Transkript
Refresher Karpaltunnelsyndrom
So gelingt die neurophysiologische Abklärung
FORTBILDUNG
Das nächtliche Einschlafen einer Hand ist eine häufige Klage, und wenn dann der erste Reflex «Karpaltunnelsyndrom (KTS)» lautet, dann liegen Sie meistens richtig. Heutzutage ist es schwer vorstellbar, dass vor 100 Jahren noch kein richtiges Konzept von diesem Krankheitsbild existierte. Erst eine Fallserie, die 1947 publiziert wurde, war dann ein Wendepunkt. Heutzutage ist der Wissensstand in einer eigenen KTS-Leitlinie zusammengefasst, und es existieren zahlreiche Übersichtsarbeiten. Diese Arbeit geht auf einen Aspekt ein, der dort kaum vertieft wird. Wie wird die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit überhaupt durchgeführt, und was bedeuten dann diese neurophysiologischen Parameter?
Daniel Eschle
Die erwähnte Fallserie von Brain, Wright und Wilkinson (1) beschreibt 6 Frauen mittleren bis höheren Alters, die ohne vorgängiges Trauma bilateral über Parästhesien sowie Schmerzen im Medianusversorgungsgebiet in Kombination mit einer verminderten Sensibilität und Thenaratrophie klagten. Alle wurden chirurgisch mit einer Spaltung des Ligamentum carpi transversum (Retinaculum flexorum) behandelt, mit rascher Regredienz der Parästhesien und Schmerzen sowie langsamer Besserung der sensomotorischen Ausfälle. Intraoperativ fand sich jeweils eine Kompression des Nervus medianus im Karpaltunnel mit einer Auftreibung proximal davon. Aufgrund des aktuellen Wissenstands – zusammengefasst in einer eigenen KTS-Leitlinie – können wir das
MERKSÄTZE
� Das nächtliche (oder tagsüber bei bestimmten manuellen Tätigkeiten auftretende) Einschlafen der Hand ist das Leitsymptom des Karpaltunnelsyndroms (KTS) durch eine mechanische Reizung des Nervus medianus innerhalb des (zu) engen Karpaltunnels.
� Eine Schweregradeinteilung des Nervenschadens ist mittels neurophysiologischer Abklärung möglich und kann bei der Therapieplanung helfen: konservativ versus operativ? Die Nervensonografie kann die Neurophysiologie nicht ersetzen.
� Die grosse Kunst besteht darin, die Operationsindikation beim KTS nicht zu spät zu stellen – also eher früher als später den Schaden am Nervus medianus mittels Neurophysiologie quantifizieren.
� Je fortgeschrittener das neurophysiologische KTS-Stadium, das kaum mit der verspürten Symptomintensität korreliert, desto protrahierter die postoperative Erholung.
Krankheitsbild früher erkennen und auch nicht chirurgisch behandeln (2). Es wird postuliert, dass der Nervus medianus im Karpaltunnel zunächst durch bestimmte Tätigkeiten respektive exzentrische Handgelenkstellungen lediglich intermittierend irritiert wird. Mit der Zeit nimmt er einen mechanischen Schaden, was zunächst zu einer fokalen Demyelinisierung und später zu einem axonalen Schaden führt. Durch den Druck auf den Nerven kommt es zu einer zusätzlichen Störung der Mikrozirkulation, was die Symptome und den Schaden verstärkt. Dadurch erklärt man sich die situative Symptomprovokation, die mit der Zeit (wenn der Nerv nicht entlastet wird) in bleibende sensomotorische Schäden und Symptome übergehen kann (siehe Zusammenfassung in Infobox 1). Diese kurze Übersicht erläutert einen Aspekt jenseits der KTS-Leitlinie und der Übersichtsarbeiten (2–5): Primär wird für neurologische Laien erklärt und illustriert, wieso und wie die neurophysiologische Abklärung (Messung der Nervenleitgeschwindigkeit) durchgeführt und interpretiert wird. Ist sie wirklich der sogenannte Goldstandard? Kann eine Nervensonografie die Neurophysiologie ersetzen (was ja sehr praktisch wäre in der Grundversorgung)?
