KG (2 mg/kg KG alle 8 h) (Tabelle 6).
Tabelle 6: Tramadol-HCl (Tramadol-Mepha®)
Tramadol-Mepha® Tropfen Tramadol-Mepha® 100 Injektionslösung
1/2 Tropfen/kg KG 1—2 mg/kg KG i.v. sehr langsame Injektion oder Kurzinfusion (Cave: Erbrechen)
Zusammenfassung: Claudia Reinke
Quelle: Dr. med. Markus Oberhauser, Dr. med. Jeannette Greiner: Leitlinien zur Schmerzbehandlung für Pflegende und Ärzte; Ostschweizer Kinderspital St. Gallen, 2006.
ARS MEDICI 1 ■ 2010 33