Transkript
Fieberkrämpfe – banal oder doch komplex?
Schwerpunkt
Fieberkrämpfe stellen die häufigste Art von Anfällen in der Kindheit dar. In diesem Beitrag werden geeignete Vorgehensweisen bei der Klassifikation und Diagnostik sowie beim Management von Fieberkrämpfen im Überblick dargestellt. Die ausführliche Information und Beratung der Eltern ist von besonderer Bedeutung, um Ängsten und Sorgen vorzubeugen und die Handlungskompetenz im Umgang mit Fieberkrämpfen zu fördern.
Von Sandro Meier
Fieberkrämpfe treten in unseren Breitengraden bei ca. 2–5 Prozent aller Kinder auf und stellen somit das häufigste Anfallsleiden bei Kindern im Alter zwischen 6 Monaten und 5 Jahren dar. Aufgrund der eindrücklichen Klinik machen sie einen wesentlichen Anteil notfallmässiger Vorstellungen in Spitälern und Praxen aus und führen bei den Familien oft zu starker Verunsicherung. Eine ausführliche und kompetente Beratung der Angehörigen schafft Sicherheit und kann helfen unnötige Abklärungen und Therapien zu vermeiden (1). In der Mehrheit der Fälle ereignet sich ein erster Fieberkrampf in den ersten 3 Lebensjahren. Die Anfälle stellen dabei nach heutigem Wissensstand eine Reaktion des noch vulnerablen, sich entwickelnden Gehirns auf Fieber dar, wobei eine zugrundeliegende genetische Prädisposition vermutet wird. So gilt als Risikofaktor beispielsweise auch eine positive Familienanamnese. Andere beschriebene Faktoren sind hohes Fieber, virale Infekte oder kürzlich zurückliegende Impfungen (2–4).
Klassifikation
Unkomplizierte Fieberkrämpfe präsentieren sich meist als 2–3 Minuten andauernde, generalisiert tonische, tonisch-klonische oder atone Anfälle mit Bewusstseinsverlust (Dauer stets < 15 min.), welche im Rahmen febriler Infekte (Körpertemperatur > 38 °C) auftreten. Die postiktale Phase ist dabei typischerweise eher kurz (im Durchschnitt 5–10 min.). Als komplizierte Fieberkrämpfe bezeichnet man Anfälle mit fokalem Beginn, einer Dauer über 15 Minuten oder mehrere Anfälle innerhalb von 24 Stunden. Auch postiktale Paresen, eine familiäre Epilepsiebelastung, vorbestehende neurologische Auffälligkeiten oder Entwicklungsauffälligkeiten zählen dazu. Der Anteil komplizierter Fieberkrämpfe an der Gesamtzahl beträgt ca. 10–35 Prozent. Eine Infektion des zentralen Nervensystems oder eine systemische metabolische Ursache der Anfälle müssen vor Diagnosestellung ausgeschlossen werden (1). Afebrile Anfallsereignisse in der Vorgeschichte des Patienten schliessen einen Fieberkrampf unabhängig der Klinik definitionsgemäss aus (5).
Diagnostik
Wichtig ist bei einem ersten Fieberkrampf vor allem die Anamnese, wobei der Fokus auf die genaueren Umstände
vor, während und nach dem Anfallsereignis gelegt werden soll. Wichtig zu erfragen sind zudem Informationen bezüglich möglicher Ursachen des Fiebers, zurückliegende anfallsverdächtige Ereignisse, die bisherige Entwicklung des Kindes und die Familienanamnese hinsichtlich Fieberkrämpfen oder Epilepsien. Bei einem unkomplizierten Fieberkrampf mit klarer Anamnese und Klinik ist eine Laboruntersuchung nicht routinemässig notwendig. Eine solche kann aber bei komplizierten Anfallsereignissen zum Ausschluss einer Hypoglykämie oder einer Elektrolytentgleisung wichtig sein. Bei Hinweisen auf eine Meningitis oder Enzephalitis ist eine Labordiagnostik inklusive Liquorpunktion zentral. Hinweisende Symptome sind insbesondere eine protrahierte Bewusstseinseintrübung, postiktale neurologische Auffälligkeiten oder ein Status epilepticus. Dabei muss auch notfallmässige Bildgebung mit CT/MRT (Modalität nach Verfügbarkeit) evaluiert werden. Die Durchführung eines EEGs ist nur selten indiziert, wobei insbesondere die Aussagekraft bezüglich des Risikos in Zukunft eine Epilepsie zu entwickeln, gering ist (7). Mögliche Indikationen sind > 3 Anfälle/Jahr, eine gleichzeitig vorliegende Entwicklungsverzögerung, eine fami-
Der Anteil komplizierter Fieberkrämpfe an der Gesamtzahl beträgt ca. 10–35%.
