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FOKUS PÄDIATRIE
Immer häufiger jüngere Kinder betroffen
Typ-1-Diabetes – atypische Symptome nicht verpassen
Die Häufigkeit des Typ-1-Diabetes nimmt zu, besonders auch in der Altersgruppe unter vier Jahren. Es ist wichtig, die Diagnose rasch zu stellen, bevor sich eine schwere diabetische Ketoazidose entwickelt. Dr. Sara Bachmann, Leitende Ärztin Endokrinologie/Diabetologie am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB), stellte zudem eine neue Stadieneinteilung vor sowie erste Ergebnisse von Studien, bei denen das Fortschreiten ins nächste Stadium medikamentös verzögert werden konnte.
Der Typ-1-Diabetes ist die häufigste Stoffwechselerkrankung in der Kindheit. In der Schweiz ist schätzungsweise eines von 2500 Kindern betroffen. Die Häufigkeit hat in den letzten Jahren weltweit zugenommen, zudem sind öfter kleine Kinder unter vier Jahren betroffen (1). Die Therapie dieser Kinder ist besonders herausfordernd, denn sie können zum Beispiel keine Hypoglykämiesymptome äussern und das Essverhalten ist oft nicht vorhersehbar, zudem ist die Berechnung der Insulindosis aufwendiger, da die Abgabe dieser sehr kleinen Insulinmengen technisch schwierig ist.
Während der COVID-Pandemie hat die Inzidenz des Typ-1Diabetes besonders stark zugenommen. Es ist unklar, ob das Virus selbst dafür verantwortlich ist, oder ob die Hygienemassnahmen oder andere indirekte Effekte einen Einfluss hatten (2).
Genetische Disposition Beim Typ-1-Diabetes gibt es eine genetische Disposition, die allerdings geringer ausgeprägt ist als beim Typ-2-Diabetes. Einige der verantwortlichen Gene konnten identifiziert werden. Beispielsweise finden sich HLA-DR3 und HLA-DR4 viel häufiger bei Patienten mit Typ-1-Diabetes als bei der nicht diabetischen Population, beim HLA-DR2 ist das Verhältnis umgekehrt, sodass ihm eine gewisse protektive Wirkung zugesprochen wird.
Ist jemand aus der Familie erkrankt, steigt das Risiko für andere Familienmitglieder, ebenfalls an einem Typ-1-Diabetes zu erkranken. Ist die Mutter betroffen, beträgt das Risiko 4%, beim Vater 6% und bei einem Geschwister 5–8%. Das bedeutet auch, dass die Geschwister eines an Typ-1-Diabetes erkrankten Kindes eine ≥ 90%ige Chance haben, nicht zu erkranken. Bei eineiigen Zwillingen ist das Erkrankungsrisiko
Material für Kinder und Jugendliche
Anschauliche Erklärungen zum Diabetes finden sich im Buch: Mullis PE et al.: «Du und ich haben Diabetes» (14)
höher, rund 30–50%, doch der Erkrankungszeitpunkt kann Jahre auseinanderliegen.
Autoimmunprozess Wieso ein Träger von prädisponierenden Genen schliesslich einen Typ-1-Diabetes entwickelt, ist ein multifaktorieller Vorgang (3). Als Auslöser spielen Virusinfektionen eine Rolle, diskutiert wurden schon Röteln, Enteroviren, Mumps und das Zytomegalievirus. Als Ausdruck des Autoimmunprozesses lassen sich im Labor verschiedene Antikörper messen, gegen die Bestandteile der Inselzellen, Enzyme des Insulinstoffwechsels oder das Insulin selbst. Dabei sind diese Antikörper nicht selbst die Ursache der Zerstörung der Betazellen, sondern Ausdruck des Autoimmunprozesses. Die Betazellzerstörung selbst ist T-Zell-vermittelt.
Wenn die Insulinproduktion um 80% erniedrigt ist, steigt der Blutzucker an und Symptome treten auf. Meist wird zu diesem Zeitpunkt die Diagnose gestellt und mit einer Insulintherapie begonnen, gewöhnlich kommt es anschliessend zu einer in der Regel kurzen Remissionsphase, in der sich die Insulinproduktion leicht erholt, bis sie schliesslich ganz zum Erliegen kommt.
Awareness für Symptome Da viele Eltern die Symptome Durst, häufiges Wasserlassen, Müdigkeit und Gewichtsverlust nicht einem potenziellen Diabetes zuordnen, wurde nun eine Awareness-Kampagne von Diabetes Schweiz gestartet, um die Eltern zu sensibilisieren (siehe Abbildung) (4).
