Transkript
FORTBILDUNG
Behalten Sie die Füsse im Auge!
Diabetisches Fusssyndrom frühzeitig erkennen und behandeln
Das diabetische Fusssyndrom gehört zu den bedroh-
lichsten Spätschäden bei Diabetes mellitus. Entschei-
dend sind die frühzeitige Identifikation von Patienten
mit erhöhtem Risiko für Fusskomplikationen, die Ver-
mittlung einer adäquaten Schulung und die regelmäs-
sige Inspektion der Füsse. Fussläsionen, auch klei-
nere Verletzungen, sollten ohne Zeitverlust einer adä-
quaten Diagnostik und Behandlung zugeführt werden.
Hier kommt dem Hausarzt eine entscheidende Rolle
in Diagnostik, Initialtherapie und Weichenstellung für
das weitere Vorgehen zu.
OSWALD PLONER
Fussprobleme sind eine gravierende Folgeerscheinung bei Diabetes mellitus. Das diabetische Fusssyndrom ist definiert als Auftreten eines Ulkus oder einer Gangrän aufgrund eines Diabetes mellitus. Daten von Disease-Management-Programmen aus dem Jahre 2006 zeigen, dass Patienten mit Diabetes bereits bei Diagnosestellung in 0,6 Prozent der Fälle ein Fusssyndrom aufweisen. Die Prävalenz steigt auf 4,9 Prozent nach zehn Jahren (Tabelle 1) (1). Bis zu 10 Prozent aller Diabetiker entwickeln im Verlauf ihrer Erkrankung ein Fussgeschwür. Daraus resultiert im schlimmsten Falle eine Amputation, die bei Diabetikern bis zu 50-mal häufiger erfolgt als bei Nicht-Diabetikern. Dies gilt es durch frühzeitige Diagnostik und zeitgerechte, adäquate Behandlung von Fussproblemen zu verhindern (2, 4).
Ätiologie und Pathophysiologie Die Ätiologie des diabetischen Fusssyndroms ist multifaktoriell. In 50 bis 60 Prozent der Fälle besteht eine periphere Polyneuropathie (PNP) als alleinige Ursache, 10 bis 20 Prozent
der Patienten haben einzig eine periphere arterielle Verschlusskrankheit (PAVK), bei 20 bis 30 Prozent der Patienten liegt beides vor (2). Die periphere Polyneuropathie kann das sensorische, motorische und autonome Nervensystem betreffen. Die sensorische Störung äussert sich einerseits in Form einer «Plus-Symptomatik» mit Parästhesien und Dysästhesien, die besonders in Ruhe und nachts auftreten und einen ausgesprochen quälenden Charakter haben können. Andererseits wird eine «MinusSymptomatik» beobachtet, die mit einem Verlust der Sensibilität einhergeht. Der Betroffene hat keinerlei Gefühl mehr im Bereich der Füsse. Berührung, Druck, Temperatur und Schmerzen werden nicht mehr wahrgenommen. Vor allem Letzteres birgt grosse Gefahren in sich, da Verletzungen an den Füssen nicht mehr schmerzen und verharmlost werden. Wird dadurch eine Behandlung verzögert, drohen komplizierend bakterielle Infektionen. Diese können durch die Beeinträchtigung der Infektabwehr bei Diabetes mellitus innerhalb kurzer Zeit zu einer lebensbedrohlichen Sepsis eskalieren. Die Erkrankung der motorischen Nerven führt zu einer Atrophie der kleinen Fussmuskeln und nachfolgend zu Störungen des muskulären Gleichgewichts. Dadurch entstehen typische Fussdeformitäten wie Hammerzehen und Krallenzehen (Abbildung 1). An diesen deformierten Zehen und vor allem im Bereich des Vorfusses kommt es
Merksätze
■ Aufgrund der peripheren Polyneuropathie werden Verletzungen der Füsse von den Patienten oft erst in einem späten Stadium bemerkt.
■ Die Sensibilität testet man mittels Vibrationsprüfung (Stimmgabel nach Rydel-Seiffer) oder 10 g Nylonfilament (Semmes-Weinstein).
