Transkript
BERICHT
Red Flags des rheumatischen Kopfschmerzes
Wann müssen Sie unmittelbar handeln?
Schmerz betrifft fast alle Disziplinen der Medizin. Die Charakteristika des rheumatischen Kopfschmerzes standen im Vordergrund des Referates von PD Dr. Dr. Ulrich Gerth, Reha Rheinfelden, anlässlich der Fortbildung «Hausärzte und Fachärzte im Dialog». Der Experte beschrieb, wann man hellhörig werden und keine Zeit verlieren sollte.
Hinter einem rheumatisch entzündlichen Schmerz könnten gefährliche Erkrankungen mit einer besonderen Tücke stecken, erinnerte Gerth einleitend. Daher sei es wichtig, klinische Anzeichen zu erkennen und richtig einzuordnen. Der Rheumatologe verdeutlichte das anhand der Kasuistik eines Patienten, der unter neu aufgetretenen frontal lokalisierten und persistenten Kopfschmerzen litt, Schmerzen beim Kauen – eine Claudicatio masticatoria – beschrieb und angab, seine Kopfhaut sei berührungsempfindlich. Zudem zeigte der Patient Zeichen eines reduzierten Allgemeinzustands, Fieber, Nachtschweiss, und er hatte ein wenig an Gewicht abgenommen. Bei der Inspektion waren deutlich geschwollene Arterien am Kopf zu erkennen. Sonografisch wurden eine Wandverdickung sowie eine Flussbeschleunigung sichtbar. Die Biopsie bestätigte die deutliche Verdickung der Gefässwand, und der pathologische Befund zeigte im Biopsat Riesenzellen. «Damit lag hier eine Riesenzellarteriitis vor. Für eine solche gibt es keine validierten Diagnosekriterien, oft ist es eine Art Puzzle», merkte der Experte an. Eine Diagnose ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Klinik (in diesem Fall die neu aufgetretenen Kopfschmerzen und die AZ-Reduktion),
Tabelle:
Klassifikationskriterien für eine Riesenzellarteriitis (RZA)
Kriterien Obligates Kriterium (muss erfüllt sein):
Score
Alter ≥ 50 Jahre bei ED Zusätzliche klinische Kriterien
Morgensteifigkeit in Schulter/Nacken
+2
Plötzlicher Visusverlust
+3
Kiefer- oder Zungenclaudicatio
+2
Neuer Schläfenkopfschmerz
+2
Schmerzempfindlichkeit der Kopfhaut
+2
Abnormale Untersuchung der Temporalarterien Labor-, Bildgebungs- und Biopsiekriterien
+2
Höchste BSG ≥ 50 mm oder höchstens CRP ≥ 10 mg/l
+3
Positive Biopsie oder Halo-Zeichen in der Sonografie
+5
Beteiligung der A. axillaris bilateral
+2
FDG-PET-Aktivität in der Aorta
+2
Total
Sensitivität: 87,0% (82,0–91,0); Spezifität: 94,8% (91,0–97,4);
≥ 6 Punkte = RZA. Quelle: nach (3)
Labor (erhöhte Entzündungswerte sind sehr wichtige Parameter), Bildgebung und/oder Histologie (1, 2). Weitere Charakteristika der Erkrankung kann man den Klassifikationskriterien entnehmen (siehe auch Tabelle). Als typisch zu erwähnen sind beispielsweise die Morgensteifigkeit im Schulter-Nacken-Bereich, ein Sehverlust, die bereits genannte Claudicatio der Kiefermuskulatur, der Schläfenkopfschmerz, eine Schmerzempfindlichkeit der Kopfhaut sowie verdickte und schmerzhafte Temporalarterien. Daneben erscheint im Labor eine Erhöhung der Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) und im PET ein «Leuchten» der Gefässe. Am gefährlichsten ist es, wenn die Gefässentzündung die Augen betrifft: Ist der Blutzufluss zum Auge unterbrochen, führt das zum Visusverlust bis hin zur Erblindung. Ist im fundoskopischen Befund eine Schwellung der Papille zu erkennen und liegt eine anteriore ischämische Optikusneuropathie (AION) vor, ist das ein irreversibler Befund (4).