Neurophysiologische Diagnostik
Die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) wird in gewissen Publikationen immer wieder als Goldstandard der KTS-Diagnose bezeichnet (5). Aus verschiedenen Gründen muss diese Aussage relativiert werden (obwohl die NLG-Messung ein relevanter Bestandteil des diagnostischen Prozesseses bleibt). Die Ausgangslage, weshalb eine neurophysiologische Untersuchung veranlasst wird, ist ja zunächst die stets recht stereotype Symptomschilderung, was für sich bereits eine Art Goldstandard darstellt (2) (siehe Infobox 1). Ferner existieren verschiedene Provokationsmanöver zur Symptomreproduktion, die ohne apparativen Aufwand zur Diagnosebestätigung beitragen (6–8) (siehe Infobox 2). Hier sei vor allem auf den noch wenig bekannten Handelevationstest verwiesen (siehe Abbildung 1).
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Infobox 1: Diagnose und Therapie des Karpaltunnelsyndroms
Das typische Beschwerdebild beim Karpaltunnelsyndrom (KTS) ist das nächtliche (oder tagsüber bei bestimmten manuellen Tätigkeiten auftretende) Einschlafen der dominanten Hand durch eine mechanische Reizung des Nervus medianus innerhalb des (zu) engen Karpaltunnels. Es ist eher die Ausnahme, dass die Verteilung der Parästhesien passend zum Anatomielehrbuch beschrieben wird (Aussparung des ulnarisversorgten Fingers V und der zugewandten Seite des Ringfingers). Diagnosebestätigend ist die Symptomreproduktion durch gewisse Provokationsmanöver (z. B. Phalen-Test) bei üblicherweise intakter Handsensibilität und -motorik. Bleibende sensible und/oder motorische Ausfälle, die dem Nervus medianus zugeschrieben werden können, treten erst in fortgeschrittenen Fällen auf. Eine Schweregradeinteilung des Nervenschadens ist mittels neurophysiologischer Abklärung möglich. Die erste Massnahme ist eine nächtliche Ruhigstellung des Handgelenks mit einer Manschette (splint), und es kann eine steroidhaltige Infiltration diskutiert werden. Je nach Leidensdruck, klinischem und neurophysiologischem Schweregrad sowie Therapie(miss)erfolg bisher versuchter Massnahmen schreitet man zur KTS-Operation (carpal tunnel release). Es existieren im Wesentlichen 2 Techniken, und zwar die offene Operation und das endoskopische (minimal-invasive) Verfahren. Beide bergen nur minimale Risiken und führen zu einer raschen und nachhaltigen Symptomlinderung (2).
Studien zeigen (und das wird durch die Erfahrung in der neurologischen Sprechstunde bestätigt), dass der neurophysiologische Schweregrad nicht automatisch mit dem Schweregrad der subjektiven KTS-Symptome korreliert (die Neurografie misst keine Symptome). Bland demonstrierte zum Beispiel eine enorme interindividuelle Streuung der Symptomausprägung (ermittelt anhand eines Fragebogens) trotz identischen neurophysiologischen Schweregrads (die Gründe dafür sind nicht ganz klar). Es konnte lediglich eine sehr gute Korrelation zwischen dem durchschnittlichen Symptomschweregrad und dem neurophysiologischen Schweregrad festgestellt werden (9). Eine KTS-Diagnose kann auch bei normalen neurophysiologischen Befunden gestellt werden, wenn der Nerv zwar intermittierend komprimiert wird, aber die Druckeinwirkung noch nicht ausreicht, um einen bleibenden Nervenschaden anzurichten. Zudem misst die neurophysiologische Diagnostik nur bestimmte Faserpopulationen (dicke myelinisierte Nervenbahnen). Eine Aussage über die dünnen unmyelinisierten (schmerzleitenden) Fasern ist nicht möglich. Umgekehrt sieht man in verschiedenen Situationen, dass pathologische Werte in der Medianusneurografie auf Höhe des Karpaltunnels nicht automatisch mit KTS-Symptomen einhergehen (10). Und Atroshi et al. fanden zum Beispiel eine asymptomatische Medianusneuropathie in Höhe des Handgelenks bei 23 ihrer 125 Kontrollpatienten (18,4%) (11). Oder etwa postoperativ lässt sich beobachten, dass die Elektrodiagnostik typischerweise zwar besser wird, aber selbst höchst zufriedene Patienten keine normalen Werte zeigen (2). Obwohl die neurophysiologische Diagnostik weltweit nach den gleichen Grundprinzipien durchgeführt wird (4), gibt es
