Transkript
SGAIM
Update Dyslipidämie
Lipidsenker: Welche bei wem?
Je höher das kardiovaskuläre Risiko, desto grösser der Nutzen von Lipidsenkern. Doch wer genau von welchen Lipidsenkern profitiert und bis zu welchem Alter, das beleuchtete Prof. Nicolas Rodondi, Inselspital, am Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM).
In den letzten Jahren wurden die Schwellenwerte für LDLCholesterin aufgrund von Erkenntnissen aus neuen Studien immer weiter gesenkt. So liegt der LDL-C-Zielwert in der Sekundärprävention beispielsweise nach Myokardinfarkt, KHK, Diabetes oder bei chronischer Niereninsuffizienz nach den derzeitigen Guidelines der European Society of Cardiology (ESC) (1) bei < 1,4 mmol/l. Auch in der Primärprävention sind die Zielwerte tiefer angesetzt und orientieren sich am kardiovaskulären 10-Jahres-Risiko: < 2,6 mmol/l bei moderatem Risiko und < 1,8 mmol/l bei hohem Risiko (1). Doch nicht für alle Personen mache eine strenge primärpräventive Lipidsenkung gleich viel Sinn, gab Prof. Nicolas Rodondi, Universitätsklinik und Poliklinik für Allgemeine Innere Medizin (KAIM), Inselspital Bern, und Direktor des Berner Instituts für Hausarztmedizin (BIHAM), zu bedenken. Bei Fällen wie dem nachfolgend beschriebenen zeige sich dieses Dilemma.
Fall:
Eine 76-jährige Frau mit Metabolischem Syndrom hatte einen Body-Mass-Index (BMI) von 31 kg/m2, eine arterielle Hypertonie, Prädiabetes (Glukose: 6,4 mmol/l, HbA1c: 6,2%) und Hypercholesterinämie (TC: 6,79 mmol/l, LDL-C: 4,69 mmol/l, HDL: 1,45 mmol/l). Ihre Medikation bestand aus einer ACEHemmer/Hydrochlorothiazid-Kombination und einem Betablocker.
KURZ & BÜNDIG
� Ein Therapiebeginn mit Lipidsenkern bei Patienten > 70 Jahre ist fragwürdig.
� Ein Therapiestopp von Lipidsenkern bei Patienten > 70 Jahre ist derzeit nicht empfohlen.
� Je höher das kardiovaskuläre 10-Jahres-Risiko, desto grösser der Nutzen einer Lipidsenkertherapie.
� Bei LDL-C-Werten > 5 mmol/l an eine familiäre Hypercholesterinämie denken.
Das kardiovaskuläre 10-Jahres-Risiko betrug nach dem AGLA-Rechner (www.agla.ch) 11,3 Prozent. Dieser ist aber nur bis zu einem Alter von 65 Jahren validiert. Wie ist das weitere Vorgehen? Derzeit erhalten in der Schweiz zirka 30 Prozent der 65- bis 74-Jährigen Lipidsenker, bei den ≥ 74-Jährigen 34 Prozent (2).
Bis zu welchem Alter sollte man Statine verschreiben?
Mit dieser Frage befasste sich beispielsweise die PROSPERStudie mit Pravastatin bei 5804 Patienten im Alter von 70 bis 82 Jahre mit Risikofaktoren für eine vaskuläre Erkrankung oder einer manifesten Erkrankung. Nach einer Statintherapie während 3,2 Jahren zeigte sich in der Sekundärprävention hinsichtlich Verhinderung eines kardiovaskulären Ereignisses ein Nutzen, der jedoch in der Primärprävention unklar blieb (3), so Rodondi. Eine weitere Arbeit untersuchte die Wirkung von Statinen auf die kardiovaskulären Ereignisse pro 1 mmol/l LDL-CReduktion unterteilt nach Alter und früherer vaskulärer Erkrankung. Die Autoren der Metaanalyse kommen zum Schluss, dass die präventive Wirkung in der Primärprävention nur bis zu einem Alter von 70 Jahren signifikant ist, in höherem Alter dagegen nicht mehr (4). Auch bei Patienten mit Herzinsuffizienz oder dialysepflichtiger Nierenerkrankung lohnt sich ein Therapiebeginn mit Statinen nicht mehr (4).
Sollen Statine abgesetzt werden?
Bei Patienten ≥ 70 Jahre stellt sich deshalb die Frage, ob ein fehlender Nutzen die Absetzung einer bestehenden Statintherapie rechtfertigt. In einer retrospektiven Kohortenstudie wurde diese Frage anhand von Daten von 120 173 Patienten ≥ 75 Jahre untersucht. Die Patienten hatten keine kardiovaskuläre Vorerkrankung und nahmen die Statine während 2 Jahren. Das Ergebnis zeigte nach Absetzen der Statintherapie eine Zunahme von kardiovaskulären Ereignissen um 33 Prozent (5). Für eine definitive Entscheidung in dieser Frage bräuchte es eine randomisierte und prospektive Studie, so Rodondi. Ein Stopp einer bestehenden Therapie sei bis dahin
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jedenfalls nicht gerechtfertigt, doch auf einen Therapiebeginn ab einem Alter von 75 Jahren könne verzichtet werden. Eine solche vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte randomisierte Studie zur Beantwortung dieser Frage ist nun im Gang (STREAM IICT). Rekrutierungsziel sind 1800 Patienten ≥ 70 Jahre ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen, zu dem 23 klinische Standorte in der Schweiz und alle 9 Hausarztinstitute beitragen. In der einen Patientengruppe wird die Statintherapie abgesetzt, in der anderen fortgesetzt. Der Follow-up beträgt 12 bis 45 Monate, und als primäre Endpunkte sind kardiovaskuläre Ereignisse (nicht tödlicher Myokardinfarkt, ischämischer Hirnschlag) und allgemeine Todesursachen definiert. Zu den sekundären Endpunkten gehören unter anderem Fragen zu Lebensqualität, Muskelschmerzen, Sarkopenie und Stürzen. Momentan seien 1300 Patienten in die Studie eingeschlossen, und die Untersuchungen erfolgten monatlich, erklärte Studienleiter Rodondi. Bis jetzt sei keine Zunahme von kardiovaskulären Ereignissen zu verzeichnen, so sein Zwischenbericht. Ob dies bis zum Abschluss des Follow-ups so bleibe, sei abzuwarten.