Auf Red Flags reflexartig reagieren
Als Red Flags für eine Riesenzellarteriitis (RZA) gelten neu auftretende Kopfschmerzen bei Patienten > 50 Jahre, pathologische Temporalarterien (pulslos und druckdolent) und eine stark erhöhte BSG (> 50 mm). «Auf eine solche Konstellation sollten Sie reflexartig reagieren», so der Experte. «Und das heisst in diesem Fall nicht kleckern, sondern klotzen. Also erst einmal 50 mg Prednisolon täglich ansetzen und den Patienten notfallmässig dem Rheumatologen zuweisen. Damit verbauen Sie sich und dem Patienten nichts, und für die genaue Diagnose bleibt immer noch Zeit.» Auch die Leitlinien empfehlen bei Verdacht auf eine RZA die Applikation von 40 bis 60 mg Prednisolon/Tag. Liegen visuelle Symptome vor und besteht ein Verdacht auf eine Augenbeteiligung, dann reicht diese Menge allerdings nicht aus. Stattdessen sollen für 3 Tage 250 mg bis 1 g Prednisolon pro Tag intravenös gegeben werden. Die Anbehandlung beeinträchtigt die Diagnosestellung nicht: Im PET «leuchten» die betroffenen Gefässe auch nach Therapiebeginn noch.
Gute Kooperation zwischen Hausarzt und Rheumatologe essenziell
Kortison sollte beibehalten und die Dosis langsam gesenkt werden; als Ziel ist nach 2 bis 3 Monaten eine Dosis von 15 bis 20 mg/Tag anzustreben. Nach 1 Jahr sollte die Dosis dann auf 5 mg reduziert sein. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten. Durch die hohe Dosierung im ersten Vierteljahr beziehungsweise die lange Zeit, über die leitliniengerecht zu behandeln
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Klinische Krankheitscharakteristika und möglicher initialer Diagnosealgorithmus bei Patienten mit V. a. PMR bzw. RZA
● älterer Patient > 50 Jahre ● klinisch Verdacht auf PMR bzw. RZA ● ggf. unspezifische Symptome:
Fieber, Nachtschweiss, Gewichtsverlust, AZ-Reduktion …
Red Flags PMR proximale Symptomatik (Schulter-/Beckengürtel): ● neue bilaterale
Muskelschmerzen ● Muskelschwäche ● Morgensteifigkeit
(typisch nachts und frühmorgens)
Red Flags RZA kraniale Symptomatik: ● Kopfschmerzen ● schmerzhafte/
verdickte A. temporalis ● Claudicatio
masticatoria ● Berührungs-
empfindlichkeit der Kopfhaut
BSG/CRP erhöht? ja nein
einem Relaps, bei fehlendem Ansprechen, bei Unverträglichkeiten oder bei Nebenwirkungen der hohen Kortisondosis. Tocilizumab ist ein Antikörper, der Interleukin-6 blockiert und gegen die Entzündung wirkt. Die Zulassung zur Therapie der RZA basiert auf den Daten der GIACTA-Studie (6), in der Patienten mit RZA von der wöchentlichen respektive 2-wöchentlichen Gabe von Tocilizumab zusammen mit Kortison im Vergleich zur alleinigen Kortisongabe profitiert haben. Gerth: «Das war ein Durchbruch in der Behandlung, die Remissionsraten waren besser, und der Verbrauch an Kortison liess sich ebenso wie die Nebenwirkungen deutlich reduzieren.» Dabei ist die Wirkung von Tocilizumab stärker als die des MTX, wie eine Subgruppenanalyse ergeben hatte (7). Der wichtigen Frage, wie lange man die Therapie fortführen muss, hat sich eine Studie aus der Schweiz angenommen, in der ermittelt wurde, wie viele Patienten 1 Jahr nach Beendigung einer Therapie mit Tocilizumab noch in Remission sind. Die Chance auf eine anhaltende Remission war 50:50. «Das ist ein schwieriges Ergebnis. Insbesondere wenn schon eine Augenbeteiligung vorliegt, fällt der Entscheid, die Therapie zu stoppen, auf dieser Basis schwer», so Gerth. Die Alternative bestehe in der lebenslangen Fortführung der Behandlung, das sei jedoch mit den Patienten individuell zu diskutieren.
