Transkript
Gynäkologische Geriatrie
Die Lebensqualität im Auge behalten
BERICHT
Dank der gestiegenen Lebenserwartung leben Frauen mittlerweile mehr als 30 Jahre in der Menopause. Die gynäkologische Betreuung älterer Frauen muss sich den veränderten Anforderungen anpassen – und darf nicht nachlassen, davon ist Prof. Verena Geissbühler, Claraspital Basel, überzeugt. Sie zeigte auf, was im Alter wichtig und machbar ist.
In der Gerontogynäkologie geht es vornehmlich um die Behandlung und das Management chronischer Erkrankungen, mit dem Ziel, die Lebensqualität der betroffenen Frauen zu verbessern. Eine umfassende Betreuung erfordert ein interprofessionelles Team, in dem der Hausarzt eine wichtige Schalt- und Schnittstelle innehat, um auch Komorbiditäten adäquat berücksichtigen zu können.
Tabuisierung und Herausforderungen bei Beckenbodenerkrankungen
Beckenbodenerkrankungen sind immer noch häufig ein Tabuthema, und viele Frauen scheuen sich, diese Problematik anzusprechen, so die Erfahrung der Gynäkologin. Und wenn sie die gynäkologische Sprechstunde aufsuchten, könne es auch heute noch vorkommen, dass man sage «Ach, das ist halt mit dem Alter so, dass man etwas tröpfelt», so Geissbühler weiter. Dabei sei diesbezüglich einiges machbar, und die Beschwerden sollten ernst genommen und adäquat behandelt werden. Sie sind zwar selten lebensbedrohlich, beeinträchtigen jedoch die Lebensqualität erheblich.
Ausmass der Problematik eher unterschätzt
Beckenbodenerkrankungen sind bei Frauen häufiger als andere chronische Erkrankungen; das Alter gilt als der primäre Risikofaktor. Zusätzlich spielen Übergewicht, chronischer Husten sowie frühere Schwangerschaften und Geburten eine wichtige Rolle. Das Bewusstsein dafür, dass Schwangerschaftsfolgen auch langfristig anzusehen sind, steigt, wie Geissbühler berichtete. Eine aktuelle Einschätzung zeigt, wie viele Frauen nach einer Geburt unter mittel- bis langfristigen Veränderungen (> 6 Wochen anhaltend) leiden: Am häufigsten sind Dyspareunie (35%), Schmerzen im unteren Rückenbereich (32%), Harninkontinenz (8–31%), Angstzustände (9–24%), anale Inkontinenz (19%), Depressionen (11–17%), Tokophobie (6–15%), Schmerzen im Dammbereich (11%) und eine sekundäre Unfruchtbarkeit (11%) (1). Je älter die Frauen sind, desto weniger typisch stellen sich diese Erkrankungen dar; häufig liegen Kombinationen vor, wie zum Beispiel die sogenannte Double-Inkontinenz, die gleichzeitige Urin- und Stuhlinkontinenz. Aber auch bei einer alleinigen Urininkontinenz ist die genaue Diagnose manch-
mal schwierig. Ursache kann eine überaktive Blase (OAB) sein, eine Belastungsinkontinenz, eine erschwerte Harnblasenentleerung oder alles zusammen. Die Grössenordnung der Problematik wird wahrscheinlich unterschätzt: Die Prävalenz für mindestens eine der Erkrankungen liegt bei den 60- bis 79-Jährigen bei 39 Prozent und bei den > 80-Jährigen bei 50 Prozent. In der Schweiz geht man alles in allem von mindestens 500 000 Personen mit einer Urininkontinenz aus, wie die Expertin berichtete. Aber auch das Gegenteil kann der Fall sein: Ab 60 Jahren sind bei bis zu einem Fünftel der Frauen die Harnblasen- und die Darmentleerung erschwert.
