Transkript
Im Fokus: Cancer Survivors
«Ich stelle mir die Transplantation wie das Ansäen einer Wiese vor»
Interview mit einer Patientin nach allogener Stammzelltransplantation bei ALL
Bei Anna S.* wurde 2008, kurz nach ihrem 27. Geburtstag, im Rahmen einer Knieoperation eine bcr-ablpositive akute lymphatische Leukämie (ALL) festgestellt. Nach einer initialen Chemotherapie erfolgte bei ihr eine allogene Stammzelltransplantation. Sie beschreibt eindrücklich und sehr persönlich, wie sie die folgenden sechs Jahre erlebte, mit welchen Nebenwirkungen und Komplikationen sie in der Folge und teilweise bis heute zu kämpfen hat.
«Das Gras beginnt langsam zu wachsen. Dieser Prozess braucht Geduld, und leider nistet sich manchmal auch Unkraut ein. Mit Unkraut meine ich zum Beispiel chronische Abstossungen der Schleimhäute, vor allem im Mundbereich».
Dr. med. Michael Gregor**: Frau S., Sie haben eine schwere Zeit hinter sich, wie fühlen Sie sich heute? Frau S.: (lacht) Im Vergleich zur Situation vor vier Jahren fühle ich mich heute eigentlich gut. Ich habe noch immer eine chronische Graft-versus-Host-Erkran-
«Ich habe noch immer eine chronische Graft-versus-Host-Erkrankung und
benötige regelmässige Kontrollen am Transplantationszentrum in Basel.»
kung (GvHD) und benötige deswegen regelmässige Kontrollen am Transplantationszentrum in Basel. Ich habe gelernt, damit zu leben, und hoffe, dass sich die Situation stabilisiert und im Verlauf auch bessert.
*Name von der Redaktion verändert. **Das Interview führte Dr. med. Michael Gregor, Leitender Arzt Hämatologie, Luzerner Kantonsspital.
Wie haben Sie damals von Ihrer Krankheit erfahren? Wie haben Sie diese neue Situation damals erlebt? In den Weihnachtsferien 2008 stürzte ich beim Skifahren und verletzte mich am Knie. Bei der darauffolgenden Meniskusoperation im Januar 2009 wurde eine Vermehrung der weissen Blutkörperchen festgestellt. Bei der weiteren Abklärung wurde eine bcrabl-positive akute lymphatische Leukämie diagnostiziert. Ich war damals 27 Jahre alt, seit 4 Monaten glücklich verheiratet, hatte berufliche Aufstiegschancen, und der Familiennachwuchs war noch nicht geplant. Plötzlich ging es nicht mehr ums Leben, sondern ums Überleben. Ich hatte zunächst keine Ahnung davon, was alles auf mich zukommen würde. Wie stark diese Diagnose mein Leben verändern wird, konnte ich mir nicht vorstellen. Ab dem nächsten Tag spielte sich mein Alltag im Isolierzimmer des Inselspitals ab. Plötzlich war ich nicht mehr die Ehefrau, die Hotelrezeptionistin, die gute Freundin, ich fühlte mich nur noch als Krebspatientin.
Wie wurden Sie zuerst behandelt? In der ersten Phase wurde ich im Inselspital im Rahmen der Studie GRAAPH 2005 behandelt. Bis auf eine Schwellung der Augenlider hatte ich nur wenige Komplikationen bei der ersten Chemotherapie. Auch die weiteren Chemotherapien in Bern habe ich gut bis sehr gut vertragen. Bereits zu Beginn wurde ich über eine mögliche Stammzellentransplantation informiert. Da meine Schwester nicht passte, hatte ich die Hoffnung, die Krankheit mit der Chemotherapie und einer Transplantation von eigenen Stammzellen in den Griff zu bekommen. Eine Fremdspendersuche wurde zwar eingeleitet, ich rechnete aber nicht damit, dass eine Transplantation von einem Fremdspender notwendig werden würde.
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Leider sprach ich nicht optimal auf die Therapien an, sodass mich mein behandelnder Arzt langsam und schonend auf die Transplantation von einem Fremdspender vorbereitete.
