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ESC
ESC-Konsensus zur Adipositas
Adipositasbekämpfung wird dringlich
Adipositas ist eine komplexe, multifaktorielle Erkrankung, die durch eine übermässige Ansammlung von Körperfett gekennzeichnet ist. Sie hat weltweit epidemische Ausmasse angenommen. Adipositas hat nicht nur Einfluss auf die Körperzusammensetzung, sondern auch auf die Entwicklung von Komorbiditäten. Ein Konsensus der European Society of Cardiology (ESC) fasst zusammen, wie die Adipositas behandelt werden soll.
Adipositas wird mit negativen gesundheitlichen Folgen und einer geringeren Lebenserwartung in Verbindung gebracht und wurde 1997 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und 2021 von der Europäischen Kommission zu einer Krankheit erklärt. Eine Metaanalyse mit über 10 Millionen Personendaten zeigte einen logarithmisch-linearen Anstieg der Gesamtmortalität ab einem Body-Mass-Index (BMI) > 25 kg/m2. Jede fünfte Person auf dem europäischen Kontinent ist adipös, und zwei Drittel der Todesfälle im Zusammenhang mit einem hohen BMI sind auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen (CVD) zurückzuführen. Tatsächlich trägt Adipositas zu den bekannten kardiovaskulären Risikofaktoren bei (Typ-2-Diabetes mellitus, Dyslipidämie, Hypertonie), hat aber auch direkte negative Auswirkungen auf Struktur und Funktion des Herzens und führt zur Entwicklung von CVD – sowohl atherosklerotischen als auch nicht atherosklerotischen – unabhängig von anderen Risikofaktoren.
Was Fett bewirkt
Fett kann in subkutanen Fettgewebedepots oder in viszeralen, intramuskulären oder anderen ektopischen Depots abgelagert werden, Organe und Blutgefässe umgeben, wie beispielsweise die Niere, die Leber oder den epi- und perikardiale Raum. Die verschiedenen Fettgewebedepots haben unterschiedliche biologische Bedeutung und tragen unterschiedlich zur metabolischen Gesundheit bei. Das viszerale Fettgewebe hat den grössten Anteil an der stoffwechselbedingten ungesunden Fettleibigkeit, und seine Anhäufung erhöht das kardiometabolische Risiko. Umgekehrt ist das subkutane Fettgewebe stoffwechselbedingt inaktiv. Die Dicke und Ausdehnung des epikardialen Fettgewebes kann für die Bewertung des kardiometabolischen Risikos von Bedeutung sein und wurde mit einem höheren Risiko für akute Koronarsyndrome und Vorhofflimmern nach Herzoperationen in Verbindung gebracht.
Therapieoptionen
Adipositas ist bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen weitverbreitet und beeinflusst sowohl den Verlauf als auch die Prognose der Erkrankung erheblich. Deshalb ist es
von entscheidender Bedeutung, die Therapie der Adipositas als integralen Bestandteil der Patientenversorgung anzusehen. Während nicht pharmakologische Massnahmen wie Lebensstilmodifikationen nach wie vor die erste Wahl sind, stehen seit Kurzem neue Medikamente zur Verfügung, die das Körpergewicht deutlich senken können. Einige dieser Medikamente verbessern nachweislich die kardiovaskuläre Prognose. Zur Therapie zugelassen sind dazu Orlistat, Naltrexon/Bupropion, Liraglutid, Semaglutid und Tirzepatid, wobei mit den letzteren beiden Gewichtsreduktionen von 12,5 bzw. 17,8% erreichbar sind (Abbildung). Adipositas ist nicht nur als Hochrisikokrankheit anerkannt, die mit vielen chronischen Krankheiten zusammenhängt, sondern wurde auch zu einer eigenständigen Krankheit erklärt, die die Lebensqualität beeinträchtigt und die Lebenserwartung verringert. Die Konsenserklärung anerkennt die Tatsache, dass sowohl genetische als auch biologische Faktoren die individuelle Entwicklung von Adipositas beeinflussen, die weltweite Adipositasepidemie jedoch weitgehend durch Umwelt-/Gesellschaftsfaktoren bedingt ist. Der ESC-Konsensus empfiehlt bei Patienten mit Adipositas s eine medikamentöse Blutdrucksenkung bei Werten
≥ 140/90 mmHg s einen Gewichtsverlust von 5 bis 10% zur Senkung von
Lipidwerten, insbesondere von Triglyzeriden um bis zu 20%. s regelmässiges Screening auf nicht erholsamen Schlaf und
obstruktives Schlafapnoesyndrom s regelmässiges Screening von Typ-2-Diabetes s Lebensstilinterventionen als Eckpfeiler der Therapie s Antiadipositasmedikamente bei ungenügendem Gewichts-
verlust durch Lebensstilmodifikationen
GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA) mit nachgewiesenem kardiovaskulären Nutzen (Liraglutid, Semaglutid s.c., Dulaglutid) werden bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und atherosklerotischer Herz-Kreislauf-Erkrankung empfohlen, um kardiovaskuläre Ereignisse zu reduzieren, unabhängig von Ausgangs- oder Ziel-HbA1c und unabhängig von einer begleitenden blutzuckersenkenden Medikation.