Diagnostik und Therapieansätze
Zur Abklärung einer Inkontinenz gehören neben der Anamnese und einer klinischen Untersuchung eine Urinanalyse zum Ausschluss eines Infekts, eine Restharnbestimmung mittels Ultraschall oder Katheter sowie eine Bilanz (Trink- und Miktionstagebuch). Als Ziele für ein Miktionstraining gelten pro 24 Stunden eine Flüssigkeitsaufnahme von 1500 bis 2000 ml, eine Miktionsfrequenz von maximal 8 und ein Miktionsvolumen von 300 ml. Die Bilanzierung kann zum Beispiel bei einer Nykturie wertvolle Anhaltspunkte geben; oftmals erfolgt die Flüssigkeitsaufnahme nämlich erst am Nachmittag. Auch weitere Blasenabklärungen mittels Ultraschall, Zystoskopie oder Urodynamik sind in jedem Alter möglich. Bei erschwerter Harnblasen- oder Stuhlentleerung ist eine Defäkations-Magnetresonanztomografie eine wenig belastende Untersuchung, mit der man auch bei älteren Frauen sehr rasch sieht, welcher Teil des Beckens betroffen ist. Als Therapieoptionen stehen konservative Behandlungen wie Beckenbodentraining, Pessare und medikamentöse Therapien im Vordergrund. Physiotherapie ist auch im hohen Alter machbar und kann gerade bei diesen beiden kombinierten Problemen sehr hilfreich sein. Für die Betreuung von Patientinnen in diesem Lebensabschnitt sind Pflegefachpersonen mit spezieller Ausbildung und Begleitung sehr wertvoll (siehe Kasten 1). Bleiben die Basistherapien erfolglos, kann Botulinumtoxin zum Einsatz kommen. Operative Eingriffe werden als weiterführende Optionen dann betrachtet, wenn konservative Massnahmen nicht ausreichen.
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BERICHT
Kasten 1:
Was leistet die Urotherapie?
Gemäss der International Children Continence Society (ICCS) kann die Urotherapie als nicht chirurgisches und nicht pharmakologisches Behandlungsverfahren bei Inkontinenz bezeichnet werden. Sie enthält unter anderem Elemente kognitiver Verhaltenstherapie und kann einen entscheidenden Beitrag in der Betreuung gerade auch der älteren Frauen leisten. Die Fachexpertin Urotherapie gibt Auskunft über: ▲ Inkontinenzhilfsmittel und deren Handhabung ▲ kassenzulässige Produkte ▲ (Dauer-)Verordnungen ▲ Informationen zu Bezugsquellen ▲ Anlaufstellen für Betroffene
Tabelle:
Dauerrezept Inkontinenz – finanzielle Unterstützung pro Jahr
Ausstellung Dauerrezept Inkontinenz
Ausprägung
Angabe in ml
der Inkontinenz
mittel
100–200ml/4 h
schwer
> 200 ml/4 h
total
dauernder Urin-
und/oder Stuhlabgang*
Unterstützung (CHF) 542.– 1108.– 1579.–
*Bei Stuhlinkontinenz hat die Patientin Anrecht auf die Einstufung «totale Inkontinenz». Verordnung auf normalem Rezeptformular mit Angabe des Inkontinenzgrads oder via Rezeptvorlagen im Downloadbereich von Versorgerfirmen (z. B. All4care, Publicare) Quelle: nach Geissbühler/MiGeL Kapitel 15.01 Inkontinenzhilfen
Bausteine der konservativen Therapie
Genitale Atrophie Bei einer genitalen Atrophie ist die lokale Östrogenisierung ab den Wechseljahren eine zentrale Massnahme. Die lokale Applikation von Estriol (z. B. mit Östro-Gynaedron®) zeigt keine systemische Wirkung, verbessert die vaginale Situation und kann so überdies zur Reduktion von Harnwegsinfekten und Dyspareunie beitragen – auch im hohen Alter noch ein Thema, wenn es um die Lebensqualität geht. Diese einfache Therapie müsse, wie auch die Behandlung eines Hypertonus, dauerhaft beibehalten werden, erinnerte die Expertin. Eine weitere Option ist die Anwendung von niedrig dosiertem Estriol in Kombination mit Laktobazillen (z. B. in Gynoflor® oder Kadefemin® estriol 0,03), die gut dokumentiert ist (2).