Was wussten Sie von der Stammzelltransplantation? Fast nichts. Als ein passender 10/10-HLA-identischer Fremdspender gefunden war, wurde ich zu einem Gespräch nach Basel aufgeboten. Meine Eltern und mein Ehemann waren beim Gespräch dabei. Dort bekam ich sehr viele Informationen darüber, was es für Risiken birgt, wie lange die Kontaktisolation dauert, was man essen kann, was man nicht essen darf, und welche Untersuchungen vor der Transplantation stattfinden werden und welche Komplikationen auftreten können. Nach dem Gespräch war ich erst guter Hoffnung. Nach einer Weile bekamen wir alle Angst, beispielsweise wegen der möglichen Nebenwirkungen.
Wie verlief die Stammzelltransplantation? Die eigentliche Transplantation war völlig unspektakulär. Das war wie ein Beutel Blut, der mir transfundiert wurde. Ich war in dieser Phase froh und erstaunt, dass es mir so gut ging. Von einem Tag auf den anderen verschlechterte sich dann aber mein Zustand wegen einer Lungenentzündung, und ich musste ein
«Die eigentliche Transplantation war völlig unspektakulär.
Das war wie ein Beutel Blut, der mir transfundiert wurde.»
erstes Mal auf die Intensivstation, wo ich in ein künstliches Koma versetzt wurde. Dadurch weiss ich nicht mehr viel über diese Zeit, ich kann mich kaum an die Zeit auf der Intensivstation erinnern.
Anschliessend haben Sie sich relativ zügig erholt und konnten aus dem Spital entlassen werden. Was geschah dann? Ja, wir mieteten in Basel ein Studio in der Nähe des Spitals, eigentlich war geplant, nach der Transplantation von dort aus drei Monate lang regelmässig in die ambulante Kontrolle zu gehen. Nach zwei Wochen erlitt ich aber eine Infektion mit dem Schweinegrippevirus. Aufgrund dessen bekam ich eine erneute
«Von August bis Mitte Januar 2010 verbrachte ich die meiste Zeit im Spital
Basel, mal auf der Isolierstation, mal auf der Intensivstation oder im 7. Stock auf der Station.»
bakterielle Lungenentzündung und musste wieder auf die Intensivstation. Auch diesmal musste ich in ein künstliches Koma versetzt werden. Nach zwei weite-
ren Wochen im Koma erlitt ich eine Thrombose im linken Bein. Es folgten eine GvHD der Leber, eine schwere Bindehautentzündung, eine Mittelohrentzündung, zweimal ein akutes Nierenversagen und noch einige andere Komplikationen. Von August bis Mitte Januar 2010 verbrachte ich die meiste Zeit im Spital Basel, mal auf der Isolierstation, mal auf der Intensivstation oder im 7. Stock auf der Station. Mein Mann und meine Eltern waren während dieser Zeit jeden Abend bei mir in Basel. Jeden Abend fuhr mein Mann von Bern ins Universitätsspital Basel, um meine Hand zu halten, mich zu berühren und zu mir zu sprechen. Während dieser Zeit entstand eine besondere Beziehung zum Pflegepersonal der Isolierstation und der Intensivstation. Mein Ehemann wurde in meine Pflege miteinbezogen, und die Mitarbeiter haben meinen Mann in dieser schweren Zeit unterstützt. Oft fragte ich mich, ob das alles einmal vorbeigeht. Ich hatte kein normales Leben mehr, keine Perspektiven, und ich sah kein Ende des Leidens. Aber: Aufgeben ist nicht! Ich stellte mir meine Zukunft in farbigen Bildern vor: nochmals eine Reise nach Florida, baden im türkisfarbenen Meer.