■ Die Diagnose der dem diabetischen Fusssyndrom zugrunde liegenden Störung (Neuropathie und/oder PAVK) ist entscheidend für die Therapie.
■ Rein neuropathische Ulzera haben unter Druckentlastung und Infektbehandlung eine gute Heilungsprognose.
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B E H A LT E N S I E D I E F Ü S S E I M AU G E !
Tabelle 1: Prävalenz diabetisches Fusssyndrom (1)
Begleitkrankheit
PAVK Diabetische Neuropathie Diabetes mellitus Amputation
% zu Beginn
4,1 4,5 0,6 0,3
% nach > 10 J.
12,4 23,1 4,9 1,8
Tabelle 2: Häufigkeit der Fussuntersuchung Tabelle 2: in Abhängigkeit vom Risikoprofil (4)
Risikoprofil ■ keine Neuropathie ■ Neuropathie ■ Neuropathie ■ u./o. PAVK ■ u./o. Fussdeformität ■ früheres Ulkus
Untersuchung einmal jährlich alle sechs Monate alle drei Monate
alle 1—3 Monate
Abbildung 1: Krallenzehe mit Druckläsion
allen Patienten mit Diabetes mellitus in regelmässigen Abständen einer Untersuchung. Die Häufigkeit richtet sich nach dem Gefährdungsgrad des Patienten. Empfehlungen hierzu sind von den Fachgesellschaften in deren Leitlinien formuliert (Tabelle 2) (4). Zu achten ist dabei unter anderem auf die Hautbeschaffenheit, Verletzungen (auch zwischen den Zehen), Entzündungen, Nervenfunktion, Durchblutung und die Schuhe (Tabelle 3).
zur Zunahme der Belastung. Die Haut im Bereich dieser lokal gesteigerten Druckbelastung reagiert mit überrschiessender Kallusbildung, es entstehen derbe Schwielen. Beim Gehen treten Scherkräfte auf, wodurch das Gewebe unter der Schwiele reisst und es zur Einblutung in Form eines Hämatoms kommt. Vom Patienten wird auch dieser Prozess aufgrund der fehlenden Schmerzempfindung nicht wahrgenommen. Im weiteren Verlauf perforiert die Hornschwiele, und es resultiert das Fussgeschwür in Form des «Malum perforans», meist an typischer Stelle im Bereich des Vorfussballens (Abbildung 2). Nicht selten wird dieses Geschwür vom Betroffenen erst durch Blutflecken in den Strümpfen bemerkt. Die Erkrankung des autonomen Nervensystems bewirkt eine Fehlregulation des Gefässtonus mit Vasodilatation und Öffnung von arterio-venösen Shunts. Dadurch resultiert ein warmer, rosig erscheinender Fuss. Die Schweisssekretion ist reduziert, die Haut wird trocken und spröde, sie verliert an Elastizität. Dies begünstigt wiederum das Auftreten von Fissuren und Rhagaden als Eintrittspforte für Bakterien. Die periphere arterielle Verschlusskrankheit führt zur Verminderung der Substratversorgung in der Peripherie, vor allem durch Stenosierungen der Gefässe im Bereich der Unterschenkel. Der Sauerstoffmangel im Gewebe verschlechtert die Heilungschancen und begünstigt die bakterielle Besiedlung.