PMR bzw. RZA wahrscheinlich*
PMR bzw. RZA unwahrscheinlich*
*in Abhängigkeit von der klinischen Wahrscheinlichkeit ggf. fachärztliche rheumatologische Vorstellung und weitere Diagnostik (u. a. Di erenzialblutbild, Elektrolyte, Kreatininkinase, Urinstatus, Serumeiweisselektrophorese, Rheumafaktor, antinukleäre Antikörper [ANA], CCP[zyklische citrullinierte Peptide]-Antikörper, thyreoideastimulierendes Hormon [TSH], Röntgenthorax, Magnetresonanztomografie, Echokardiografie, Quantiferontest)
Abbildung: Vorgehen bei Verdacht auf Riesenzellarteriitis (RZA) respektive Polymyalgia rheumatica (PMR; AZ: Allgemeinzustand, BSG: Blutsenkungsgeschwindigkeit, CRP: C-reaktives Protein; adaptiert n. Buttgereit et al., JAMA 2016; 315[22]: 2442–2458)
ist, muss zwangsläufig auch mit vielen dadurch bedingten Nebenwirkungen gerechnet werden. So bedeutet eine mittlere Glukokortikoidtagesdosis von 30 mg/Tag im Vergleich zu einer von 5 mg/Tag deutlich erhöhte Inzidenzratenverhältnisse (IRR; für Diabetes mellitus: 4,7; für Osteoporose: 1,9; für Frakturen: 2,6; für Glaukom: 3,5; für schwere Infektionen: 3,3; für Tod: 2,1) (5). «Das ist der Preis, den man zahlt, um die Vaskulitis in den Griff zu bekommen», so Gerth. Deshalb sei es so wichtig, dass Rheumatologen und Hausärzte hier gut zusammenarbeiten, um eben diese Komplikationen zu vermeiden respektive sie früh zu entdecken und zu behandeln. Auch eine Knochendichtemessung gehört bei dauerhaftem Steroidgebrauch dazu. Liegt eine Osteoporose vor, muss sie behandelt werden. Prophylaktisch ist auf eine ausreichende Zufuhr von Kalzium und Vitamin D3 zu achten.
Häufig mit PMR vergesellschaftet
Nicht alles in der Rheumatologie ist jedoch so eindeutig: Die Hälfte der Patienten mit RZA leidet auch an einer Polymyalgia rheumatica (PMR); Letztere ist sogar deutlich häufiger (RZA: 20/100 000; PMR: 1000/100 000; jeweils > 50. Lebensjahr) (8). Darüber hinaus gibt es Überschneidungen: Die PMR betrifft ebenfalls vorwiegend Ältere, im Verhältnis 3:1 Frauen, fast ausschliesslich über 50 Jahre alt. Auch die Anfangssymptome sind wie bei der RZA unspezifisch – Fieber, Nachtschweiss, allgemeines Unwohlsein, depressive Verstimmungen. Typisch für eine PMR sind proximale Muskelschmerzen im Nackenbereich, im Schulter- und Beckengürtel. Die Patienten sind oft nicht in der Lage, die Arme zu heben oder Treppen zu steigen. Ganz typisch ist auch eine zirkadiane Rhythmik, die Beschwerden sind nachts und frühmorgens besonders ausgeprägt. Anders als bei Arthrosepatienten ist es jedoch mehr als ein Anlaufschmerz, die Beschwerden halten oft Stunden an und bessern sich erst im Tagesverlauf. Beide Erkrankungen gehen mit Allgemeinsymptomen wie Fieber, Nachtschweiss und erhöhten Entzündungswerten einher. Oft liegt nicht das eine oder das andere vor, sondern ein Kontinuum beider Erkrankungen. Die Diagnose leitet sich aus typischen Symptomen, klinischen Befunden sowie entsprechenden Laborergebnissen (BSG, CRP) ab (siehe auch Abbildung). Normale Entzündungswerte schliessen keine der beiden Erkrankungen aus. Eine solche Konstellation sei jedoch so selten, dass die Diagnose stark hinterfragt werden sollte, mahnte Gerth.
Therapie der RZA
Dass eine Grossgefässvaskulitis mit Kortison behandelt wird, ist seit Jahrzehnten bekannt. Neuer ist hingegen, dass mit Tocilizumab eine Alternative zum Methotrexat (MTX) als steroidsparende Therapie zur Verfügung steht, wenn die Therapie mit Kortison nicht ausreicht, wie zum Beispiel bei
PMR unter Therapie schlagartig besser
Die Leitlinie zur Behandlung einer PMR weist darauf hin, dass selbst bei klinisch hinreichender Befundkonstellation Erkrankungen mit PMR-ähnlichen Symptomen (z. B. nicht entzündliche, entzündliche, medikamenteninduzierte, endokrine, infektiöse oder neoplastische Erkrankungen) ausge-
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Therapie der Polymyalgia rheumatica (PMR) und der Riesenzellarteriitis (RZA)
PMR ▲ Prednisolon initial 15–25 mg/Tag
• 10 mg/Tag nach 4–8 Wo. • danach Reduktion um 1 mg/4 Wo. bis zum Absetzen ▲ CAVE: Steroidnebenwirkungen ▲ MTX erwägen bei dauerhaftem Steroidgebrauch oder Rezidiven ▲ ggf. Vorstellung Rheumatologe
RZA ▲ Prednisolon 50 mg sofort ▲ MTX, Tocilizumab durch den Rheumatologen ▲ Notfall – sofort rheumatologisch oder in einem
Zentrum vorstellen!
