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FORTBILDUNG
Früherkennung des Prostatakarzinoms: Was ist aktuell sinnvoll?
Stellenwert von MRT, PSA und Stockholm3-Test
Das Prostatakarzinom ist die häufigste Krebsart beim Mann. Durch sinnvolle Früherkennungsmassnahmen kann sowohl die Mortalität gesenkt als auch der symptomatische Verlauf verbessert werden. Die Europäische Kommission hat deshalb nationale Prostatakrebsvorsorgeprogramme befürwortet. Der Nachteil jeder Früherkennung ist jedoch, dass Tumoren erkannt werden, welche nicht behandelt werden müssen (Überdetektion). Die risikoadaptierte Früherkennung mit Magnetresonanztomografie und gezielter Biopsie führt zu einer ausgezeichneten Detektion signifikanter Tumoren, ohne eine Überdetektion zu begünstigen.
Jean-Luc Fehr
Früher wurde bei jedem erhöhten PSA(prostatspezifisches Antigen)-Wert eine mehrfache ungezielte Prostatabiopsie vorgenommen. Über 50 Prozent der PSA-Erhöhungen waren bedingt durch eine benigne Prostatahyperplasie (BPH). Als Zufallsbefunde wurden insignifikante Prostatakarzinome entdeckt, andererseits aber auch häufig signifikante Karzinome nicht entdeckt, da mit ungezielten Biopsien der maligne Anteil nicht getroffen wurde.
Wie vermeidet man Überdiagnose und Übertherapie?
In den letzten 15 Jahren ist es gelungen, die Übertherapie des Prostatakarzinoms massiv zu reduzieren. Zu einer Senkung der Übertherapie führte die Etablierung der Active Surveillance; kleinvolumige Karzinome (Gleason-Score 3 + 3 = 6; heute auch ISUP[International Society of Urological Pathology]-Gruppe 1 genannt) werden seither nicht mehr aktiv therapiert, sondern nur noch überwacht. Den Durchbruch in der Diagnostik und gleichzeitig eine verminderte Überdiagnostik des Prostatakarzinoms brachte aber erst die Einführung und
Risikoadaptierte Früherkennung des Prostatakarzinoms
▲ Alter ▲ Komorbiditäten ▲ familiäre Disposition für Prostatakarzinome oder weitere maligne
Erkrankungen ▲ Miktionsstörung ▲ PSA ≥ 3 ng/ml oder PSA-Dichte ≥ 0,15 ng/ml/cm3 (Prostatavolumen
mittels Sonographie berechnet) ▲ Risiko berechenbar mit Risikokalkulatoren ▲ erhöhtes Risiko → MRT Prostata → gezielte Biopsie, falls Läsion
mit PI-RADS ≥ 4
Standardisierung der multiparametrischen Magnetresonanztomografie (MRT) der Prostata. 3 wesentliche Eigenschaften der MRT der Prostata sind hierfür ausschlaggebend: s Bei unauffälliger MRT ist das Risiko, dass ein relevantes
Prostatakarzinom vorliegt, gering. Insignifikante Tumoren kommen in der Bildgebung meistens nicht zur Darstellung. s Die meisten relevanten Prostatakarzinome können in der MRT detektiert und auch lokalisiert werden, was zielgerichtete Biopsien erlaubt. s Der MRT-Befund bildet die Grundlage der Patienteninformation, der Festlegung der Therapieoptionen, der Evaluation einer Gefässnervenschonung zum Erektionserhalt bei radikaler Prostatektomie und der Beurteilung des weiteren Krankheitsverlaufs. Die Grundregel lautet demnach heute: Keine Biopsie ohne vorgängige MRT der Prostata. Mit diesem Vorgehen bleiben den Patienten an spezialisierten Tumorzentren über 50 Prozent der Prostatabiopsien erspart. Entscheidend ist aber auch, wie die Prostatabiopsien vorgenommen werden: nur gezielt vom pathologischen Herd oder systematisch über die ganze Prostata verteilt zur Absicherung. In unserem Zentrum wird die gezielte Biopsie favorisiert, da hierdurch weniger insignifikante Prostatakarzinome diagnostiziert werden, ohne relevante Karzinome zu verpassen. Die neueren wissenschaftlichen Daten bestätigen diesen Trend. Zur Vermeidung einer Übertherapie wurde seit 2022 aufgrund neuer wissenschaftlicher Daten auch die Möglichkeit der Active Surveillance ausgedehnt, sodass auch grösservolumige (Gleason 6; ISUP-Gruppe 1) und kleinvolumige Prostatakarzinome (Gleason 3 + 4 = 7a; ISUP-Gruppe 2) nicht mehr einer aktiven Therapie zugeführt werden müssen.