Hyperaktive Blase Bei der hyperaktiven Blase kommen klassischerweise Anticholinergika oder Mirabegron (Betmiga®) zum Einsatz. Bei Vorliegen einer Obstipation oder eines Glaukoms ist ein Anticholinergikum nicht ideal; da ist Mirabegron besser geeignet. Bei diesem wiederum ist die kardiale Anamnese wichtig; zum Beispiel bei einem Risiko für eine QT-Verlängerung ist es mit Vorsicht anzuwenden. Aus der Komplementärmedizin bietet sich bei überaktiver Blase/Nykturie Bryophyl-
lum pinnatum an. Es wirkt auf die Harnblase und unterstützt zudem den Schlaf (3). Reichen Physiotherapie und Medikamente nicht aus oder setzen Frauen die Medikamente wieder ab (gemäss Studien ist das bei den meisten Frauen mit OAB nach 4 bis 6 Monaten der Fall, oft aufgrund von Nebenwirkungen), «sind wir sehr froh, dass es seit einigen Jahren die Möglichkeit gibt, auch bei idiopathischer hyperaktiver Blase Botulinumtoxin einzusetzen», so die Expertin. Auch Pessare kommen bei einem Prolaps oder einer Belastungsinkontinenz häufig zur Anwendung. Diese Therapieform, die bereits seit über 2000 Jahren bekannt ist, ist bei einem Prolaps einfach und effektiv: Wenn eine Operation für eine ältere Patientin nicht in Betracht kommt, kann so durch die Reposition die Harnblase wieder entleert und die Lebensqualität verbessert werden. Dabei werden sowohl wiederverwendbare Pessare aus Silikon als auch Wegwerfpessare aus Schaumstoff verwendet. Letztere können wie Kontinenzprodukte teilweise auf Rezept bezogen werden (siehe Tabelle). Bei einer Belastungsinkontinenz kann eine östrogenhaltige Creme mit Estriol eine sinnvolle Ergänzung darstellen, um 2 Ziele gleichzeitig zu erreichen – einerseits kann die lokale Trophik verbessert und andererseits die Inkontinenz behoben werden.
Fehlende Innervation
Auch eine unteraktive Blase mit chronischer Urinretention kann zum Problem werden. Mit dem Alter steigt der Resturin, und die Blasensensitivität nimmt ab. Vor allem bei Komorbiditäten wie beispielsweise einem Diabetes mellitus oder neurologischen Erkrankungen sollte man daran denken; eine Resturinbestimmung ist heute sehr einfach. Auch bei Frauen, die aufgrund von Diskushernien oder einer Spinalkanalstenose operiert wurden, besteht die Gefahr, dass der Beckenboden und die Blase nicht mehr richtig innerviert werden, mit entsprechenden Konsequenzen. Im Verlauf zeigt sich zunehmend eine Kombination verschiedener Symptome.
Alternativen zu Antibiotika
Akute Harnwegsinfekte erwähnte die Expertin nur am Rande. Reichen die üblichen Massnahmen nicht aus, gibt ein Infoblatt des BAG Auskunft zur sinnvollen Verwendung von Antibiotika, und die Homepage von Anresis (siehe Linktipp) hilft weiter, wenn es um die aktuelle Resistenzsituation geht. Schon bevor Antibiotika zum Einsatz kommen, gibt es eine Reihe von Optionen: Zur Prävention und Therapie finden beispielsweise Hänseler D. Mannose® und Femannose® Anwendung, therapeutisch können zum Beispiel Utipro® plus, Canephron®, Angocin®N, Cranberrypräparate oder Cystinol®akut eingesetzt werden. Von besonderer Bedeutung ist die präventive Einnahme bereits vor dem Auftreten von Symptomen. Auch unter den Expertenbriefen der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe findet man weiterführende Informationen zum Thema Harnwegsinfekte auf der Homepage der Gesellschaft (Expertenbrief 58, siehe Linktipp).