12 CongressSelection Kardiologie | Diabetologie | November 2024
ESC
Lebensstilinterventionen
Pharmakologische Therapie
Intragastrische und chirurgische Interventionen
Ernährungs- Physische umstellung Aktivität
*
Orlistat
Naltrexon/ Bupropion
Liraglutid
3 mg s.c. Blutdruck
Semaglutid Tirzepatid 2,4 mg s.c. 5–15 mg s.c.
LDL-Cholesterin
HDL-Cholesterin
Triglyzeride
**Intragastrische ***Bariatrische
Eingriffe
Chirurgie
n/a n/a n/a n/a
% Gewichtsverlust
1–3%
3–10%
effektiv zur Erhaltung des
Gewichtsverlusts
4,1%
4,8%
5,4%
12,5% 17,8%
7–12,8% 25–30%
* hypokalorische mediterrane oder Low-carb-Diät ** intragastrischer Ballon, endoskopische Schlauch-Gastroplastie *** Roux-en-Y-Magenbypass, laparoskopische Schlauch-Gastrektomie Quelle: mod. nach (1)
Abbildung: Erwartete Auswirkungen von Gewichtsabnahme-Interventionen auf kardiovaskuläre Risikofaktoren und Körpergewicht
Der GLP-1-RA Semaglutid sollte bei übergewichtigen (BMI > 27 kg/m2) oder adipösen Patienten mit chronischem Koronarsyndrom ohne Diabetes in Betracht gezogen werden, um die kardiovaskuläre Mortalität, Herzinfarkte oder Hirnschläge zu reduzieren. Orlistat und Bupropion/Naltrexon sollten als Gewichtsabnahmemedikamente mit Vorsicht angewendet werden, insbesondere bei Patienten mit bekannter Herz-Kreislauf-Erkrankung (CVD), da ihre Auswirkungen auf das Körpergewicht nur mässig sind, es wenig Evidenz zur kardiovaskulären Sicherheit gibt und Bedenken hinsichtlich eines potenziellen langfristigen kardiovaskulären Risikos bestehen. GLP-1-RA sind wirksam für die Gewichtsabnahme und die Verbesserung kardiovaskulärer Risikofaktoren. Derzeit ist Semaglutid 2,4 mg/Woche die einzige Gewichtsabnahme-Intervention mit nachgewiesenem Nutzen bei Patienten mit bestehender Herz-Kreislauf-Erkrankung ohne Typ-2-Diabetes. Die Behandlungseffekte sind jedoch auf die Dauer der Behandlung beschränkt. Die langfristigen Auswirkungen und die Aufrechterhaltung der Wirksamkeit von Gewichtsabnahmemedikamenten erfordern weitere Untersuchungen. Eine bariatrische Operation sollte bei Patienten mit hohem und sehr hohem Risiko, Typ-2-Diabetes und einem BMI
≥ 35 kg/m2 in Betracht gezogen werden, wenn wiederholte
und strukturierte Bemühungen zur Lebensstiländerung in
Kombination mit gewichtsreduzierenden Medikamenten
nicht zu einem dauerhaften Gewichtsverlust führen.
s
Valérie Herzog
Quelle: «ESC Clinical Consensus Statement on Obesity and Cardiovascular Disease», Special Session, Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 30. August bis 2. September 2024, London.
Referenz: Koskinas KC et al.: Obesity and cardiovascular disease: an ESC clinical consensus statement. Eur Heart J. Published online August 30, 2024. doi:10.1093/ eurheartj/ehae508.
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