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GASTROENTEROLOGIE
Chronische Obstipation
Diese Fehler sollte man vermeiden
Obstipation ist häufig und tritt in allen Altersklassen auf, allerdings zunehmend mit steigendem Lebensalter und bei Frauen. Sie wird unter anderem als schwierige, unbefriedigende Defäkation seltener als 3-mal pro Woche definiert. Das Spektrum der verschiedenen Ursachen ist breit und birgt die Gefahr von Fehlern bei diagnostischen Untersuchungen sowie bei zu schneller medikamentöser Therapie. Die häufigsten Fehler dabei zeigte Prof. Jordi Serra, Vall d’Hebron University Hospital, Barcelona (E), am Jahreskongress der United European Gastroenterologists (UEG-Week) auf.
Obstipation ist nicht gleich Obstipation. Wenn Patienten über Verstopfung klagen, können die Symptome variieren. Die einen Patienten meinen damit eine zu seltene Darmentleerung, bei anderen erfolgen etliche Stuhlgänge mit Pressen und hartem Stuhl oder mit dem Gefühl einer inkompletten Entleerung. Deshalb muss bei jedem Patienten nach Frequenz und Konsistenz des Stuhls sowie nach den die Defäkation begleitenden Symptome wie Schmerz, Unwohlsein, aufgeblähtes Abdomen, starke Anstrengung, Gefühl der inkompletten Entleerung und nach digitalen Manövern gefragt werden. Angaben zu Ernährungsgewohnheiten, Lebensstil und Medikamenteneinnahme, vor allem in Bezug auf Laxativa, Analgetika und Antidepressiva, vervollständigen das Bild. In den meisten Fällen liegt der Obstipation keine organische Ursache zugrunde, sondern sie ist funktioneller Natur. Dazu gehören das verstopfungslastige Reizdarmsyndrom (constipation-predominant irritable bowel syndrome, IBS-C) und die funktionelle Obstipation, deren Symptome jeweils ähnlich sein können. Letztere ist durch die ROME-IV-Kriterien definiert.
Zu schneller Griff zu Laxativa
Bevor Laxativa verschrieben werden, soll eine eingehende klinische Untersuchung des Abdomens erfolgen einschliesslich einer digitalrektalen Inspektion. Diese ist sehr einfach und kostengünstig und liefert Hinweise auf Blutungen, Stuhl in der Rektalampulle oder strukturelle Abnormalitäten wie beispielsweise Analfissuren, Hämorrhoiden, Rektalprolaps und Rektozele. Während der digital-rektalen Untersuchung soll der Patient zum Pressen aufgefordert werden, um allfällige Abnormalitäten feststellen zu können.
KURZ & BÜNDIG
� Sich erklären lassen, was der Patient unter Obstipation versteht.
� Erkrankungen und Medikationen, die zu Obstipation führen, abklären.
� Vor dem Verschreiben von Laxanzien soll eine eingehende klinische Untersuchung einschliesslich digital-rektaler Untersuchung erfolgen.
Nicht vergessen, nach Medikamenten zu fragen
Über Medikamente, die Patienten einnehmen, berichten diese selten spontan. Man muss aktiv danach fragen, denn möglicherweise hat eines davon als Nebenwirkung einen obstipierenden Effekt (Tabelle). Nimmt der Patient ein derartiges Medikament (z. B. Opioide) ein, kann versucht werden, die Dosis zu reduzieren oder das Medikament durch ein anderes zu ersetzen, das diese Nebenwirkung nicht hat.
Alarmsymptome nicht übersehen
Zwar sind funktionelle Störungen und Medikamentennebenwirkungen die häufigste Ursache für Obstipation, doch können auch diverse gastrointestinale und nicht gastrointestinale Erkrankungen dazu führen. Alarmsymptome, die zu weiteren Untersuchungen wie Blutbild und Kolonoskopie führen sollten, sind beispielsweise Blut im Stuhl, unabsichtlicher Gewichtsverlust, Anämie, nächtliche Beschwerden, Fieber und starke Abdominalschmerzen. Ein Kolonkarzinom in der eigenen oder der Familienanamnese, entzündliche Darmerkrankungen, intestinale Polypose oder Zöliakie sind weitere Alarmkriterien. Auch akute Beschwerden mit kürzlichen Veränderungen der Stuhlgewohnheiten sowie ein Symptombeginn bei Patienten > 50 Jahre sollten hellhörig machen.