Risikoadaptierte Früherkennung
Heute lautet das Losungswort: risikoadaptierte Früherkennung. Mithilfe von Risikokalkulatoren kann das individuelle Risiko abgeschätzt werden (siehe Kasten). Bei erhöhtem
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FORTBILDUNG
NACHGEFRAGT
bei Dr. med. Jean-Luc Fehr
Wie frühzeitig ist «frühzeitig» beim PSA und beim Stockholm3? «Frühzeitig» heisst, es geht um eine risikoadaptierte Früherkennung ab 50 Jahren, bei familiärer Belastung bereits ab 45 Jahren. Entsprechend meinen Ausführungen kann der Stockholm3-Test aufgrund der Datenlage dabei nicht empfohlen werden.
«Die wirkliche Innovation bei der Früherkennung des Prostatakarzinoms war die Standardisierung der Prostata-MRT»
ARS MEDICI: Was ist eigentlich der Stockholm3-Test, und was kann er? Jean-Luc Fehr: Stockholm3 ist ein Bluttest, welcher mittels eines Algorithmus eine Risikovorhersage macht: Ab 11 Prozent besteht ein leicht erhöhtes, ab 15 Prozent ein erhöhtes Risiko. Bei der Risikobeurteilung werden 5 Proteine und über 100 genetische Biomarker sowie Patientendaten miteinander verknüpft.
Was unterscheidet Stockholm3 von einem PSA-Test? Beim PSA-Test wird lediglich das prostataspezifische Antigen (PSA) im Blut gemessen. Weitere Kriterien fliessen da nicht mit hinein.
Zum Beispiel auf der Website des Universitätsspitals Zürich ist von einer Innovation die Rede, die die Früherkennung des Prostatakarzinoms deutlich verbessere. Inwiefern ist Stockholm3 eine Innovation? Es handelt sich in keiner Weise um eine Innovation der Früherkennung, insbesondere nicht für Schweizer Verhältnisse. Neu ist nur, dass der Test nun in der Schweiz verfügbar ist. Die wirkliche Innovation und der Durchbruch bei der Früherkennung des Prostatakarzinoms war die Standardisierung der Prostata-MRT vor über 10 Jahren.
Was ist damit gemeint, dass Stockholm3 «genauer» sei als die Messung des PSA? «Genauer» heisst, dass gegenüber einem Einzelwert (PSA) eineVielzahl von Biomarkern vorliegt, deren Gewichtung allerdings in Bezug auf das Prostatakarzinom noch inkohärent ist und fortlaufend weiterer wissenschaftlicher Studien bedarf.
Hat Stockholm3 Vorteile bei «aggressiven» Prostatakarzinomen? Was bedeutet «aggressiv» in diesem Zusammenhang? Die erwähnte neue Studie über den Stockholm3-Test zeigt keinen Vorteil, lediglich eine vergleichbare Detektion aggressiver Prostatakarzinome, allerdings mit dem Nachteil der deutlichen Überdetektion insignifikanter Karzinome. Aggressive Prostatakarzinome bedürfen einer aktiven Therapie. Ein mittleres Risiko stellen Tumoren mit Gleason-Score 3 + 4= 7, auch ISUP(International Society of Urological Pathology)-Gruppe 2 genannt, ein hohes Risiko solche mit Gleason-Score 4 + 3 = 7 respektive ISUP-Gruppe 3 und höher bis ISUP 5 dar.
Es wird behauptet, Stockholm3 erlaube es, die Zahl der Prostatabiopsien zu senken. Wie das? Die Zahl der Prostatabiopsien wird gesenkt, aber nur in einem Vergleich, bei dem keine Prostata-MRT zur Anwendung kommt, und nur bei Patienten mit hoher Risikokonstellation (Cut-off-Wert ≥ 15%). Die Früherkennung, wie sie in der Schweiz vorgenommen wird, führt zu einer deutlich höheren Reduktion der Prostatabiopsien (> 50%).
