Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
Nichts Neues gibt es nicht auf dieser Welt. Die Skeptiker, Angsthasen und Miesepeter, denen alles Neue ungeheuer ist, denen Technik, Tempo und Lärm ein Graus sind, bestimmen nicht erst seit heute über die etwas Mutigeren und Kreativeren. So geschehen im Kanton Graubünden nach der Jahrhundertwende (die Geschichte sei speziell grünen Verhinderern, Zauderern und Skeptikern empfohlen): Von 1900 bis 1925 waren im Bündnerland nämlich Autos verboten. Weil sie zu schnell fuhren, Lärm und Gestank verbreiteten und überhaupt gefährlich waren. Wer mit dem Auto den Kanton GR durchqueren wollte, zum Beispiel von Österreich kam und durchs Engadin nach Italien wollte, musste vor seinen Motorwagen echte PS (Pferdestärken) spannen und sich durch den verängstigten Kanton ziehen lassen. Das Umdenken der Bevölkerung kam spät in den engen Bündner Bergen und Tälern: nach dem Ersten Weltkrieg und mit dem Aufkommen des Postautos. Aber immerhin, es kam. Übrigens gehörte auch das Ehepaar Röntgen zu denjenigen, die befürchteten, die Pferde könnten vor den rauchenden motorisierten Ungetümen scheuen. Sie verbrachten ihre Ferien regelmässig in Pontresina und reisten meist mit der Kutsche an – weil sie sich’s leisten konnten.
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Sie erinnern sich natürlich nicht. Aber egal, das ist auch nicht wichtig, es bleibt auch so aufschlussreich. Das Jugendwort des Jahres 2020 war «fly sein». Das hatte eine 20-köpfige Jury entschieden. Kaum einer kannte oder kennt heute noch den Begriff oder benutzt ihn. Vermutlich wollte die Jury damit demonstrieren, wie nahe ihre Mitglieder ihre Ohren am Mund der Jugend haben und wie aktuell sie sind. So aktuell offenbar, dass noch nicht mal die vermuteten Nutzer des Wortes darüber informiert
waren, dass sie es demnächst nutzen würden.
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Aus Mohrenköpfen «Schaumküsse» zu machen ist der ebenso typische wie vergebliche Versuch, ein Problem zu lösen, das nie eines war, bis redlich bemühte Menschen endlich eine, wie sie meinten, geniale Lösung fanden, für die sie nur noch ein passendes Problem finden mussten. Und sie fanden eines. (Uns Medizinern ist das Phänomen – nicht nur als Witz – ja bestens bekannt: Die Therapie gibt es längst, allein, es fehlt die passende Krankheit.)
sss
Es scheint, als finden die jungen Männer der Generation Z, die Gleichstellung zwischen Mann und Frau sei heute fast vollständig erreicht, es gebe kaum mehr Unterschiede. Das ergab jedenfalls eine repräsentative Umfrage. Dass die Konferenz der zahlreichen Gleichstellungsbeauftragten der Schweiz zu einem anderen Schluss kommt, ist wenig verwunderlich. Wer trägt schon gern dazu bei, den eigenen Arbeitsplatz überflüssig zu machen? Mit andern Worten: Man könnte auf die Idee kommen, nicht weil es an Gleichstellung mangelt, gebe es Gleichstellungsbeauftragte, sondern weil es so viele Gleichstellungsbeauftragte gibt, bleibe Gleichstellung ein Problem.
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«Manchmal ist die Wahrheit so wertlos, dass eine kluge Lüge mehr wert ist.» (Lichtenberg)
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KI (Künstliche Intelligenz) ist «politisch korrekt». Glauben Sie nicht? Irgendjemand hat den Test gemacht (se
non è vero …). Für Europa und die USA stimmt’s jedenfalls. Wenn Sie die KI auffordern, eine Gruppe Nazi-Soldaten zu zeichnen, bietet sie Ihnen eine Gruppe weisser, schwarzer, arabischer und queerer Männer in Naziuniform an, weil … kulturelle Vielfalt muss sein – zwingend, jenseits aller Fakten! Übrigens: Ganz ähnlich wie in China, so ist anzunehmen, auch wenn niemand den Test gemacht hat: Wetten, die chinesische KI zeichnet nur glückliche Uiguren?
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Die Petflaschendeckeldiskussionen (Sie wissen schon: die Frage, ob das wirklich sein muss und ob es keine intelligentere Lösung gegeben hätte für das Problem der weltweit migrierenden Deckel) nehmen kein Ende. Umweltbewegte sind überzeugt, die angeschweissten Deckel leisteten ein Beitrag zur Rettung der Welt. Die gemeinen Petflaschen-User hingegen ärgern sich weiter über die nasestauchenden und lippenschürfenden Deckel oder das beim Versuch, den Deckel wegzureissen, verschüttete klebrige Citro im Laptop oder auf dem Teppich. Ihnen wird schnippisch geraten, es mit ohnehin gesünderem Hahnenwasser zu versuchen oder die Flasche einfach um 90 Grad zu drehen. Die EU-Kritischen schimpfen derweil über eine weitere von Brüsseler Bürokraten erfundene schikanöse, nutz- und wirkungslose Symbolverordnung. Nur unser AltPhilosophen-Onkel Hugo bleibt besonnen und mahnt (wenn auch mit rollenden Augen): «Greifst du zur Flasche, vergiss die Schere nicht!»
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Solche Sätze muss man einfach lieben: «Stets findet Überraschung statt, da wo man’s nicht erwartet hat.» (Busch)
Richard Altorfer
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ARS MEDICI 15+16 | 2024