Infobox 2: Provokationsmanöver beim Karpaltunnelsyndrom
Die Symptomatik eines Karpaltunnelsyndroms (KTS) ist meistens durch bestimmte Provokationsmanöver reproduzierbar. Gebräuchlich sind folgende Verfahren (6): 1) Hoffmann-Tinel-Zeichen (oder schlicht Tinel-Zeichen in
der englischsprachigen Literatur): Auslösung eines «Stromschlags» beim Beklopfen des Nervus medianus auf Höhe des Karpaltunnels als Ausdruck einer lokalen Nervenschädigung (ich benutze dazu meinen Reflexhammer). Weil der Nervus medianus hier aber recht oberflächlich liegt, findet man manchmal auch ein positives Hofmann-Tinel-Zeichen, ohne dass über KTS-Symptome geklagt wird. Diagnostisch wertvoll ist deshalb vor allem ein Seitenunterschied: positives Hofmann-Tinel-Zeichen auf der betroffenen und negatives auf der nicht betroffenen Seite. 2) Der Druck im Karpaltunnel und somit auf den Nervus medianus steigt, wenn die Handgelenkstellung von der Neutralposition abweicht. Das ist der Hintergrund, wieso KTS-Symptome nachts (unbewusste Flexionsstellung im Handgelenk) oder tagsüber bei bestimmten Tätigkeiten, die zu einer prolongierten Handgelenksextension führen (z. B. am Fahrradlenker), auftreten. George Phalen, ein amerikanischer Orthopäde, hat diesen Umstand als diagnostischen Test bekannt gemacht. Beim Phalen-Test werden die Handgelenke in eine forcierte Flexionsstellung gebracht, was dann die berichteten Symptome reproduzieren kann und als Hinweis auf ein KTS gewertet wird. Als Variante kommt auch der umgekehrte Phalen-Test zum Einsatz mit den Handgelenken in maximaler Extension (Gebetsstellung), was aber laut der Erfahrung von Phalen nicht so aussagekräftig sein soll. Obwohl der Druck im Karpaltunnel bei Handgelenksextension höher ist als bei -flexion, wird bei flektiertem Handgelenk der Nervus medianus auch noch am Rand des Ligamentum carpi transversum abgeklemmt, was die Nervenreizung und somit die Aussagekraft verstärkt (7). 3) Wenig bekannt ist der von mir gern verwendete Handelevationstest, der sensitiver und spezifischer ist als der weit verbreitete Phalen-Test. Die Hände werden in die Luft gestreckt, und der Test ist positiv, wenn die Hand innerhalb von 1 min anfängt zu kribbeln. Welcher Mechanismus dahintersteckt, ist nicht ganz klar. Denkbar wäre, dass der im Karpaltunnel «gefesselte» Nervus medianus unphysiologisch gedehnt wird und dieser mechanische Reiz die KTS-Symptome reproduziert. In der Erstbeschreibung wird ein ischämischer Mechanismus vermutet (8). 4) Durkan-Test: Prolongierter manueller Druck auf den Karpaltunnel führt zu Parästhesien. 5) Viele KTS-Betroffene sind der Ansicht, dass ihre Beschwerden von der Halswirbelsäule (HWS) ausgehen. Deshalb überprüfe ich noch oft, als negative Kontrolle, ob die KTS-Symptome durch HWS-Bewegungen ausgelöst werden können. Wenn das der Fall sein sollte, muss an die Möglichkeit einer zervikalen Myelopathie oder Radikulopathie als alternative Diagnose gedacht werden.
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Abbildung 1: Zusammenfassung der diagnostischen Wertigkeit verschiedener klinischer KTS-Provokationsmanöver. Die nackten Zahlen aus der Arbeit von de Arenas-Arroyo et al. (6) wurden hier grafisch dargestellt. Die diagnostische Odds Ratio ist ein statistisches Mass ohne Einheit und beschreibt die Wahrscheinlichkeit einer Diagnose, wenn ein bestimmter Test positiv ist. Je besser der Test, desto grösser der Wert. Am besten schneidet der Handelevationstest ab (© D. Eschle).
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doch gewisse Unterschiede von Institution zu Institution mit zum Beispiel unterschiedlichen «Normwerten» (12) (siehe Abbildung 2). Und in gewissen Gesundheitssystemen, wo etwa der Zugang zur neurophysiologischen Diagnostik erschwert ist, werden KTS-Operationen – bei passender Anamnese und Klinik – auch ohne vorgängige Elektrodiagnostik erfolgreich durchgeführt (13–15).