Fussuntersuchung Zunächst kommt es darauf an, Patienten mit Risiken für ein diabetisches Fusssyndrom zu erkennen sowie bei bestehenden Fussgeschwüren die Genese zu klären. Die Füsse bedürfen bei
Tabelle 3: Fussuntersuchung Tabelle 2: bei Diabetes mellitus
■ Hautbeschaffenheit ■ Deformierungen ■ Bewegungsverlust ■ Nervenschädigung ■ Durchblutungsstörungen ■ Entzündungen ■ Verletzungen ■ passendes Schuhwerk
Ein Griff in die Schuhe gibt Aufschluss über Unebenheiten oder auch Gegenstände im Schuh, die vom Patienten nicht bemerkt werden und Druckstellen verursachen. Goldstandard zur Beurteilung der Nervenfunktion ist die Vibrationsprüfung mit der Stimmgabel nach Rydel-Seiffer. Ein pathologisches Testergebnis (unter 4/8 bei Patienten u¨ber 60 Jahre) belegt die sensible Polyneuropathie. Orientierend kann das Berührungsempfinden mit dem 10-g-Nylonfilament nach Semmes-Weinstein am Vorfussballen überprüft werden. Die Prüfung des Temperaturempfindens kann mit Gegenständen unterschiedlicher Oberflächentemperatur oder mit speziellen Testgeräten (z.B. Tip-Therm-Sonde) erfolgen. Auch die Prüfung des Achillessehnenreflexes gehört mit zur Beurteilung der Nervenfunktion, der im Falle einer Neuropathie nicht mehr auslösbar ist.
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arteriellen Durchblutungsstörung zu fahnden ist. Bei Hinweisen auf eine Einschränkung der Perfusion muss eine angiologische Abklärung mittels Angiografie erfolgen. Die Differenzialdiagnose der zugrunde liegenden Störung ist entscheidend für das therapeutische Vorgehen (Tabelle 4).
Liegt eine Infektion vor? Rötung und Schwellung der Weichteile in der Umgebung des Ulkus deuten auf eine komplizierende bakterielle Infektion hin. Entzündungszeichen im Labor können fehlen, eine Entgleisung der Blutzuckerwerte kann einziger Hinweis auf den bestehenden Infekt sein. Eine Röntgenaufnahme gibt Aufschluss über eine mögliche knöcherne Beteiligung. Stösst man bei Sondierung der Wunde auf Knochen («probe-to-bone»), so ist eine bakterielle Besiedlung des Knochens anzunehmen.
Therapie Wichtigste Basismassnahme in der Therapie bei diabetischen Fussläsionen ist die Optimierung der Blutzuckereinstellung mit einem HbA1c-Zielwert unter 6,5 Prozent (6). Dies führt letztlich zu einer Verbesserung der Immunkompetenz und der Rheologie.
Abbildung 2: Typisches «Mal perforans» bei Druckbelastung
Tabelle 4: Differenzialdiagnose Tabelle 2: Neuropathie — PAVK
Neuropathisch Läsion schmerzlos Läsion an Druckbelastung Fuss warm, rosig Pulse tastbar Vibration reduziert ASR fehlt Beschwerden in Ruhe
Ischämisch Läsion schmerzhaft Läsion an Akren Fuss kalt, livide Pulse nicht tastbar Vibration normal ASR vorhanden Beschwerden unter Belastung
Immer nach PAVK fahnden Die arterielle Perfusion wird durch Tasten der Fusspulse an typischer Stelle (Arteria dorsalis pedis, Arteria tibialis posterior) beurteilt und gegebenenfalls durch die dopplersonografische Druckmessung mit Bestimmung des Quotienten aus Knöchel- und Oberarmdruck (Ankle-Brachial-Index, ABI) ergänzt. Der fu¨r die arterielle Durchblutungsstörung typische Belastungsschmerz im Sinne der Claudicatio intermittens fehlt beim Diabetiker mit gestörter Schmerzwahrnehmung. Die Anamnese kann somit irrefu¨hrend sein und zu einer verspäteten Diagnosestellung führen. Auch ist in diesem Falle die Stadieneinteilung der PAVK nach Fontaine nicht verwertbar. Für den Heilungsverlauf entscheidend ist eine ausreichende Gewebsperfusion, sodass immer nach dem Vorliegen einer
Schulungsinhalte Die Diabetikerschulung ist eine der wichtigsten Massnahmen zur Vermeidung von Fussläsionen und damit der Reduktion von Amputationen. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Erlernen der Fussselbstuntersuchung und der Kenntnis einer verletzungsfreien Fusspflege zu (4, 5). Auch Informationen bezu¨glich geeigneter Schuhe sind integraler Bestandteil der Schulung. Patienten mit Gefu¨hlsstörungen kaufen häufig zu kleine Schuhe, da sie nur dann das Gefühl haben, überhaupt einen Schuh zu tragen. Bereits dadurch sind Druckstellen und Hautläsionen vorprogrammiert.