Tabelle 1:
Subkategorien nach ILAE-Kriterien
Subkategorie
Vorkommen
einfache Fieber- 70–90%
krämpfe (FK)
komplizierte FK
10–35%
febriler Status
30% aller konvulsiven SE
epilepticus (FSE) im Kindesalter
Charakteristika • generalisierte, symmetrische Anfälle, tonisch/
tonisch-klonisch/aton • Dauer < 15 Minuten • einmaliges Auftreten innerhalb von 24h • bis dahin neurologisch unauffällige Kinder • Rezidive einfacher FK innerhalb von 24 h • Dauer > 15 Minuten • fokale/sekundär generalisierte Anfälle • postiktale neurologische Defizite (z.B.
Todd-Parese) • vorbestehende neurologische Defizite und/
oder Entwicklungsrückstand • Dauer > 30 Minuten • FK-Serien, zwischen denen das Bewusstsein
nicht wiedererlangt wird (nach Feucht, Glatter, Pimpel 2021 [6])
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Tabelle 2:
Empfohlene Notfallmedikation bei Anfällen > 3–5 Minuten Dauer (nach Compendium)
Wirkstoff/Applikation
Altersbereich
Midazolam buccal
> 6 Monate bis < 1 Jahr 1 Jahr bis < 5 Jahre 5 Jahre bis < 10 Jahre 10 Jahre bis < 18 Jahre Oder: Diazepam rektal 1–6 Jahre > 6 Jahre
Dosis 2,5 mg (gelb) 5 mg (blau) 7,5 mg (violett) 10 mg (orange)
5 mg 10 mg
Literatur auf www.ch-paediatrie.ch abrufbar.
liäre Epilepsiebelastung oder eine grosse Verunsicherung der Eltern. In diesen Fällen soll, wenn möglich, ein EEG im Rahmen einer neuropädiatrischen Konsultation im fieberfreien Intervall geplant werden. Eine Ausnahme bilden fokale Fieberkrämpfe (oder postiktale Paresen als Hinweis für einen abgelaufenen fokalen Anfall), wobei hierbei ein notfallmässiges EEG zum Ausschluss einer Herpes-Enzephalitis indiziert ist. Bei erstmaligen Anfällen ohne Fieber ist immer eine zeitnahe Abklärung in der Neuropädiatrie anzustreben.
Management und Therapie
In der Mehrheit der Fälle zeigen sich Fieberkrämpfe von kurzer Dauer (bis 3 Minuten) und selbstlimitierend. Bei einer Anfallsdauer über 3–5 Minuten soll, sofern vorhanden, eine Notfallmedikation mittels Diazepam rectal oder Midazolam buccal verabreicht werden (siehe Tabelle 2). Je länger ein Fieberkrampf dauert, umso schwieriger wird es, diesen medikamentös zu unterbrechen. Bei einem ersten Anfallsereignis soll grosszügig eine stationäre Überwachung angeboten werden. Dies insbesondere auch, um eine ausführliche Beratung und Instruktion der Eltern zu ermöglichen. Bei postiktaler Somnolenz über 30 Minuten, persistierenden neurologischen Auffälligkeiten, unklarem Infektfokus oder Alter unter 18 Monaten ist eine stationäre Überwachung sinnvoll, insbesondere um frühzeitig Zeichen einer Meningitis zu erkennen und entsprechende Diagnostik und Therapie zeitnah durchführen zu können. In diesen Fällen ist meist auch das Hinzuziehen der Neuropädiatrie sinnvoll. Auch wenn in manchen Studien eine prophylaktische Wirkung von Anfallssuppressiva bei Fieber nachgewiesen wurde, ist eine prophylaktische Medikation aufgrund der Nebenwirkungen und der generell gutartigen Prognose von Fieberkrämpfen nur in seltenen Fällen sinnvoll und soll nur nach Rücksprache mit der Neuropädiatrie erfolgen. Eine prophylaktische Fiebersenkung wird ebenfalls nicht routinemässig empfohlen, insbesondere da die Anfälle oftmals im Rahmen eines ersten Auffieberns auftreten (8).
Welche Folgen können Fieberkrämpfe haben?
