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BERICHT
Diabetes mellitus im Alter
Hypoglykämien vermeiden ist wichtiger als eine rigide Blutzuckereinstellung
Aufgrund der demografischen Entwicklung ist von einer deutlichen Zunahme älterer Menschen mit Diabetes mellitus auszugehen. Wie auf einem Symposium im Rahmen der MEDICA Education Conference deutlich wurde, spielen altersbedingte Veränderungen bei der optimalen Einstellung eine wichtige Rolle.
Claudia Borchard-Tuch
Eine optimale Behandlung müsse den Bedürfnissen des Patienten entsprechen: «Nicht dem Leben mehr Jahre geben, sondern den Jahren mehr Leben», forderte Dr. med. Michael Eckhard, Bad Nauheim. Individuelle Therapieziele unterstützen den Arzt bei der Entscheidung, welche Massnahme bei welchem Patienten sinnvoll ist.
Keine Hypoglykämie! Eine durch Unterzuckerung verursachte Hilflosigkeit wird von den Patienten als besonders bedrohlich empfunden. Hypoglykämien sind bei älteren Patienten weitverbreitet und bleiben häufig unerkannt. Ältere Typ1-Diabetiker (Alter über 60 Jahre)
MERKSÄTZE
O Die optimale Behandlung ist den Bedürfnissen des älteren Patienten individuell anzupassen.
O Ein HbA1c-Wert von 7 bis 7,5 ist bei älteren Diabetikern akzeptabel.
O Hypoglykämien sind bei älteren Patienten ein besonders bedeutendes Risiko.
O Die Studienlage zu den neueren Antidiabetika ist bei geriatrischen Patienten zurzeit noch unzulänglich.
haben ein fast doppelt so hohes Risiko für schwere Hypoglykämien. Folgen sind Stürze, kognitive Beeinträchtigungen und Krankenhausaufenthalte. Ein erhöhtes Risiko besteht bei Polypharmazie, Unterernährung, Pflegeheimaufenthalt oder nach Spitalentlassung. Auch steigern Hypoglykämien das Demenzrisiko, und bei Demenz besteht eine erhöhte Hypoglykämiegefahr. Die Abwägung zwischen den Risiken hoher Blutzucker einerseits und Hypoglykämie andererseits spieglt sich in neuen Empfehlungen zum HbA1c-Wert wider (1). Noch vor wenigen Jahren wurde befürwortet, einen möglichst niedrigen HbA1c-Wert von < 7 Prozent oder < 6,5 Prozent bei allen Patienten anzustreben, unabhängig vom Patientenalter, der Diabetesdauer und dem Vorliegen von Gefässkomplikationen. Diese Empfehlung wurde von einem internationalen Expertenkomitee heftig kritisiert (2), was schliesslich zu einem Paradigmenwechsel in den Empfehlungen des ADA-EASD-Konsensus 2012 führte. Nun wird eine individualisierte patientenzentrierte Diabetestherapie empfohlen. Ältere Patienten mit vorbestehenden kardiovaskulären Komplikationen oder eingeschränkter Nierenfunktion sollten hinsichtlich der Diabeteseinstellung weniger scharf titriert werden, wobei HbA1c-Werte von 7 bis 7,5 Prozent in vielen Fällen akzeptabel sein dürften. Erhalt der Hirnleistungsfähigkeit Im Vergleich zu Nicht-Diabetikern haben Diabetiker ein um 50 Prozent höheres relatives Risiko für eine Alzheimer-Demenz. Ein Drittel der älteren Diabetiker hat kognitive Beeinträchtigungen. Infolgedessen besteht die Gefahr, dass die Patienten ihre Medikamente nicht korrekt einnehmen und die Blutzuckermessungen unvollständig sind. Eine schlechtere Blutzuckereinstellung wiederum verstärkt die kognitiven Beeinträchtigungen. Ältere Diabetiker mit kognitiven Beeinträchtigungen haben ein 3-fach erhöhtes Risiko für schwere Hypoglykämien. Erhalt der Selbstständigkeit Oft muss der Patient schmerzlich erfahren, dass ihm das entgleitet, was er vor Jahren gut im Griff