Gibt es Vorteile von Stockholm3 gegenüber PSA bei bestimmten Altersgruppen? Nein, aber der Stockhol3-Test kann in Situationen eines erhöhten Risikos mit unauffälliger MRT gezielt eingesetzt werden oder bei unklarer Histologie der Biopsie hilfreich sein.
Was bedeutet die Empfehlung, «bei allen Männern mit einem PSA über 1,5 ng/ml» einen Stockholm3-Test zu machen? Dies führt zu einer deutlichen Mengenausweitung diagnostischer Massnahmen, da bisher bei einem Wert unter 3 ng/ml keine weitere Diagnostik erfolgte. Die Folgen sind Überdiagnostik und Übertherapie.
Noch ein paar grundsätzliche Fragen zur Prostatadiagnostik: Welchen Stellenwert hat heute eigentlich die Prostatapalp ation noch? Die rektale Untersuchung ist im Rahmen der Prostatakarzinomvorsorge kaum mehr von Bedeutung. Aus der Probase-Studie ist bekannt, dass die Untersuchung zu wenig sensitiv ist und eine zu hohe falsch-positive Rate hat. Daraus resultieren folgende Probleme: Erstens entsteht durch den normalen Tastbefund eine falsche Sicherheit. Zweitens führen suspekte Tastbefunde zu vermehrter Diagnostik (MRT/Biopsie) und selten zur Detektion eines relevanten Prostatakarzinoms. Zudem ist der Tastbefund bei den Patienten unbeliebt und vermindert die Compliance für die Vorsorgeuntersuchung. Allenfalls für spezielle Fragestellungen wie etwa bezüglich eines Lokalr ezidivs oder eines lokal fortgeschrittenen Prostatakarzinoms behält der rektale Tastbefund seine Bedeutung.
Wie setzt man die Messung des PSA optimal ein? Wie bereits erwähnt, im Rahmen der risikoadaptierten Früherkennung.
Und wo reiht sich der Stockholm3-Test in der Früherkennung des Prostatakarzinoms ein? Zum jetzigen Zeitpunkt hat er keinen Stellenwert in der Früherkennung – jedenfalls nicht bei einer medizinischen Infrastruktur, wie sie in der Schweiz vorhanden ist.
Herr Fehr, besten Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Dr. Richard Altorfer.
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Risiko erfolgt eine MRT der Prostata, und bei einem pathologischen Herdbefund (PI-RADS [Prostate Imaging-Reporting and Data System] ≥ 4) wird eine gezielte Biopsie des Herdes vorgenommen.
Stockholm3-Test
Nach all diesen sehr erfolgreichen Massnahmen zur Senkung von Überdiagnostik und Übertherapie – ganz im Sinne einer «smarter medicine» – wird nun der Stockholm3-Test von Geschäftsführern medizinischer Netzwerke (vgl. Artikel im «Tages-Anzeiger» vom 3. Juni 2024 [1]) und gar von Universitätsspitälern propagiert. Der Stockholm3-Test ist wissenschaftlich ausgezeichnet dokumentiert, und die Erfahrungen aus den skandinavischen Ländern sind sehr schlüssig. Jedoch lassen sich diese Erfahrungen nicht auf die Verhältnisse in der Schweiz übertragen. Die tiefe Spitaldichte, die Anzahl Spezialisten und die geringe Verfügbarkeit der MRT-Technologie waren nämlich in Schweden Anlass dafür, mittels Screenings eine Risikostratifizierung mit einem Bluttest vorzunehmen. Männer mit einem Risikoprofil über 11 Prozent respektive 15 Prozent wurden ohne vorgängige MRT einer Standardprostatabiopsie zugeführt. Diese Männer wurden verglichen mit Männern, welche wegen eines PSA-Werts ≥ 3 ng/ml biopsiert wurden. In dieser Konstellation, die in keiner Weise der Situation und dem Vorgehen in der Schweiz entspricht, zeigte sich eine Überlegenheit des Stockholm3-Tests gegenüber dem alleinigen PSATest. Die Anzahl an Biopsien konnte dadurch gesenkt werden. Die MRT-basierte Früherkennung, wie sie in der Schweiz Praxis ist, führt im Vergleich zum Stockholm3-Test zu deutlich weniger Biopsien. Zwar ist die Detektion von signifikanten Prostatakarzinomen mit dem Stockholm3-Test einem MRT-basierten Abklärungsgang bei PSA-Werten > 3 ng/ml vergleichbar, jedoch werden damit mehr als doppelt so viele insignifikante Karzinome detektiert. Die Nachteile des Stockholm3-Testes lassen sich so zusammenfassen: s Das Prostatavolumen wird in Korrelation zum PSA-Wert