Etwa ein Drittel der Kinder erleiden nach einem ersten Fieberkrampf weitere Anfälle, wobei sich diese zu 90 Prozent in den 2 Jahren nach einer ersten Episode ereignen. Das Risiko, im späteren Leben eine Epilepsie zu entwickeln, ist nach einem unkomplizierten Fieberkrampf mit 1–2 Prozent (verglichen zur Durchschnittsbevölkerung mit einem Risiko von ca. 0,5 Prozent) leicht erhöht. Nach einem ersten komplizierten Fieberkrampf steigt das Risiko
auf 5–15 Prozent (9). Dies liegt unter anderem auch daran, dass sich einige genetische Epilepsieformen als erstes mit fieberassoziierten Anfällen präsentieren. Eine klinische Unterscheidung zu Beginn ist dabei oftmals schwierig. Erst der weitere Verlauf zeigt klare Unterschiede, wobei es bei einer zugrundeliegenden Epilepsie oftmals zu Entwicklungsauffälligkeiten und afebrilen Anfallsereignissen kommt (z. B. Dravet-Syndrom, GEFS+) (10). Im klinischen Alltag sehen wir uns oft mit der Frage konfrontiert, wie gefährlich Fieberkrämpfe sind. Wie oben beschrieben, wird im Rahmen der Aufklärung der Fokus auf die generell gute Prognose gelegt, wobei neuere Studien bei unerklärten Todesfällen im Kindesalter zuletzt signifikant erhöhte Patientenzahlen mit Fieberkrämpfen in der Vorgeschichte gezeigt haben (11). Dies erklärt sich aber wahrscheinlich vor allem durch noch nicht diagnostizierte genetische Epilepsien, wobei beispielsweise beim Dravet-Syndrom eine deutlich erhöhte Rate des sogenannten «sudden unexpected death in epilepsy» (SUDEP) im Kindesalter beschrieben ist. Ein kausaler Zusammenhang zwischen den Todesfällen und Fieberkrämpfen ist aber bisher nicht nachgewiesen worden und unklare Todesfälle im Kindesalter in unseren Breitengraden sind generell ein extrem seltenes Phänomen. Hinsichtlich der hohen Prävalenz von Fieberkrämpfen in der Normalbevölkerung ist das Risiko abschliessend als verschwindend klein einzuschätzen. Eine in manchen Studien besprochene pulsoxymetrische Überwachung zu Hause durch die Eltern (beispielsweise mit einem Fingerclip) wird deshalb nicht empfohlen.
Zusammenfassung
Fieberkrämpfe stellen die häufigste Art von Anfällen in der Kindheit dar. Die Diagnostik dient im Wesentlichen dem Ausschluss anderweitiger Ursachen, wobei bei klarer Anamnese und Klinik in vielen Fällen sogar vollständig auf Zusatzdiagnostik verzichtet werden kann. Insbesondere das EEG hat einen tiefen Stellenwert und ist nur in Ausnahmefällen indiziert. Prophylaktische medikamentöse Massnahmen (antipyretisch oder anfallssuppressiv) wurden untersucht, werden aber hinsichtlich des generell gutartigen Charakters von Fieberkrämpfen und aufgrund von Nebenwirkungen oder ungenügender Wirksamkeit nicht empfohlen. Empfohlen ist hingegen die Abgabe und Instruktion einer Reservemedikation mit Midazolam/ Diazepam. Nach Diagnosestellung soll der Fokus primär auf die ausführliche Information und Beratung der Eltern gelegt werden. Dies mit dem Ziel, allfälligen Ängsten und Sorgen vorzubeugen und die Handlungskompetenz des Umfelds im Umgang mit Fieberkrämpfen zu fördern.
Korrespondenzadresse: Sandro Meier Facharzt Kinder- und Jugendmedizin Fellow in Neuropädiatrie Zentrum für Kinderneurologie, Entwicklung und Rehabilitation Ostschweizer Kinderspital St. Gallen Claudiusstrasse 6 9006 St. Gallen
Interessenlage: Der Auror erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
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Literatur: 1. Capovilla G et al.: Recommendations for the management of «febrile seizures»: Ad Hoc Task Force of LICE Guidelines Commission. Epilepsia. 2009 Jan;50 Suppl 1:2-6. 2. Millichap JG: Studies in febrile seizures. I. Height of body temperature as a measure of the febrile-seizure threshold. Pediatrics. 1959 Jan;23(1 Pt 1):76-85. 3. Berg AT et al.: Risk factors for a first febrile seizure: a matched case-control study. Epilepsia. 1995;36(4):334-441. 4. Di Pietrantonj C et al.: Vaccines for measles, mumps, rubella, and varicella in children. Cochrane Database Syst Rev. 2020 Apr 20;4(4):CD004407. Update in: Cochrane Database Syst Rev. 2021 Nov 22;11:CD004407. 5. Berg AT et al.: Revised terminology and concepts for organization of seizures and epilepsies: report of the ILAE Commission on Classification and Terminology, 2005-2009. Epilepsia. 2010;51(4):676-685. 6. Feucht M, Glatter S, Pimpel B: Fieberkrämpfe – Diagnostik und Behandlung. Z. Epileptol. 2021;34:383–389. 7. Choudhari PR, Lowden A, Dolce A: Exploring the Age-Old Question: What Is the Predictive Value of EEG for Future Epilepsy in Children With Complex Febrile Seizures? J Child Neurol. 2023;38(5):290-297. 8. Offringa M et al.: Prophylactic drug management for febrile seizures in children. Cochrane Database Syst Rev. 2021;6(6):CD003031. 9. Leung AK, Hon KL, Leung TN: Febrile seizures: an overview. Drugs Context. 2018;7:212536. 10. Scheffer IE et al.: Temporal lobe epilepsy and GEFS+ phenotypes associated with SCN1B mutations. Brain. 2007;130(Pt 1):100-109. 11. Gould L et al.: Are brief febrile seizures benign? A systematic review and narrative synthesis. Epilepsia. 2023;64(10):2539-2549.
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