Wieso betreiben wir dann überhaupt neurophysiologische Diagnostik? Die neurophysiologische Diagnostik hilft nicht nur, die KTS-Diagnose abzusichern, sondern auch, wichtige Differenzialdiagnosen abzuklären als Ergänzung zur eigentlichen neurologischen Untersuchung (10). Eingeschlafene oder sensibilitätsgestörte Hände finden sich immer wieder bei einer zervikalen Myelonpathologie, zum Beispiel
Abbildung 2A: Exemplarische Darstellung der
neurophysiologischen Abklärung an der Hand.
Es wird mit Oberflächenelektroden gearbeitet
und nicht mit Nadeln. Aus didaktischen Grün-
den wurden Referenz- und Erdungselektroden
nicht dargestellt. A: Mit dunkelgelben Linien
ist der Verlauf der motorischen Fasern von der
handgelenknahen Reizelektrode zur Ableit-
elektrode auf dem Zielmuskel dargestellt. Der
klassische Zielmuskel für den Nervus medianus
ist der Musculus abductor pollicis brevis (APB)
und für den Nervus ulnaris der Musculus abductor digiti minimi (ADM). Im distalen Seg-
Ableitung vom Abductor pollicis brevis
ment eines Nervs kann keine motorische Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) berechnet werden, da es sich hier nicht um eine homogene Struktur handelt. Neben dem eigentlichen Nerv müssen die motorische Endplatte
Standardisierte Entfernung
Ableitung vom Abductor digiti minimi
Standardisierte Entfernung
und die Ausbreitung des elektrischen Impulses
im Muskel sowie die Entstehung des Muskelaktionspotenzials berücksichtigt werden. Des-
Reizung des Nervus medianus
Reizung des Nervus ulnaris
halb wird hier die Reizübertragung in Milli-
sekunden (ms) angegeben und nicht als Ge-
schwindigkeit (m/s). Die Zeit zwischen Reizabgabe und Muskelkontraktion wird als distale motorische Latenz (DML) bezeich-
net. Die Entfernung zwischen distaler Reiz- und Ableitelektrode ist «standardisiert», was hier bewusst in Anführungszeichen
gesetzt wurde. Nicht jede Institution verwendet den gleichen Standard für diese Distanz, und die Normwerte für die DML vari-
ieren ebenfalls. Liegt ein Karpaltunnelsyndrom (KTS) vor, kann die Impulsübertragung zum APB verzögert und somit die DML
verlängert sein. Die Reizübertragung via Nervus ulnaris wird nicht beeinflusst, da dessen Fasern nicht durch den Karpaltunnel
laufen (sie liegen ausserhalb des blauen Vierecks). Als grobe Faustregel beträgt die physiologische DML zum APB ≤ 4 ms und
zum ADM ≤ 3 ms. Die proximale Reizung erfolgt in der Ellenbogenregion (nicht dargestellt; © D. Eschle).
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Abbildung 2B: Schematische Darstellung einer normalen motorischen Medianusneurografie mit Kontrollmessung am ipsilateralen Nervus ulnaris. Obere Spur: Reizung des Nervus medianus handgelenknah (HG) mit einer normalen DML von 3,5 ms (Norm: ≤ 4 ms), bis sich das Muskelaktionspotenzial ausbildet. Mittlere Spur: Medianusreizung in der Ellenbeuge: Es vergehen 7,5 ms bis zur APB-Kontraktion; wenn man davon die DML (3,5 ms) abzieht, beträgt die Laufzeit 4 ms am Unterarm (UA). Wenn z. B. die Distanz zwischen den beiden Reizpunkten 200 mm beträgt, errechnet sich daraus eine normale NLG von 50 m/s (200 mm ÷ 4 ms). Untere Spur: Stimulation des Nervus ulnaris am HG mit einer normalen DML zum ADM von 2,5 ms (Norm: ≤ 3 ms; © D. Eschle).
3,5 ms 2,5 ms
4,0 ms
2,0 mV
Nervus medianus: HG zum APB
Nervus medianus: NLG am UA
Nervus ulnaris: HG zum ADM
Abbildung 2C: Schematisierte Darstellung einer motorischen Medianusneurografie bei einem KTS: Die DML für den Nervus medianus ist mit 5,0 ms (Norm: ≤ 4 ms) verlängert bei normaler motorischer NLG am Unterarm und normaler DML für den ipsilateralen Nervus ulnaris (© D. Eschle).
