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Forum Versorgungsforschung Onkologie
Computergestützte Informationssysteme in der Onkologie
EDV-Lösungen werden zu unverzichtbaren Instrumenten für die standardisierte, qualitativ hochwertige und flächendeckende Versorgung von Krebspatienten. Der folgende Beitrag beschreibt auf dem Markt erhältliche Systeme mit ihren Anforderungsprofilen aus der Sicht des zu konsultierenden Medizininformatikers. Manfred Mitterer
Manfred Mitterer
Aufgrund des steigenden Durchschnittsalters der Bevölkerung werden Inzidenz und Prävalenz der Tumorerkrankungen zunehmen. So wird es im Jahr 2020 allein in Deutschland etwa 200 000 Krebsfälle mehr geben als noch im Jahr 2008 (1). Die Krebsprävalenz wird sich ausserdem von grossen Städten hin zu ländlichen Gebieten verlagern.
Datenaustausch schnell, komprimiert, jederzeit verfügbar
Die Komplexität von Tumorerkrankungen erfordert nicht nur die praktische Zusammenarbeit von Medizinern der verschiedenen Fachrichtungen, sondern auch das Zusammenführen schier unüberschaubarer Datenmengen aus den verschiedenen Fachbereichen. Dabei ist es essenziell, dass diese Daten allen Beteiligten in einer komprimierten Form schnell, vollständig und vor allem jederzeit zur Verfügung stehen. Doch nicht nur innerhalb einer Klinik kommt dem Datenaustauch eine immer grössere Bedeutung zu, auch zwischen den Kliniken wird die Vernetzung zunehmend wichtiger, um trotz steigenden Kostendrucks die Qualitätssicherung zu gewährleisten. Die Generierung von Vergleichsdaten zwischen einzelnen Institutionen und somit der Kompetenznachweis wird bereits jetzt vielerorts zwingend gefordert. Ein Werkzeug zur Bewältigung dieser Herausforderungen können EDV-Systeme in der Onkologie bieten.
Auf dem Markt erhältliche Systeme
Derzeit befinden sich standardisierte Informationssysteme in folgenden Bereichen für die Versorgung von Krebspatienten auf dem Markt (Tabelle): L Krankenhausinformationssysteme
(KIS) haben den Versuch unternommen, Abteilungen wie die Medizinische Onkologie im IT-Gesamtkonzept der Klinik zu integrieren. Diese Systeme erfüllen Dokumentationsaufgaben, allerdings werden die Spezialgebiete meist nicht mit der erforderlichen Tiefe abgebildet, oder es werden für jede Klinik massgeschneiderte Insellösungen angeboten. Somit ist ein Datenaustausch zwischen unterschiedlichen Kliniken nur in begrenztem Rahmen möglich. L Tumordokumentationssysteme: Viele der auf dem Markt befindlichen Systeme in der Onkologie sind Dokumentationssysteme. Sie dienen als Erhebungstool für klinische und epidemiologische Krebsregister und erleichtern zumeist auch Verwaltungsaufgaben. Solche Systeme eignen sich auch zur Durchführung von Studien, da sie eine individuell definierbare Anzahl von Standarddaten sowie spezielle onkologische Parameter abfragen (2). Die Qualität dieser Dokumentationssysteme erkennt man am Grad der Standardisierung, an der Maschinenlesbarkeit für eventuelle Auswertungen sowie an der Vernetzbarkeit mit anderen Systemen.
L Spezialisierte Informationssysteme: Ausser spezialisierten Informationssystemen des Labors und der Radiologie besteht für weitere onkologische Teilbereiche die Notwendigkeit hoch spezialisierter Systeme. Typische Vertreter sind Systeme der Radioonkologie sowie der Zytostatikazubereitung. Charakteristika dieser Systeme sind ein klar definierter Einsatzbereich für eine eingrenzbare Usergruppe. Diese Systeme müssen das Know-how unterschiedlicher Fachdisziplinen – Ärzte, Physiker, Strahlenbiologen, Pharmazeuten – widerspiegeln. Darüber hinaus sind gerade für diese Bereiche Rechnerleistungen und Sicherheitsanforderungen notwendig, wie sie im klinischen Normalbetrieb nicht vorkommen.
L Systeme für Tumorboards: Das Management von Tumorboards ist eine logistische Herausforderung, da organisatorische Abläufe mit der Bereitstellung klinischer Daten gekoppelt werden müssen. Die Geschäftsordnung eines Tumorboards muss abgebildet, Ein- und Auschlusskriterien müssen festgelegt, die Auswahl und Erreichbarkeit der Mitglieder geregelt sein. Das Wissen über den Patienten muss in einer komprimierten Form schnell und vollständig unter Berücksichtigung von Privacykriterien zur Verfügung gestellt werden. Gute Tumorboardsysteme zeichnen sich zudem dadurch aus, dass ein durchdachtes Zeitmanagement mitberücksichtigt ist.
SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 3/2014
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Onkologische Expertensysteme: Anforderungen Die derzeit am weitesten fortgeschrittene Kategorie von IT-Systemen in der Onkologie sind die Expertensysteme. Ein Expertensystem ist per definitionem ein Computersystem mit der Kompetenz onkologischer Experten, das als Beratungs- und Problemlösungssystem in der Rolle des intelligenten Assistenten eingesetzt wird (3). Ein Expertensystem ist dafür ausgelegt, Arbeitsabläufe und Prozesse abzubilden, zu steuern und zu dokumentieren. Grundlage hierfür sind standardisierte und international akzeptierte Wissensdatenbanken von unabhängigen Institutionen: Beispiel Diagnoseklassifikationssysteme ICD-10 oder ICD-O: Bei der Verwendung von ICD-O können durch Kombination mit der darin enthaltenen Histologiedatenbank auch seltene Entitäten eindeutig definiert werden. Um Prozesse standardisieren zu können, sollten für jede einzelne Tumorerkrankung Laboranalysen, instrumentelle Diagnostik, Stagingprozeduren sowie die Abfrage von Begleiterkrankungen, chirurgischen Eingriffen, Anamnese und Statuserhebung bereits in vorgefertigten Paketen vorliegen. Dies kann beispielsweise mithilfe von unterschiedlichen ICD-Kodifizierungssystemen (4) oder dem TNM-System erfolgen. Da ein Expertensystem immer auf dem letzten Stand der Wissenschaft sein muss, sind die systemunabhängige Wartung und automatische Ajournierung unabdingbar. Diese erfolgt idealerweise durch die Institutionen, die sie bereitstellen. Neuerungen wie upgedatete Stagingprozeduren oder neu eingeführte Medikamente müssen dem User sofort nach ihrer Einführung zur Verfügung stehen. Um den Anspruch der Standardisierung in der Onkologie zu erfüllen, sollte ein Expertensystem auf Leitlinien von wissenschaftlichen Institutionen aufgebaut sein. Bei Entscheidungspunkten im Verlauf einer Erkrankung soll das System die unterschiedlichen Optionen aufzeigen. Die letzte Entscheidung muss aber beim behandelnden Arzt bleiben.
Onkologisches Expertensystem: Erfahrungsbericht aus Meran
Am Schwerpunktkrankenhaus Meran wird ein onkologisches Expertensystem bereits seit Jahren eingesetzt. Das System gewährleistet eine einheitliche, kodierte Datenerfassung und vereinfacht die institutsübergreifende Zusammenarbeit. Ein diagnosespezifisches Fragebogensystem beschleunigt unter anderem den Staging/Restaging-Prozess und unterstützt gleichzeitig interne und externe Meldepflichten. Vordefinierte Protokolle erleichtern zusätzlich die Planung und vermindern den Zeitaufwand für die Eingabe erheblich. Der Krankheitsverlauf wird lückenlos im System erfasst, wodurch eine vollständige Dokumentation zur Qualitätssicherung stattfindet. Mit dem integrierten Tumorboard-Modul steht ein effizientes Instrument zur Vor- und Nachbereitung zur Verfügung. Die notwendigen PatientInnendaten können schnell per Mausklick ohne zusätzlichen Aufwand zusammengestellt und Besprechungsergebnisse abgelegt werden. Vordefinierte Workflows optimieren personal- und zeitaufwändige Besprechungen und geben Ihnen die Möglichkeit, alle Tumorboards übersichtlich zu verwalten.
Gleichzeitig muss ein Expertensystem so offen wie möglich gehalten sein, um die Bedürfnisse möglichst vieler Nutzer zu erfüllen. So werden bestimmte Laboranalysen mit unterschiedlichen Methoden sowie aus unterschiedlichen Geweben durchgeführt. Das LOINCSystem (5) bietet solche Auswahlmöglichkeiten an. Onkologische Therapieprotokolle (systemische Therapien, Strahlentherapie und Onkochirurgie) sollten in einer standardisierten Form vorliegen und der Originalpublikation entsprechen. Sie sollten sich auf Betreuungspfade stützen, die sich ihrerseits wieder auf Leitlinien begründen. Dabei müssen sie individuell definierbar und auf die jeweilige Organisationsform der Klinik anpassbar sein. Ein besonders wichtiger Aspekt ist die Zulassung von Medikamenten. Deshalb sollte eine Verknüpfung mit der nationalen und/ oder internationalen Arzneimittelüberwachungsbehörde vorhanden sein. Nebenwirkungen sollten in standardisierter Form abgefragt und einem Medikament zugeordnet werden können. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, da viele Nebenwirkungen heute erst in einer klinischen Phase IV (Postmarketingphase) erkannt werden.