Laxanzienmissbrauch nicht übersehen
Ein Abusus von stimulierenden Laxanzien kann zu einer Schädigung des Plexus myentericus im Kolon führen und die peristaltischen Darmbewegungen lahmlegen. Diese Patienten klagen über Obstipation, die nur bedingt auf höhere Dosen von Laxativa anspricht. Bei einem Kolonkontrastmitteleinlauf mit Barium wird die Schädigung in Form eines Verlusts der haustralen Falten sowie einer Kolondilatation sichtbar. Am häufigsten ist der Laxanzienmissbrauch bei Patienten mit Essstörungen wie Anorexie oder Bulimie zu finden. Bei Patienten mittleren Alters oder Älteren kann ein Laxanziengebrauch aus Gewohnheit ebenfalls zu einem Missbrauch führen. Im Rahmen eines Laxanzienabusus kann es zu Elektrolytverlust und als Folge davon zu kardiorenalen Störungen kommen. Verdacht sollte bei Patienten geschöpft werden, die über sich abwechselnde Diarrhö und Obstipation klagen sowie über andere gastrointestinale Beschwerden wie wiederholtes Erbrechen und Gewichtsverlust. Eine Kon-
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GASTROENTEROLOGIE
Obstipationsfördernde Medikamente
• Analgetika (Opiate, nicht steroidale Antiphlogistika) • Protonenpumpenhemmer • Anticholinerge Spasmolytika (Atropin, Scopolamin, Trimebutin,
Pinaverium, Mebeverin) • Antidepressiva (z. B. Trizyklika, selektive Serotoninwiederaufnah-
mehemmer) • Anxiolytika und Hypnotika (z. B. Benzodiazepine) • Antipsychotika und Neuroleptika (z. B. Butyrophenone, Phenothi-
azine, Barbiturate) • Antikonvulsiva (z. B. Carbamazepin, Phenytoin, Clonazepam,
Amantadin) • Antiparkinsonika (z. B. Bromocriptin, Levodopa, Biperiden) • Antihypertensiva (Kalziumkanalblocker, Diuretika [Furosemid],
Antiarrhythmika [Quinidin und Derivate) • Bisphosphonate • Adrenergika • Kationen enthaltende Substanzen (z. B. Sucralfat, Aluminiumhal-
tige Antazida, Eisensupplemente, Lithium, Wismuth, Kalzium) • Antidiarrhoika • Antihistaminika gegen H1-Rezeptoren • Antitussiva (Codein) • Zytostatika
Quelle: J. Serra, UEG-Week 2023, Copenhagen
trolle der Elektrolyte und des Säure-Basen-Status kann das Ausmass des Laxanzienabusus anzeigen. Eine psychiatrische Konsultation ist für diese Patienten sinnvoll.
An funktionelle Testung denken
Wurden die Diagnose einer funktionellen Obstipation gestellt und andere Ursachen ausgeschlossen, besteht die erste Massnahme aus Lebensstil- und Ernährungsanpassungen sowie bei Bedarf aus einer Therapie mit Quellmitteln und osmotischen Laxanzien. Obstipierende Medikamente in der Nebenwirkung sollten reduziert oder vermieden werden. Sind diese Massnahmen nicht erfolgreich, sollte eine funktionelle Testung mittels anorektaler Manometrie, Ballonexpulsionstest und Defäkografie erfolgen. Ist die Entleerung normal, wird die Transitzeit des ganzen Darms bestimmt. Eine langsame Transitzeit ist ursächlich für die Obstipation und kann mit einer Anpassung der medikamentösen Therapie behandelt werden. Einen Versuch wert sind Biofeedback bei funktionellen Defäkationsstörungen und eventuell chirurgische Massnahmen bei strukturellen Entleerungsproblemen.