5,0 ms
4,0 ms
2,0 mV Nervus medianus: HG zum APB
Nervus medianus: NLG am UA
2,5 ms
Nervus ulnaris: HG zum ADM
bei einem Multiple-Sklerose-Herd, bei einer kompressiven (degenerativen) Myelopathie oder einer Syrinx. Ferner muss eine C6- und/oder C7-Radikulopathie in die Differenzialdiagnose einbezogen werden. Hier können die berichteten Parästhesien mit einem KTS überlappen: vorwiegend im Daumen bei einer C6- und im Mittelfinger bei einer C7Radikulopathie. Abbildung 2 illustriert und erläutert die Grundprinzipien der neurophysiologischen Abklärung beim KTS, und die Tabelle zeigt die neurophysiologische Schweregradklassifikation nach Bland (9). Solche Schweregradeinteilungen werden in der KTS-Leitlinie nicht näher erläutert. Sie helfen aber, die Messwerte einzuordnen, und sie bilden eine Grundlage zur Therapieplanung und zur Prognoseabschätzung. Insistieren Sie deshalb, dass der neurophysiologische
Befund die spezifischen Referenzwerte der ausführenden Institution auflistet und eine Schweregradeinteilung vorgenommen wird. Prä- und postoperative Vergleichsmessungen helfen, die (glücklicherweise seltenen) Fälle mit suboptimalem Operationsresultat abzuklären (16). Zunehmend wird die hoch auflösende Sonografie des Nervus medianus verwendet, um ein aufgrund von Anamnese und Klinik vermutetes KTS zu bestätigen (17). Charakteristisch ist eine Auftreibung des Nervs mit einer Zunahme der im Querschnitt gemessenen Fläche (cross-sectional area, CSA) unmittelbar proximal des Karpaltunnels sowie relativ zur Messung am Unterarm (wrist-to-forearm ratio, WFR). Gemäss KTS-Leitlinie «lässt sich die Notwendigkeit einer routinemässig durchzuführenden Sonografiediagnostik derzeit
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Tabelle: Neurophysiologische Schweregradeinteilung nach Bland im Rahmen der Abklärung eines Karpaltunnelsyndroms (KTS) (9). Die Bland-Klassifikation ist zwar sehr gebräuchlich, aber nicht die einzige neurophysiologische KTS-Schweregradeinteilung. Als «sensitiver» neurophysiologischer Parameter im Zusammenhang mit dem Bland-Schweregrad 1 (sehr mild) wird zum Beispiel die relative Verlangsamung der sensiblen Medianus-NLG (Nervenleitgeschwindigkeit) im Vergleich zum ipsilateralen Ulnaris herangezogen. Normalerweise sind die sensiblen NLG für den Nervus medianus und den Nervus ulnaris etwa ähnlich. Eine NLG-Differenz ≥ 8 m/s zu Ungunsten des Nervus medianus ist einer der ersten neurophysiologischen Indikatoren für ein KTS (2; DML: distale motorische Latenz).