im Algorithmus nicht erfasst, sodass in der Folge vermehrt BPH-Patienten einer Biopsie zugeführt werden. s Es gibt mehr Biopsien als bei MRT-basiertem Screening. s Es kommt zu einer Überdetektion, d. h., es werden mehr als doppelt so viele insignifikante Karzinome nachgewiesen. s Die Überdetektion führt zu Überdiagnostik und Über therapie. s Es gibt deshalb mehr Männer, welche eine Active Surveillance brauchen (Folge: grosse psychische Belastung). s Es werden unter dem Strich Mehrkosten generiert. s Aktuell fehlen Daten, welche den Einsatz des Tests mit einer riskoadaptierten Vorsorge und einer MRT vergleichen. s Der Test wird von den Fachgesellschaften nicht empfohlen. s Die Krankenkassen vergüten den Test (Kosten von immerhin 500 bis 600 Franken) bisher nicht. Aufgrund der aktuellen Datenlage würden Screeningstudien mit dem Stockholm3-Test in der Schweiz zwangsläufig zu einer Überdiagnostik bei den Studienteilnehmern führen, dies umsomehr, wenn Patienten bereits ab einem PSA-Wert von
1,5 ng/ml aufgenommen würden und ein Cut-off-Wert von 11 Prozent für eine weitere Abklärung gewählt würde. Ein sinnvoller Einsatz des Stockholm3-Tests ist allenfalls denkbar ausserhalb der Früherkennungssituation – zum Beispiel bei Patienten mit bekanntem hohen Risiko und unauffälliger MRT oder auch bei fehlendem Malignitätsnachweis in der Prostatabiopsie trotz hohen Risikos. Für solche Situationen steht der Test auch in unserem Zentrum zur Verfügung; er wird jedoch – wie erwähnt – in der Früherkennung nicht empfohlen.
Nachtrag
In einer aktuellen schwedischen Folgestudie der gleichen Autoren ist das Screening mittels Stockholm3-Tests erstmals im Vergleich mit einer MRT untersucht worden (2). Die Resultate bestätigen die oben stehenden Ausführungen (nach Stockholm3-Test mehr Biopsien: 191 pro 10 000 Männer) und mehr insignifikante Karzinome (65 pro 10 000 Männer). Die Autoren bestätigen in ihrer Konklusion, dass der Stockholm3-Test speziell in Regionen mit fehlendem Zugang zu MRT-Untersuchungen eine Hilfe sein kann zur Selektion von Patienten, welche eine Prostatabiopsie benötigen.
Schlussfolgerung
Die sinnvolle Früherkennung des Prostatakarzinoms soll ri-
sikoadaptiert erfolgen. Die Erfahrungen der letzten 10 Jahre
haben gezeigt, dass damit eine Überdetektion weitestgehend
vermieden werden kann. Der Einsatz des Stockholm3-Tests
in der Früherkennung führt aufgrund der Datenlage und für
länderspezifische Gegebenheiten, wie sie in der Schweiz vor-
liegen, nicht zu einer besseren Detektion von relevanten Pros-
tatakarzinomen. Hingegen führt der vermehrte Nachweis
insignifikanter Prostatakarzinomen zu einer Belastung der
Patienten, ungeachtet der Kostenfolgen für das Gesundheits-
wesen.
s
Korrespondenzadresse: Dr. med. Jean-Luc Fehr Facharzt FMH für Urologie, Spez. Operative Urologie Zentrum für Urologie, Klinik Hirslanden Zürich Zertifiziertes Prostatakrebszentrum DKG European Cancer Centres Witellikerstrasse 40 8032 Zürich jean-luc.fehr@hirslanden.ch
Literatur: 1. Umbruch beim Männerkrebs: Prostatakrebs: Neuer Test verbessert Früh-
erkennung. Tages-Anzeiger, 3.6.24. 2. Björnebo L et al.: Biomarker vs MRI-Enhanced Strategies for Prostate
Cancer Screening: The STHLM3-MRI Randomized Clinical Trial. Jama Netw Open. 2024;7(4):e247131.
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