Atypische Symptome Es ist wichtig, die Diagnose rasch zu stellen. Bei einem längeren Insulinmangel muss die Zelle wegen der fehlenden Glukose auf Fettverbrennung umstellen. Ein rascher Gewichtsverlust aufgrund Dehydratation und Fettabbau ist ein typisches Symptom des Diabetes. Bei anhaltendem Insulinmangel kann es zur diabetischen Ketoazidose (DKA) kommen mit Nausea, Erbrechen und Kussmaulscher Atmung. Es ist ein lebensbedrohlicher Zustand, da es schliesslich zu einem Koma kommen kann.
Doch bei rund 40% aller Kinder ist bei Diagnosestellung eine DKA vorhanden (5), wobei es grosse Unterschiede
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Tabelle 1: Gründe für Arztbesuch (Beispiele aus der Klinik)
• Atemprobleme • Hyperventilation • Bauchschmerzen mit Verdacht auf Appendizitis • Verdacht auf Anorexie • Pharyngitis • Krampfanfall • Müdigkeit • Gastroenteritis
Tabelle 2: Diagnosekriterien
• Zufallsblutzucker > 11,1 mmol/l plus Symptome • Nüchternblutzucker > 7,0 mmol/l • Oraler Glukose-Toleranztest (OGTT), 2-h-Blutzucker > 11,1 mmol/l • HbA1c > 6,5%
Tabelle 3: Stadien des Typ-1-Diabetes
• Stage 1: ≥ 2 positive Antikörper, normaler Blutzucker, keine Symptome • Stage 2: ≥ 2 positive Antikörper, erhöhter Blutzucker, keine Symptome • Stage 3: ≥ 2 positive Antikörper, klinische Diagnose, Symptome
ISPAD (International Society for Pediatric and Adolescent Diabetes) Clinical Practice Consensus Guidelines 2022: (10)
zwischen den verschiedenen Ländern gibt (6). Auch in Basel lag laut einer Untersuchung die Rate bei 40% (7).
Haben die Kinder bereits eine DKA entwickelt, finden sich Symptome wie eine veränderte Atmung und Erbrechen. Gelegentlich kommen die Kinder mit vordergründig anderen Problemen in ärztliche Abklärung, wobei im Laufe der Untersuchung die Diagnose des Typ-1-Diabetes gestellt wird (siehe Tabelle 1).
Bei etwa 1% der neu diagnostizierten Fälle von Typ-1-Diabetes kommt es zu einer DKA mit Hirnödem, ganz junge Kinder sind besonders gefährdet. Dies ist ein akut lebensbedrohlicher Zustand.
Häufiger sind subklinische Formen mit 4–15%. Auch diese können bleibende Folgen haben, besonders bei Kindern unter sieben Jahren. Es gibt Hinweise, dass eine durchgemachte DKA zu schlechteren Resultaten bei kognitiven Tests führt (8).
Rasche Diagnose mit Zufallsblutzucker Die Diagnose muss rasch gestellt werden (Tabelle 2). Ein Zufallsblutzucker ist ausreichend (9). Auf keinen Fall sollte man zuwarten, um am nächsten Tag eine Nüchternglukose durchführen zu können. Jede Zeitverzögerung erhöht das Risiko für eine Ketoazidose, die sich sehr schnell entwickeln kann.
Neue Definition des Typ-1-Diabetes Die Stadien des Typ-1-Diabetes wurden neu definiert, insbesondere wurden auch Stadien vor dem eigentlichen Ausbruch
Abbildung: Awareness-Kampagne von Diabetes Schweiz (mit freundlicher Genehmigung)
des Diabetes charakterisiert. Tabelle 3 zeigt die gültigen Kriterien (10).
Ausbruch des Typ-1-Diabetes medikamentös verzögern? Inzwischen gibt es auch Bemühungen, das Fortschreiten der Krankheit in ein nächstes Stadium zu verzögern. Mehrere Studien haben die Möglichkeit einer Prävention bei Risikopatienten untersucht, wie in einer Review aufgeführt wurde (11).
Besondere Hoffnung liegt auf Teplizumab, einem immunsuppressiv wirkenden monoklonalen Anti-CD-3-Antikörper. Eine plazebokontrollierte, randomisierte Studie prüfte die Gabe von Teplizumab bei Verwandten von Typ-1-Diabetespatienten. Untersucht wurden Angehörige mit einem hohen Risiko, selbst zu erkranken, d.h. sie mussten mehr als zwei erhöhte Autoantikörper plus einen pathologischen GlukoseToleranztest aufweisen. Tatsächlich war die Zeit bis zum Auftreten des symptomatischen Stadiums in der TeplizumabGruppe im Vergleich zur Plazebogruppe doppelt so lang, 48 gegenüber 24 Monate (12).