Nach Überstehen dieser Komplikationen gingen Sie in eine stationäre Rehabilitation. Wie erlebten Sie diese Zeit? Nach so langer Zeit in Basel, grau in grau, waren der Thunersee und der Niesen für mich das Schönste, was ich seit Langem gesehen hatte! Jeder Schritt an der frischen Luft war ein Geschenk, jeder Vogel ein Wunder! Die Zeit im Rehazentrum «Heiligenschwendi» ist mir sehr intensiv und in guter Erinnerung geblieben. Bei Eintritt in die Reha konnte ich nicht mehr Treppen gehen. Ich hatte rund 15 Kilo abgenommen, wog noch 48 kg und hatte besonders Muskeln verloren. Ich konnte mich dort sehr gut regenerieren und machte grosse Fortschritte. Der Aufenthalt tat mir sehr gut. Im Februar 2010 waren meine Lungenwerte stabil, und ich durfte endlich nach Hause gehen. Mein eigenes Bett, meine eigene Bettwäsche, mein eigenes Badezimmer – alles war ein Geschenk, und ich war unendlich dankbar dafür.
Wie erlebten Sie die Zeit «danach» mit Nachsorgekontrollen, Medikamenteneinnahmen und so weiter? Es war eine grosse Aufgabe für mich, morgens und abends um 8 Uhr meine Medikamente zu nehmen. Es dauerte eine Weile, bis ich mir selber wieder zutraute, meinen Alltag alleine zu bewältigen. Wegen des geschwächten Immunsystems musste ich eine Schutzmaske tragen, die Hände desinfizieren, durfte zunächst keinen Bus benützen und sollte grosse Menschenmengen vermeiden.
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Ich musste weiterhin zu regelmässigen Kontrollen nach Basel fahren. Da der Weg für mich alleine nicht machbar war, weder mit dem Auto noch mit dem Zug, musste zu Beginn immer ein Familienmitglied mitkommen.
«Es dauerte eine Weile, bis ich mir selber wieder zutraute, meinen Alltag
alleine zu bewältigen.»
Wurde es mit der Zeit besser, oder hatten Sie auch Rückschläge? Am Anfang ging es mir so schlecht, dass es mir nur noch besser gehen konnte. Wenn ich zurückschaute, hatte ich aber den Eindruck, es gehe mir ab diesem Zeitpunkt täglich besser. Es gab auch Rückschläge, die aber nicht so gravierend waren. Ich stelle mir die Transplantation von Stammzellen ähnlich vor wie das Ansäen einer Wiese. Das Gras beginnt langsam zu wachsen. Dieser Prozess braucht Geduld, und leider nistet sich manchmal auch Unkraut ein. Mit Unkraut meine ich zum Beispiel chroni-
«Im Sommer 2010 konnte ich keine feste Nahrung mehr zu mir
nehmen, die Schmerzen waren nicht auszuhalten.»
sche Abstossungen der Schleimhäute, vor allem im Mundbereich. Im Sommer 2010 konnte ich keine feste Nahrung mehr zu mir nehmen, die Schmerzen waren nicht auszuhalten. Dank Schmerzmitteln und einem neuen Medikament (Budesonid), welches ich im Rahmen einer Studie testen durfte, konnten wir die Situation entschärfen. Heute bereitet mir ein gutes Essen wieder Freude. Langsam wurde mir klar, dass ich nie mehr die «Alte» sein würde. Ich habe weniger Energie, benötige mehr Ruhephasen, und ich kann mich nicht mehr auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren.
Wie leben Sie heute? Konnten und wollten Sie wieder arbeiten? Ich wollte so bald wie möglich wieder in den Arbeitsprozess einsteigen, seitens der Ärzte war dies zu dem Zeitpunkt noch nicht möglich – aber das Grübeln und Nachdenken zu Hause machte mich nicht glücklich, im Gegenteil. Ich hatte Glück und konnte bei meinem ehemaligen Arbeitgeber gemeinsam mit der Invalidenversicherung eine Eingliederungsmassnahme starten. Wieder im Arbeitsleben zu stehen, war für mich ein Meilenstein. Im November 2010 – mehr als 1 Jahr nach der Transplantation – begann ich, im gleichen Hotel wie zuvor mit 20% wieder zu arbeiten, ich konnte die Arbeitstätigkeit bis auf 30% steigern. Aufgrund der Immun-
suppression musste ich Kundenkontakt meiden, was in einem Hotel eher schwierig umzusetzen ist. Durch die Therapie hatte sich mein äusseres Erscheinungsbild verändert, unsere Stammgäste haben mich nicht wiedererkannt. Waren meine Haare einmal blond und zum Pferdeschwanz gebunden gewesen, war ich danach mit kurzem, braunem, gelocktem Haar und aufgedunsenem Kortisongesicht kaum wiederzuerkennen. Ich war auch nicht mehr so belastbar, dass ich drei Sachen gleichzeitig denken konnte wie an der Hotelrezeption. Meinen Traumberuf als Direktionsassistentin oder zukünftige Direktorin eines Hotels musste ich aufgeben.