An familiäre Hypercholesterinämie denken
Bei Totalcholesterinwerten > 7 mmol/l, LDL-C-Werten > 5 mmol/l oder Triglyzeriden > 5,6 mmol/l sollte an eine familiäre Hypercholesterinämie gedacht werden, dies vor allem bei einer Familienanamnese mit früh auftretenden vaskulären Krankheiten. Klinische Merkmale sind ein frühzeitiges Gerontoxon (Arcus senilis), Sehnen- und Hautxanthome, so Rodondi.
Medikamentöse Therapieoptionen
Bei Patienten in der Primärprävention mit tiefem kardiovaskulärem Risiko (< 10%) sollten nach Ansicht von Rodondi zunächst für ein paar Wochen bis Monate Lebensstilmassnahmen vorgeschlagen werden. Bliebe der Effekt zu klein, könne eine medikamentöse Therapie die Risikoreduktion mit Statinen unterstützen. Bei Patienten mit zu hohen LDL-C-Werten trotz ausdosierter Statintherapie stellt sich die Frage, welcher Lipidsenker dazu kombiniert werden soll, um das kardiovaskuläre 10-JahresRisiko zu senken. Dazu hat eine britische Metaanalyse 14 randomisierte Lipidsenkerstudien mit 83 660 Patienten analysiert: Sie empfiehlt die Hinzunahme von Ezetimibe und als weitere Option PCSK9-Hemmer (Evolocumab, Alirocu-
mab), je nach Höhe des kardiovaskulären Risikos und den
geforderten Zielwerten (6). Eine weitere Fragestellung war,
welche Patientengruppe von einem Zusatz mit Ezetimibe
oder PCSK9-Hemmern profitiert. Der Effekt wurde in einer
weiteren britischen Netzwerkmetaanalyse errechnet (7). Die-
sen Resultaten zufolge reduziert ein zusätzlicher PCSK9-Hem-
mer bei Patienten mit sehr hohem und hohem Risiko Myo-
kardinfarkte bei 16 pro 1000 Patienten beziehungsweise
(bzw.) 12/1000, Hirnschläge bei 21/1000 bzw. 16/1000. Ein
Zusatz von Ezetimibe verhindert 14/1000 bzw. 11/1000
Hirnschläge. Hinsichtlich der Myokardinfarkte konnte die
minimal geforderte Differenz mit Ezetimibe nicht erreicht
werden. Bei Patienten mit moderatem oder tiefem Risiko
zeigte der Zusatz von Ezetimibe und von PCSK9-Hemmern
keinen weiteren Nutzen zur Reduktion von Myokardinfark-
ten oder Schlaganfällen (7).
s
Valérie Herzog
Quelle: «Update Dyslipidämie in der Allgemeinpraxis». Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM), 29. bis 31. Mai 2024, Basel.
Referenzen: 1. Mach F et al.: 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipi-
daemias: lipid modification to reduce cardiovascular risk [published correction appears in Eur Heart J. 2020 Nov 21;41(44):4255. doi: 10.1093/ eurheartj/ehz826]. Eur Heart J. 2020;41(1):111-188. doi:10.1093/eurheartj/ ehz455. 2. Reinau D et al.: Utilisation patterns and costs of lipid-lowering drugs in Switzerland 2013-2019. Swiss Med Wkly. 2021;151:w30018. Published 2021 Sep 1. doi:10.4414/SMW.2021.w30018. 3. Shepherd J et al.: Pravastatin in elderly individuals at risk of vascular disease (PROSPER): a randomised controlled trial. Lancet. 2002;360(9346):1623-1630. doi:10.1016/s0140-6736(02)11600-x. 4. Cholesterol Treatment Trialists› Collaboration: Efficacy and safety of statin therapy in older people: a meta-analysis of individual participant data from 28 randomised controlled trials. Lancet. 2019;393(10170):407415. doi:10.1016/S0140-6736(18)31942-1. 5. Giral P et al.: Cardiovascular effect of discontinuing statins for primary prevention at the age of 75 years: a nationwide population-based cohort study in France. Eur Heart J. 2019;40(43):3516-3525. doi:10.1093/eurheartj/ehz458. 6. Hao Q et al.: PCSK9 inhibitors and ezetimibe for the reduction of cardiovascular events: a clinical practice guideline with risk-stratified recommendations. BMJ. 2022;377:e069066. Published 2022 May 4. doi:10.1136/ bmj-2021-069066. 7. Khan SU et al.: PCSK9 inhibitors and ezetimibe with or without statin therapy for cardiovascular risk reduction: a systematic review and network meta-analysis. BMJ. 2022;377:e069116. Published 2022 May 4. doi:10.1136/bmj-2021-069116.
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