Eine weitere Arbeit untersuchte den Effekt von Teplizumab im Stadium 3 und konnte zeigen, dass die Betazellreserve länger erhalten bleibt (13).
Somit kommt es zu einem Paradigmenwechsel. Bis vor wenigen Jahren war man sich einig, dass aufgrund fehlender therapeutischer Optionen ein Screening keinen Mehrwert bringt. Aktuell wird jedoch das Screening von Verwandten ersten Grades neu diskutiert.
Barbara Elke
Quelle: «Diabetes». Fortbildung des Universitäts-Kinderspitals beider Basel (UKBB), 20. Februar 2024, Basel
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Referenzen: 1. Patterson CC et al.: Trends and cyclical variation in the incidence of
childhood type 1 diabetes in 26 European centres in the 25 year period 1989-2013: a multicentre prospective registration study. Diabetologia. 2019 Mar;62(3):408-417. doi:10.1007/s00125-018-4763-3 2. D'Souza D et al.: Incidence of Diabetes in Children and Adolescents During the COVID-19 Pandemic: A Systematic Review and Meta-Analysis. JAMA Netw Open. 2023 Jun 1;6(6):e2321281. doi:10.1001/ jamanetworkopen.2023.21281 3. Pociot F et al.: Genetics of type 1 diabetes: what's next? Diabetes. 2010 Jul;59(7):1561-1571. doi:10.2337/db10-0076 4. https://www.diabetesschweiz.ch/fileadmin/user_upload/DIAB_PosterA3_210531_RZ_X4.pdf. https://www.diabetesschweiz.ch/betroffeneund-angehoerige/information/news/news-detail/news/lernvideos-fuerkinder-mit-typ-1-diabetes 5. Piccini B et al.: SWEET registry. Association of diabetic ketoacidosis and HbA1c at onset with year-three HbA1c in children and adolescents with type 1 diabetes: Data from the International SWEET Registry. Pediatr Diabetes. 2020 Mar;21(2):339-348. doi:10.1111/pedi.12946 6. Cherubini V et al.: Temporal trends in diabetic ketoacidosis at diagnosis of paediatric type 1 diabetes between 2006 and 2016: results from 13 countries in three continents. Diabetologia. 2020;63(8):1530-1541. doi:10.1007/s00125-020-05152-1 7. Angela Berni: Why, when how? A retrospective Analysis of hospitalizations of children with diabetes mellitus typ 1. Masterarbeit, 2020. 8. Ghetti S et al.: Diabetic ketoacidosis and memory dysfunction in children with type 1 diabetes. J Pediatr. 2010;156(1):109-114. doi:10.1016/j.jpeds.2009.07.054 9. Libman I et al.: ISPAD Clinical Practice Consensus Guidelines 2022: Definition, epidemiology, and classification of diabetes in children and adolescents. Pediatr Diabetes. 2022 Dec;23(8):1160-1174. doi:10.1111/ pedi.13454. 10. Besser REJ et al.: ISPAD Clinical Practice Consensus Guidelines 2022: Stages of type 1 diabetes in children and adolescents. Pediatr Diabetes. 2022;23:1175-1187. doi.org/10.1111/pedi.13410 11. Simmons KM, Sims EK: Screening and Prevention of Type 1 Diabetes: Where Are We?, J Clin Endocrinol Metab. 2023;108(12):3067-3079. doi:10.1210/clinem/dgad328 12. Herold KC et al.: Type 1 Diabetes TrialNet Study Group. An Anti-CD3 Antibody, Teplizumab, in Relatives at Risk for Type 1 Diabetes. N Engl J Med. 2019 Aug 15;381(7):603-613. doi:10.1056/NEJMoa1902226Erratum in: N Engl J Med. 2020 Feb 6;382(6):586. doi:10.1056/ NEJMx190033 13. Herold KC et al.: A Disease-Modifying Therapy for Type 1 Diabetes That Preserves ?-Cell Function. Diabetes Care. 2023 Oct 1;46(10):1848-1856. doi:10.2337/dc23-0675 14. Mullis EP et al.; Du und ich haben Diabetes, Karger Verlag 2017. ISBN 978-3-318-06029-4
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