Inkontinenz und Schmieren nicht übergehen
Stuhlinkontinenz oder -schmieren können als Folge einer Obstipation auftreten. Bei Kindern und bei älteren und institutionalisierten Patienten ist das häufig der Fall. Bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen und Kindern mit Enkopresis kann es ebenso auftreten. Durch das Zurückhalten des Kots im Darm kann es zu einem Flüssigkeitsüberlauf und in der Folge zu einer paradoxen fäkalen Inkontinenz kommen. Mit der digital-rektalen Untersuchung können der Grad und eine eventuell vorhandene Analsphinkterstörung aufgedeckt werden, mit einer abdomi-
nalen Röntgenuntersuchung wird eine vorhandene Kotretention im Kolon, manchmal auch ein Fäkalom sichtbar, und mit der anorektalen Manometrie und dem Ballonexpulsionstest kann die Entleerungsstörung bestätigt werden. Als Therapie eignen sich Laxanzien und ein Biofeedbacktraining.
Nicht-GI-Erkrankungen bedenken
Erkrankungen des zentralen Nervensystems, periphere Neuropathien, metabolische wie auch hormonelle Störungen, myopathische Störungen sowie systemische Erkrankungen können ebenfalls eine Obstipation hervorrufen. Wie beispielsweise beim M. Parkinson kann die Obstipation sogar erstes Zeichen dafür sein. Bei entsprechendem Verdacht sollte eine komplette neurologische Abklärung erfolgen.
Kehrseiten von Nahrungsfasern und Quellstoffen
Manche Patienten fühlen sich trotz der Einnahme von gros-
sen Mengen von Nahrungsfasern aufgebläht. Lösliche Fasern
verbessern zwar die funktionelle Obstipation beziehungs-
weise die Entleerungshäufigkeit und die Stuhlinkontinenz,
doch können sie bei hoher Zufuhr auch zu mehr Blähungen
und Schmerz führen, insbesondere bei Patienten mit obstipa-
tionslastigem Reizdarm oder Patienten, die über Blähungen
und Abdominalschmerzen klagen. Eine Reduktion der Faser-
menge könnte demnach die Symptome lindern. Quellstoffe
erreichen unverdaut den Dickdarm und binden Wasser, was
zu einer Zunahme des Stuhlvolumens und einer Erweichung
des Stuhls führt. Allerdings können sie wie Nahrungsfasern
auch zu mehr Blähungen führen. Daher sollten osmotisch
wirkende Laxativa wie Polyethylenglykole beziehungsweise
Macrogole als First-line-Therapie vorgezogen werden. Spre-
chen Patienten weder auf allgemeine Massnahmen noch auf
Quellstoffe oder osmotisch wirkende Laxanzien an, sollten
andere Substanzen entweder zusätzlich oder ersatzweise ver-
sucht werden. Dazu gehören beispielsweise Stimulanzien wie
Bisacodyl, Natriumpicosulfat oder Sennoside, Sekretagoga
wie beispielsweise Linaclotid oder Lubiproston sowie Proki-
netika wie beispielsweise Prucaloprid. Ein Übergebrauch von
Stimulanzien kann allerdings zu einem Wirkverlust und in
der Folge zu einer weiteren kontinuierlichen Dosiserhöhung
mit Laxanzienabhängigkeit als Konsequenz führen. Bei opio-
idinduzierter chronischer Obstipation eignen sich peripher
wirkende µ-Opioidrezeptor-Antagonisten wie Naloxegol
und Methylnaltrexon. Diese reduzieren die peripheren Ef-
fekte von µ-Opioid-Analgetika auf die Darmfunktion wie die
veringerte Motilität und Sekretion und die erhöhte Flüssig-
keitsresorption. Bei einer Verstopfung aufgrund von funktio-
neller Entleerungsstörung ist Biofeedback die Therapie der
Wahl, ungeachtet einer abnormalen Transitzeit.
Bei speziellen chronisch obstipierten Patienten, die auf keine
konservative Therapie ansprechen, kann nach eingehender
physiologischer Abklärung möglicherweise eine chirurgische
Intervention als letztes Mittel helfen. Die kontinuierliche di-
rekte Nervenstimulation hat in kontrollierten Studien keinen
Nutzen für diese Indikation gezeigt.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Mistakes in constipation and how to avoid them». Jahreskongress der United European Gastroenterologists (UEG-Week), 14. bis 17. Oktober, in Kopenhagen.
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