Erkrankungen der Vulva nehmen zu
Neben Harnwegsinfekten und der Genitalatrophie gewinnen Erkrankungen der Vulva zunehmend an Bedeutung; Juckreiz
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BERICHT
Kasten 2:
Kasuistik: 85-jährige Patientin mit Schmerzen im Bereich der Vulva
Eine 85-jährige Patientin mit inoperablem Ovarialkarzinom, die eine Chemotherapie erhielt, stellt sich wegen Schmerzen im Bereich der Vulva vor, an denen sie seit Beginn der Chemotherapie leidet. Bei näherer Befragung zeigt sich, dass diese Beschwerden bereits seit jeher bestehen. Die Krebsdiagnose sowie die Chemotherapie führten zu einer zusätzlichen Belastung, die sich so negativ auf die Lebensqualität auswirkte, dass sie sich entschieden hat, die Chemotherapie abzubrechen. Es handelte sich um einen typischen Fall, der in der Praxis häufig zu beobachten ist: einen Lichen sclerosus in Kombination mit einer Genitalatrophie. Unter einer Kombination aus Fettsalbe, Steroid und lokaler Östrogenisierung wurde sie beschwerdefrei und hat die Chemotherapie wieder aufgenommen.
Linktipps
Weitere Informationen Expertenbrief 85: Therapie der Belastungsinkontinenz – transurethrale Injektion von Bulking Agents
Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG)
Anresis-Guide
Auch bei Karzinomen individuell entscheiden
Auch bei einer Krebserkrankung lässt sich eine Tendenz be-
obachten, bei älteren Menschen nicht mehr alle Massnah-
men durchzuführen. Aber nicht bei allen Älteren nimmt mit
zunehmendem Alter die Bereitschaft zur Therapie grundsätz-
lich ab. Jede Behandlung muss individuell abgewogen wer-
den. Es ist empfehlenswert, sich mit dem behandelnden On-
kologen und dem Hausarzt über die Möglichkeiten und
Grenzen der therapeutischen Optionen zu beraten, ohne eine
Behandlung von vornherein auszuschliessen. Je nach Lebens-
erwartung und Vorliegen weiterer Diagnosen ist eine andere
Vorgehensweise angezeigt. Die Entscheidung sollte gemein-
sam getroffen werden. Und manchmal kann bereits eine
wenig invasive Untersuchung dabei helfen. Ob ein Mamma-
karzinom hormonabhängig ist, lässt sich bereits mit einer
kleinen Biopsie feststellen, und auch im Alter kann bei ent-
sprechender Empfindlichkeit eine antihormonelle Therapie
erfolgen.
s
Christine Mücke
Quelle: «Gynäkologische Erkrankungen bei geriatrischen Patientinnen – hausärztliche Betreuung», Vortrag im Rahmen des FOMF Allgemeine Innere Medizin Update Refreshers, 3.2.2024 in Basel.
Referenzen: 1. Vogel JP et al.: Neglected medium-term and long-term consequences of
labour and childbirth: a systematic analysis of the burden, recommended practices, and a way forward. Lancet Glob Health. 2024;12:e317– e330. 2. Mueck AO et al.: Treatment of vaginal atrophy with estriol and lactobacilli combination: a clinical review. Climacteric. 2018;21(2):140-147. doi:10 .1080/13697137.2017.1421923. 3. Mirzayeva Net al.: Bryophyllum pinnatum and Improvement of Nocturia and Sleep Quality in Women: A Multicentre, Nonrandomised Prospective Trial. Evid Based Complement Alternat Med. 2023;2023:2115335. Published 2023 Feb 7. doi:10.1155/2023/2115335.
und Schmerzen können eine Herausforderung darstellen. Die altersbedingte Atrophie der Vaginalhaut führt zu einer erhöhten Anfälligkeit für Infektionen und zu Schmerzsyndromen. Bei Schmerzen im Bereich der Vulva sollte auch bei älteren Frauen ein Lichen sclerosus in Betracht gezogen werden, der nicht unterschätzt werden darf. Nicht behandelt, kann es zu Verwachsungen kommen, die die Fähigkeit zum Wasserlösen beeinträchtigen und in der Folge zu einem Harnwegsinfekt führen – wodurch der Teufelskreis geschlossen wird. Das ist bei jüngeren Frauen seltener, da sie in der Regel noch über eine normale Östrogeneinwirkung verfügen. Eine mögliche Differenzialdiagnose wäre eine Pilzentzündung, die jedoch, auch wenn ein Diabetes mellitus vorliegt, nicht vorschnell gestellt werden sollte. Erst eine umfassende Diagnostik erlaubt eine geeignete Therapie. Wie wichtig das ist, illustrierte die Expertin mit einer Kasuistik (siehe Kasten 2).
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