schlossen werden sollten (9). Auch die Therapie der PMR fusst auf Glukokortikoiden (GK) unmittelbar nach Diagnose; die Dosierung sollte dabei so hoch wie nötig und so niedrig wie möglich erfolgen. Als Initialdosis werden 15 bis 25 mg Prednisonäquivalent pro Tag oral als morgendliche Einzeldosis empfohlen – nicht < 7,5 und nicht > 30 mg! Stelle sich wenige Tage nach Beginn der Therapie ein Gefühl «wie neugeboren» ein und fielen die Entzündungswerte rasch, bestätige das die Diagnose; sollte das nicht der Fall sein, sei die Diagnose infrage zu stellen, unterstrich der Rheumatologe. In diesem Fall sollte die Dosis nach 4 bis 8 Wochen auf 10 mg/ Tag reduziert sein, gefolgt von weiteren Reduktionen alle 4 Wochen um 1 mg pro Woche bis zum Absetzen. Nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) eignen sich nicht zur Therapie einer PMR, sie können allenfalls zusätzlich bei Schmerzen anderer Ursache eingesetzt werden. Bei Rezidiven oder anhaltender Aktivität ist frühzeitig die Gabe von MTX zu erwägen, ebenso ohne ausreichendes Ansprechen auf GK, lange Therapiedauer, Risikofaktoren, Komorbiditäten und/ oder GK-bedingte Nebenwirkungen. Die zusätzliche Gabe von MTX reduziert die kumulative GK-Dosis um 20 bis 44 Prozent und die Rezidivhäufigkeit um 36 bis 54 Prozent. s
Christine Mücke
Quelle: «Die ‹Red Flags› des rheumatischen Schmerzes», Vortrag am Symposium «Hausärzte und Fachärzte im Dialog», Reha Rheinfelden, 16.11.2023.
Referenzen: 1. Blockmans D et al.: L. Positron emission tomography in giant cell arteritis
and polymyalgia rheumatica: evidence for inflammation of the aortic arch. Am J Med. 2000;108(3):246-249. doi:10.1016/s0002-9343(99)00424-6. 2. Blockmans D et al.: Repetitive 18F-fluorodeoxyglucose positron emission tomography in giant cell arteritis: a prospective study of 35 patients. Arthritis Rheum. 2006;55(1):131-137. doi:10.1002/art.21699. 3. Ponte C et al.: 2022 American College of Rheumatology/EULAR classification criteria for giant cell arteritis. Ann Rheum Dis. 2022;81(12):16471653. doi:10.1136/ard-2022-223480. 4. Ness T et al.: The diagnosis and treatment of giant cell arteritis. Dtsch Arztebl Int. 2013;110(21):376-386. doi:10.3238/arztebl.2013.0376. 5. Wilson JC et al.: Serious adverse effects associated with glucocorticoid therapy in patients with giant cell arteritis (GCA): A nested case-control analysis. Semin Arthritis Rheum. 2017;46(6):819-827. doi:10.1016/j.semarthrit.2016.11.006. 6. Stone JH et al.: Trial of Tocilizumab in Giant-Cell Arteritis. N Engl J Med. 2017;377(4):317-328. doi: 10.1056/NEJMoa1613849 7. Stone J et al.: EULAR Poster Number FRI0220, Abstract No. FRI0220, EULAR 2020. 8. Buttgereit Fet al.: Polymyalgia Rheumatica and Giant Cell Arteritis: A SystematicReview.JAMA.2016;315(22):2442-2458.doi:10.1001/jama.2016.5444 9. Buttgereit F et al.: S3-Leitlinie zur Behandlung der Polymyalgia rheumatica: Evidenzbasierte Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh), der Österreichischen Gesellschaft für Rheumatologie und Rehabilitation (ÖGR) und der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie (SGR) und der beteiligten medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften und weiterer. Z Rheumatol. 2018;77(5):429-441. doi:10.1007/ s00393-018-0476-8
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