hatte. Der Arzt muss abklären, ob der Patient die Blutzuckerkontrollen und die Insulinapplikationen noch sicher selbst durchführen kann. Blutzuckermessgeräte mit grossem Display, grossen Tasten und einfachem Teststreifen sollten bevorzugt werden. Mithilfe des Geldzähltests nach Nikolaus kann festgestellt werden, inwieweit der Patient mit einer Selbstinjektionstherapie zurechtkommen kann. Bei diesem Test, der neben Feinmotorik auch Nahvisus, visuokonstruktive und andere kognitive Fähigkeiten überprüft, wird der Patient aufgefordert, den in einem Portemonnaie befindlichen definierten Geldbetrag zu zählen. Hierzu sollte der Patient in weniger als 45 Sekunden imstande sein (3). Angehörige und Pflegedienst sollten mit eingebunden werden. Auch Physiotherapie, Ergotherapie oder Schmerztherapie können von Nutzen sein. «So viel Bewegung wie möglich verhindert die Progression der Erkrankung», erklärte Prof. Dr. med. Schwarz, Dresden: 132 ARS MEDICI 3 I 2015 BERICHT «10 000 Schritte täglich ab dem 25. Lebensjahr verhindern nahezu jede chronische Erkrankung. 1000 zusätzliche Schritte reduzieren die postprandiale Glukose um 1,5 mmol/l.» Antidiabetika für den älteren Patienten «Die Wahl des geeigneten Antidiabetikums muss sorgfältig erfolgen», erklärte Dr. med. Günther Schnauder, Tübingen. Vor dem Hintergrund derzeit eher moderater Therapieziele gilt es, bei der Auswahl der antidiabetischen Therapie für den einzelnen Patienten folgende Fragen zu klären (3): O Was kann/will der Patient? O Besteht eine chronische Niereninsuf- fizienz oder ein hohes Risiko der Nierenfunktionsverschlechterung? O Wie gross ist die Hypoglykämiegefahr? O Besteht eine Hypoglykämiewahrnehmungsstörung? O Was ist der Blutzucker-/HbA1c-Zielwert? O Wie wahrscheinlich sind Arzneimittelinteraktionen? «Die Studienlage der neuen Antidiabetika ist bei geriatrischen Patienten zurzeit noch unzulänglich», fasste Schnauder zusammen. Dies erschwere die Entscheidung. Hilfreich sei ein geriatrisches Basis-Assessment. Die betreuenden Personen sollten zudem für Risiken sensibilisiert werden. DPP-4-Inhibitoren Dipeptidylpeptidase-(DPP-)4-Inhibitoren hemmen den Abbau des Inkretinhormons GLP-1 (glucagon-like peptide 1) und steigern so dessen Konzentration. GLP-1 führt an den Betazellen des Pankreas zu einer gesteigerten Insulinfreisetzung, die im Gegensatz zur Insulinfreisetzung durch Sulfonylharnstoffe jedoch stark von der Glukosekonzentration abhängt. Hierdurch ergibt sich eine grössere therapeutische Breite und ein geringeres Hypoglykämierisiko, welches insbesondere beim älteren Patienten von Bedeutung ist (4). Die derzeit zur Verfügung stehenden DPP-4-Hemmer Sitagliptin (Januvia®, Janumet®, Xelevia®, Velmetia®), Saxagliptin (Onglyza®, Kombiglyze®, Duoglyze®), Vildagliptin (Galvus®, Galvumet®), Linagliptin (Trajenta®, Jentadueto®) und Alogliptin (Vipidia®, Vipdomet®) kom- men in erster Linie bei unzureichender antidiabetischer Wirkung von Lebensstil plus Metformin als Therapieeskalation in Betracht (4). Neben dem geringeren Hypoglykämierisiko ist besonders für den älteren Patienten von Vorteil, dass DPP-4Inhibitoren auch bei eingeschränkter Nierenfunktion anwendbar sind. Die vermehrte Spitaleinweisung wegen Herzinsuffizienz unter Saxagliptintherapie bedürfe jedoch der Klärung, so Schnauder. GLP-1-Analoga Bisher wurde keine Studie an geriatrischen Patienten durchgeführt. Die GLP-1-Mimetika Exenatid (Bydureon®, Byetta®) und Liraglutid (Victoza®) führen zu stärkeren GLP-1-Effekten als die DPP-4-Inhibitoren. Hierdurch ergeben sich eine etwas stärkere antihyperglykämische Wirksamkeit, ein stärkerer Effekt auf das Körpergewicht (Gewichtsabnahme), aber auch mehr Nebenwirkungen als bei DPP-4-Inhibitoren. GLP-1-Mimetika sind vor allem eine überzeugende Option bei hypoglykämiegefährdeten Patienten und/oder übergewichtigen Patienten, bei denen Metformin keine ausreichende Wirkung besitzt (4). SGLT-2-Hemmer Canagliflozin (Invokana®, Vokanamet®), Dapagliflozin (Forxiga®) und Empagliflozin (Jardiance®) gehören einer Substanzklasse mit neuem Wirkungsprinzip an. Der renale natriumabhängige Glukosetransporter Typ 2 (SGLT-2, sodium-glucose co-transporter 2) ist ein sekundär aktives Transporterprotein, das in der menschlichen Niere über die proximalen Tubuluszellen Glukose und Natrium aus dem Primärharn resorbiert. Der durch die NatriumKalium-Pumpe aufgebaute Natriumgradient stellt hierbei die treibende Kraft für die Glukoseresorption dar. Eine Inhibition des SGLT-2 bewirkt eine Glukosurie, die zu einer Senkung des Blutzuckers ohne Induktion von Hypoglykämien führt. Dieser Mechanismus erfolgt unabhängig von der Insulinwirkung und Insulinsekretion (4). Daher ist davon auszugehen, dass SLGT-2-Hemmer mit allen anderen Antidiabetika kombinierbar sind. «Keine Studie zu SGLT-2-Hemmern fokussiert auf ältere geriatrische Dia- betespatienten», gab Schnauder jedoch zu bedenken. Insbesondere für den älteren Patienten sei wahrscheinlich die insulinunabhängige Wirkung von Vorteil, da sie ein intrinsisches Hypoglykämierisiko ausschliesse. Zudem sind keine Blutzuckerselbstkontrollen erforderlich, welche im praktischen Alltag von geriatrischen, allein lebenden Patienten des Öfteren vergessen werden. In klinischen Studien zeigte sich unter der Therapie mit SGLT-2-Hemmern eine antihypertensive Wirkung unabhängig vom Gewichtseffekt. Von Nachteil ist, dass SGLT-2-Hemmer bei Niereninsuffizienz nicht zugelassen sind. Sie erhöhen die Diurese, was mit der Gefahr eines Volumenmangels verbunden ist. Langzeiteffekte bei einer über 4-jährigen Therapie sind zurzeit noch unbekannt. Insulin degludec Nach der Injektion in das subkutane Fettgewebe formt Insulin degludec (Tresiba®) lösliche Multi-Hexamere. Die gleichförmige langsame Freiset- zung aus diesem Depot sowie die zu- sätzliche Bindung an Albumin im Blut sind für eine kontinuierliche, lange Wirkdauer verantwortlich. Die Halb- wertszeit von Insulin degludec liegt bei über 25 Stunden, die Wirkdauer bei über 42 Stunden. Das gleichmässige Insulinprofil und die geringere intra- individuelle Variabilität reduzieren das Hypoglykämierisiko. O Claudia Borchard-Tuch Symposium im Rahmen der MEDICA Education Conference: «Diabetes mellitus im Alter – spezifische Herausforderungen», Düsseldorf, 13. November 2014. Referenzen: 1. Schernthaner G et al.: Aktuelle Therapie des Typ-2- Diabetes. Internist 2012; 53: 1399–1410. 2. Schernthaner G et al.: Is the ADA/EASD algorithm for the management of type 2 diabetes (January 2009) based on evidence or opinion? A critical analysis. Diabetologia 2010; 53: 1258–1269. 3. Girlich C et al.: Behandlung des Typ-2-Diabetes beim alten Patienten. Internist 2014; 55: 762–68. 4. Schütt M et al.: Neue Möglichkeiten der Differenzialtherapie des Typ-2-Diabetes. Internist 2011; 52: 395–404. ARS MEDICI 3 I 2015 133