«Ich war auch nicht mehr so belastbar, dass ich drei Sachen gleichzeitig
denken konnte. Meinen Traumberuf als zukünftige Direktorin eines Hotels musste ich aufgeben.»
Vor meiner Krankheit war ich ein getriebener, ungeduldiger Mensch. Ich habe meinen Beruf und den Kontakt mit Menschen geliebt und gelebt. Zu merken, dass ich nun eine IV-Rente in Anspruch nehmen muss, war nicht einfach. Dank einer wunderbaren Eingliederungsfachfrau der IV Bern und vielen lieben Gesprächen mit Freunden, der Familie und meinem lieben Ehemann habe ich mich heute mit dieser Situation arrangiert. Seit diesem Jahr arbeite ich 40% in einem Tagungszentrum. Die Arbeit ist nicht so stressig wie im Hotel.
Mit welchen Spätfolgen müssen Sie heute noch kämpfen? Die Haut und die Schleimhäute machen mir weiter Probleme. Die Arbeit am Computer ist für meine wegen der GvHD sehr trockenen Augen nicht von Vorteil. Diesen Sommer hatte die Trockenheit ihren Höhepunkt erreicht, sodass ich alle 10 Minuten Augentropfen einträufeln musste. Abhilfe konnte erst durch Eigenserumaugentropfen geschaffen werden. Fünf Jahre nach der Transplantation trat zudem eine GvHD des Bindegewebes auf. Dies sind Verhärtungen im Fettgewebe am Bauch und am Rücken. Es sieht aus wie eine Sklerose oder eine Zellulitis. Es schmerzt nicht und stört nicht beim Bewegen. Es belastet mich aber psychisch, da es hässlich aussieht. Auch heute gehören regelmässige Kontrollen in Basel zu meinem Alltag. Ich nehme täglich 10 verschiedene Medikamente ein, ein Ritual wie Zähneputzen. Diese Medikamente haben auch ihre Nebenwirkungen. Eines verursacht Krämpfe in den Händen und Füssen. Dagegen bekomme ich ein anderes Medikament, das aber müde macht. Ich habe mich an mein neues Leben mit all seinen Einschränkungen gewöhnt.
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Als Patient ist es wichtig, den Überblick über die Behandlung nicht zu verlieren. Man kann und darf sich nicht nur auf die Ärzte verlassen, sondern muss selbst Verantwortung übernehmen und die Fäden in der Hand behalten. Die für mich wichtigste Ansprechperson ist mein Hämatologe in Basel. Er kennt mich und meine Erkrankung in- und auswendig. Er ist unbezahlbare Stütze, und ich bin sehr, sehr dankbar, einen solch kompetenten und menschlichen Arzt an meiner Seite zu wissen. Wenn ich zurückdenke, kann ich es manchmal selbst nicht glauben, was ich alles durchgemacht habe.
Trotz gesundheitlichen Problemen und Einschränkungen kann ich mein Leben heute auch wieder geniessen.
Ganz, ganz herzlichen Dank für das Gespräch! L
Korrespondenzadresse des Interviewers: Dr. med. Michael Gregor Hämatologische Abteilung, Departement Medizin Luzerner Kantonsspital 6000 Luzern 16 E-Mail: michael.gregor@luks.ch
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