DIRAS-Prinzip Vermeidung und Beseitigung von Druckstellen und Schwielen sowie Schutz vor Verletzungen sind oberstes Prinzip. Es muss fu¨r diese Patienten selbstverständlich werden, auch bei kleinen, nicht schmerzhaften Läsionen an den Füssen ihren Arzt aufzusuchen. Beim diabetischen Fusssyndrom gibt es keine «Bagatellwunden». Die eigentliche Behandlung des Fussulkus erfolgt nach dem DIRAS-Prinzip: D Druckentlastung I Infektbekämpfung R Revaskularisation A Amputation S Schuhversorgung
Druck wegnehmen Druckentlastung der meist an druckbelasteten Stellen lokalisierten Läsionen ist unabdingbare Voraussetzung für eine Abheilung. Dies kann durch spezielle Entlastungsschuhe, Orthesen, Gehstützen, Rollstuhl oder im Einzelfall auch durch absolute Bettruhe erfolgen.
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Tabelle 5: Antibiotikatherapie bei infiziertem diabetischem Fussulkus
Schweregrad
Leichte Infektion Therapie p.o.
Keime
Gram+ Kokken (Gram- Stäbchen)
Schwere Infektion Therapie i.v., dann p.o.
Lebensbedrohlich Therapie i.v.
Gram+ Kokken Gram- Stäbchen (Anaerobier)
Gram+ Kokken Gram- Stäbchen Anaerobier
Therapie
Staphylokokken-Penicillin Cephalosporin 1. Generation Amoxicillin/Clavulansäure Levofloxacin
Aminopenicillin/Betalaktamase-Inhibitor Cephalosporin 2./3. Generation Fluorochinolon + Clindamycin
Carbapenem Clindamycin + Aminoglykosid
Infektionen behandeln Die antibiotische Behandlung bei Infektion erfolgt zunächst kalkuliert in Abhängigkeit von der Schwere des Infekts oral oder intravenös, wobei initial Antibiotika mit breitem Wirkungsspektrum zum Einsatz kommen. Im Verlauf kann je nach Ergebnis der bakteriologischen Untersuchung eines Wundabstrichs beziehungsweise einer Gewebsprobe aus der Tiefe die Antibiotikaauswahl gezielt erfolgen (Tabelle 5) (3). Rein neuropathische Ulzera haben unter konsequenter Druckentlastung und Infektbehandlung eine gute Heilungsprognose. Bei zusätzlich vorliegender arterieller Durchblutungsstörung ist eine Revaskularisation durch endovesikale oder operative Massnahmen erforderlich, um die Voraussetzungen für eine Abheilung zu schaffen. Auch vor einer angedachten Amputation muss die Möglichkeit einer Verbesserung der Durchblutungsverhältnisse geprüft werden. Amputationen sind wenn immer möglich zu vermeiden. Nach Abheilung der Ulzeration ist eine adäquate Schuhversorgung notwendig. Beim Risikofuss und nach abgeheiltem Ulkus sind Konfektionsschuhe mit adaptierter Fussbettung ausreichend. Bei Fussdeformitäten
werden eigens angefertigte orthopädische Massschuhe benötigt. Hier ist die enge Zusammenarbeit mit einem Orthopädieschuhmacher, der Erfahrungen in der Versorgung diabetischer Füsse hat, wichtig. Nach abgeheiltem Fussulkus haben Patienten eine hohe Rezidivrate von 70 Prozent innerhalb von fünf Jahren (2). Eine regelmässige Nachsorge ist somit zwingend.
Literatur unter www.allgemeinarzt-online.de/downloads
Dr. med. Oswald Ploner Internist/Endokrinologe/Diabetologe
Diakonie-Klinikum Stuttgart D-70176 Stuttgart
Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 12/2009. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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