Spezialität: patientenzentrierte Systeme Eine Spezialität onkologischer Expertensysteme stellen patientenzentrierte Systeme dar. Diese sind noch relativ rar, gewinnen aber zunehmend an Be-
deutung. Der Patient soll für ihn zugeschnittene Informationen über sein Krankheitsbild, über Diagnostik und Therapiemöglichkeiten bekommen. Ziel ist die objektive Information für den Patienten. Daneben gibt es bereits Systeme, mit denen man die orale Therapie überwachen respektive Nebenwirkungen in Echtzeit angeben und gegebenenfalls ärztliche Hilfe anbieten kann. Spezielle Psychoonkologieprogramme können dabei behilflich sein, das psychosoziale Umfeld des Patienten abzufragen und damit dem Arzt wichtige Informationen zukommen lassen.
Ausblick
Im Wesentlichen lassen sich heute zwei Entwicklungen bei den onkologischen Systemen feststellen. Einerseits gewinnen die oben beschriebenen Expertensysteme als umfassende Managementund Dokumentationssysteme für die Betreuung von Tumorpatienten immer mehr an Bedeutung. Andererseits bestehen dezentrale Systeme, zumeist reine Dokumentationssysteme ohne Managementaufgaben, die in den jeweils spezifischen Bereichen wie der Chemotherapieplanung oder dem Tumorboard die Führung des onkologischen Falles an hoch spezialisierte Systeme übergeben. Beiden Systemen ist gemeinsam, dass sie die Arbeitsweise in einer Klinik homogener machen, die getroffenen Entscheidungen zunehmend evidenzbasiert sind und Diagnostik und Therapie für Patient und
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Onkologisches
Onkologisches
Patienten-
Dokumentations- Klinisches Management und
Zytostatika- orientiertes Radiologie-
system
Krebsregister Expertensystem Tumorboard Teil des KIS herstellung System
systeme
Saratiba Omm Oncology Medication Management smatos OncoWare Megamanager Manathea ONKO MANAGER Celsius 37 Alcedis SAP HANA AGFA Orbis Millennium Cerner XAXOA Credos GTDS Gießener Tumordokumentationssystem H.I.T Hannoversches Informationssystem für Tumordaten Asthenis Ondis Mados CATO Cancado CHES Siemens Healthcare Varian Aycan
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!* beschränkt sich auf Chemotherapiebestellungen
Auszug bestehender onkologischer EDV-Systeme im deutschsprachigen Raum.
Ärzte nachvollziehbar werden. Die weiterhin grösste Herausforderung für onkologische Expertensysteme besteht in der Personalisierbarkeit, das heisst in der Anpassung an die jeweilige organisatorische und klinische Situation.
Zusammenfassung
Onkologische EDV-Systeme sind heute ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des Managements von Krebspatienten. Auf dem Markt befinden sich Systeme für jeden Teilbereich der onkologischen Betreuung, sie reichen vom simplen Dokumentationssystem
bis hin zum hoch komplexen Manage-
mentsystem für Diagnostik, Therapie
und Follow-up. Die umfassendste und
ausgereifteste Form sind Experten-
systeme, die sich auch als Grundlage
für die Ressourcenplanung einer Klinik
verwenden lassen.
L
Prof. Dr. med. Manfred Mitterer Zentrales Interdisziplinäres Tageshospital Südtirol Südtiroler Sanitätsbezirk Gesundheitsbezirk Meran Rossinistrasse 5 I-39012 Meran E-Mail: manfred.mitterer@asbmeran-o.it
Quellen:
1. http://www.dgho.de/informationen/presse/ pressemitteilungen/wissenschaftliche-studie-belegt-steigenden-bedarf-an-onkologen/image/ image_view_fullscreen
2. http://www.gkv-spitzenverband.de/media/ dokumente/presse/publikationen/2013-12-20Foerderkriterien_des_GKV SV_fuer_klinische_ Krebsregister_gem__KFRG_Kriterienkatalog.pdf
3. Wischnewsky MB: Expertensysteme in der Onkologie – Werkzeug, Partner oder Medium? In: Der Onkologe 1999; 3/2: 105–113.
4. http://www.who.int/classifications/icd/en
5. http://loinc.org/downloads/files/LOINCManual.pdf
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