Numerischer
Qualitativer
Bland-Schweregrad
Bland-Schweregrad
Grad 0
Normalbefund
Grad 1
Sehr mild
Grad 2
Mild
Grad 3
Mittelschwer
Grad 4
Schwer
Grad 5
Sehr schwer
Grad 6
Extrem schwer
Neurophysiologische Parameter
Normal gemäss Referenzwerten der ausführenden Institution Nachweis gelingt nur mit einer sensitiven Methode Orthodrome sensible NLG <40 m/s und DML <4,5 ms DML zwischen 4,5 und 6,5 ms und sensible NLG noch ableitbar DML zwischen 4,5 und 6,5 ms und sensible NLG nicht mehr ableitbar DML > 6,5 ms Praktisch keine motorische Antwort vom Musculus abductor pollicis brevis ableitbar (z. B. < 1 mV)
nicht belegen». Aber in diagnostisch unklaren Situationen kann sie eine wertvolle Ergänzung sein (2). Vor allem können damit Kollegen und Kolleginnen ohne neurophysiologische Expertise die KTS-Diagnose absichern, da sich sonografische Auffälligkeiten am Nerv oft bereits zeigen, wenn die neurophysiologische Diagnostik (noch) normal ausfällt (18). Und die Sonografie hilft, im Rahmen von schwersten axonalen Schäden, bei denen der Nervus medianus neurophysiologisch gar nicht mehr zuverlässig ableitbar ist, ein allfälliges KTS als Ursache zu bestätigen (19). Allerdings korrelieren die morphologischen Veränderungen nicht optimal mit dem
neurophysiologischen Schweregrad: Beispielsweise empfahlen Sheen et al. (in Anlehnung an weitere Autoren) folgende CSA-Kategorien (20): s neurophysiologisch mildes KTS: 10,0–13,0 mm2 s mittelschweres KTS: 13,0–15,0 mm2 s schweres KTS: > 15 mm2. Das ist eine statistische Korrelation, die im Einzelfall wertlos ist. Die interindividuelle Streuung ist einfach zu gross. «The CSA and WFR are satisfactorily reliable in detecting carpal tunnel syndrome, but they cannot be considered as surrogate indicators of electrophysiological severity (21).» Konkret be-
Abbildung 2D: Mit dunkelgelben Linien ist die orthodrome sensible Neurografie an der Hand dargestellt. Für den Nervus medianus erfolgt die Reizung an Finger II oder III und für den Nervus ulnaris an Finger V. Die Ableitung erfolgt handgelenknah an der gleichen Stelle, wo diese Nerven motorisch gereizt wurden. Das Gerät misst die Zeit zwischen Abgabe und Ankunft des Impulses. Wenn wir die Distanz zwischen Reiz- und Ableitelektrode berücksichtigen, kann die sensible NLG berechnet werden. Wenn z. B. die Zeit für die Übertragung 2,8 ms beträgt bei einer Distanz von 140 mm zwischen Reiz- und Ableitelektroden, ergibt das eine normale sensible NLG von 50 m/s. Normalerweise sind die sensiblen NLG für den Nervus medianus und Nervus ulnaris etwa ähnlich. Bei einem KTS kommt es zu einer Verlangsamung der sensiblen Medianus-NLG im Vergleich zum ipsilateralen Ulnaris, der nicht durch den Engpass verläuft. Eine NLG-Differenz ≥ 8 m/s zu Ungunsten des Nervus medianus ist einer der ersten neurophysiologischen Indikatoren für ein KTS (2; © D. Eschle).
Sensible Reizung des Nervus medianus Ableitung vom Nervus medianus
Sensible Reizung des Nervus ulnaris Ableitung vom Nervus ulnaris
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deutet das, dass ein bestimmter CSA- oder WFR-Wert nicht
eindeutig einem neurophysiologischen Nervenschaden
(Schweregrad) zugeordnet werden kann, was dann die Ent-
scheidung «konservativ versus operativ» erschwert und unter
Umständen verzögert.
Die grosse Kunst besteht darin, die Operationsindikation
beim KTS nicht zu spät zu stellen. Je fortgeschrittener das
neurophysiologische KTS-Stadium, das (wie erwähnt) kaum
mit der verspürten Symptomintensität korreliert, desto pro-
trahierter die postoperative Erholung. Also nicht erst warten
mit der Operation, bis ein bleibendes sensibles Defizit oder
eine Thenaratrophie vorhanden ist. Folgendes würde dafür
sprechen, eher früher als später den Schaden am Nervus me-
dianus mittels Neurophysiologie zu quantifizieren (22):
«Treat grade 0 to 2 patients conservatively in the first instance
(…). From grade 3 upwards, the case for surgery becomes
progressively stronger. Try not to let hands deteriorate to
grade 6 (…) as the outlook for these with surgery is relatively
poor. Patients in grade 6 should be counselled regarding rea-
listic expectations before surgery.»
s
Korrespondenzadresse: Dr. med. Daniel Eschle Facharzt für Neurologie Kantonsspital Uri 6460 Altdorf (Schweiz) Tel +41 41 875 51 51 daniel.eschle@ksuri.ch
Interessenkonflikte, Ethik und Danksagung: Das Manuskript steht bei keiner anderen Zeitschrift unter Review. Es bestehen im Zusammenhang mit diesem Manuskript keine Interessenkonflikte. Da diese Arbeit auf bereits publizierter Literatur basiert, waren keine neuen Studien an Menschen oder Tieren notwendig. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Ein grosses Dankeschön geht an Frau Dr. med. Elisabeth Simons, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin, für ihr wertvolles Feedback zum Manuskript.
Lesetipps
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